Diagnose

Was der „Spiegel“ tun muss – ein 10-Punkte-Plan

1. Die Redaktion: In den vergangenen Jahren ist die „Spiegel“-Redaktion zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft geworden: auf der einen Seite wenige Starschreiber und Hofschranzen, auf der anderen Seite ein Heer von Redakteuren, bei deren Rekrutierung oft nicht die Qualität ausschlaggebend war, sondern die Bereitschaft, sich Aust oder Steingart unterzuordnen. Diese Masse liefert fleißig Infohappen zu den Artikeln, die Auserwählte wie Dirk Kurbjuweit dann zusammenschreiben. Daher stehen zuweilen bis zu zehn Namen unter einem Artikel. Das sorgt zum einen für Frust unter den Info-Soldaten, weil sich niemand mehr weiterentwickeln kann, wie das früher der Fall war. Da hat man als Redakteur klein angefangen, durfte bald mal eine Seiten-Geschichte schreiben, dann mal einen Ressortaufmacher. Heute bleibt man der, als der man gekauft wird. Das hat zum anderen auch dazu geführt, dass sich der „Spiegel“ in den letzten Jahren so viele Absagen eingefangen hat wie nie zuvor, weil sich gute Leute natürlich überlegen, ob sie nicht woanders glücklicher werden.

2. Die Tiefe: Der „Spiegel“ kann es sich nicht leisten, erfahrene Journalisten, die sich z. B. in zukunftsweisenden Politikfeldern wie Umwelt & Technologie auskennen und auf Grund ihres Wissens eine klare Haltung haben, zu vergraulen. Der Eklat um den Weggang von Harald Schumann und Gerd Rosenkranz – der eine Globalisierungsexperte, der andere Umweltprofi – war der Tiefpunkt einer Entwicklung, bei der nicht das Wissen zählt, sondern die knackig-absurde These, und sei es die, dass Windkraft Mist ist. Dieses Potenzial muss schnell zurückgeholt werden.

3. Im Zweifel links: Die Gesellschaft ist nach links gerutscht, nur der „Spiegel“ nicht. Während soziales Engagement und kritischer Konsum immer höher im Kurs stehen, erzählte der „Spiegel“ weiter Schnurren von der neuen Bürgerlichkeit und vom visionären Charakter des Berliner Stadtschlosses und wirkt dabei so hoffnungslos gestrig. Die Rate der Mitarbeiter, die ihre Zeit am liebsten beim Reiten, Segeln und auf dem Golfplatz verbringen, ist zu hoch, weil diese Saturiertheit aufs Programm durchschlägt. Mittelfristig könnte sogar mal was über Minderheiten im „Spiegel“ stehen, über Homosexuelle oder Muslime, die sich nicht in die Luft sprengen. Und vielleicht sogar mal ein Stück über die Gewerkschaften ohne Schaum vor dem Mund.

4. Demut: Braucht der „Spiegel“ dringend statt Überheblichkeit. Das Leitungspersonal muss realisieren, dass die Attitüde des allwissenden, rechthaberischen Journalisten von gestern ist. Im Internet hat sich eine vielstimmige Gegenöffentlichkeit gebildet und bei dessen Nutzern das Bewusstsein, dass die Journalisten nicht im Alleinbesitz des Wissens und seiner Distributionsformen sind.

5. Trennschärfe: Noch immer macht der „Spiegel“ in einer immer ausdifferenzierteren Gesellschaft, in der etliche Lebensstile nebeneinander existieren, leidige Trendgeschichten, die an der Realität haarscharf vorbeigehen. Ob neue Gemütlichkeit in Berliner Kneipen oder die Rennaissance des Bergfilms – solche Thesen, die so tun, als gäbe es noch die gro- ßen gesellschaftlichen Cluster, müssen einem genaueren Blick weichen. Auch ein Millionenblatt muss einsehen: Manchmal gibt es eben keinen kleinsten, gemeinsamen Nenner zwischen dem Oberstudienrat in Neckarsulm und dem Studenten in St. Pauli.

6. Offene Recherche: Der „Spiegel“ kann auch mal etwas kaputtrecherchieren: Wenn es denn nun einfach nicht mehr stimmt, dass der Maler Norbert Bisky wegen der Verherrlichung eines blonden Knabenideals gemieden wird, dass er im Gegenteil längst anerkannter Mainstream ist, in sehr vielen Politiker-Wohnzimmern hängt und auf jeder Kunstmesse ausverkauft ist –, dann muss man die Geschichte einfach mal streichen.

7. Die Unabhängigkeit: Der „Spiegel“ darf keine Mitarbeiter haben, die einfach mal im Firmenjet eines Wirtschaftsbosses mitfliegen, weil es gerade gut passt. Die gratis Autos für Konzerne testen. Die sich mit anderen mächtigen Journalisten vom Springer-Verlag oder der „FAZ“ zusammentun, um Politik zu machen oder Geschäfte. Die schauen, was die „Bild“-Zeitung schreibt und daraus das Wochenprogramm für die eigene Politikberichterstattung ableiten. Der „Spiegel“ ist der „Spiegel“. Punkt.

8. Die Optik: Der „Spiegel“ benötigt unbedingt eine neue Titeloptik. Zu oft waren auf dem Cover schlechte Zeichnungen von schlechten amerikanischen Zeichnern, die in der Hausmitteilung noch als absolute Könner gefeiert wurden. Dabei ist das, was der „Spiegel“ da teilweise aufs Cover bringt, generationsübergreifend abtörnend. Tiefpunkt war neulich ein Titelbild zur neuen Pisa-Studie mit dermaßen hässlichen Kindern, als hätte sie Manfred Deix gezeichnet.

9. Kommentare: Der „Spiegel“ braucht dringend Meinungsstücke, die auch als solche erkennbar sind. Eine Meinung, die länger als eine Woche hält, wäre auch nicht schlecht.

10. Der Chefredakteur: Muss akzeptieren, dass die Zeit der Alphamännchen vorbei ist. Gerhard Schröder und Joschka Fischer sind ja auch in der Kulissse. Er muss den Ressortleitern wieder die Freiheit geben, die ein mutiges Heft braucht. Der „Spiegel“ darf keine Few-Men-Show sein, sondern ein Laden, in dem auch die Konferenzen wieder kontroverser werden. Als Augstein noch mitmischte, fungierte der Chefredakteur zwischen den starken Ressortleitern und dem starken Herausgeber als Moderator. Dazu war keineswegs TV-Erfahrung als Vorbildung zwingend notwendig.

Erschienen in Ausgabe 1/2008 in der Rubrik „Journaille“ auf Seite 18 bis 18. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.