Gerne ironisch und subjektiv

Wie werden Jugendliche zu Lesern?

Philipp Ikrath: Die Lesesozialisation beginnt zu Hause. Wenn die Eltern lesen, dann greifen auch die Jugendlichen eher zu Zeitungen und Zeitschriften. Interessant wird es in zehn Jahren werden, wenn das junge Publikum von heute, das zu Printmedien und zum gedruckten Wort allgemein bereits ein äußerst distanziertes Verhältnis hat, selbst Kinder hat. Ob man Jugendliche in Zukunft für Printmedien begeistern kann, sehe ich eher skeptisch. Unseren Untersuchungen zufolge gelingt das nicht einmal mehr bei der heutigen Jugend, vor allem was Zeitungen betrifft.

Tobias Langner: Zahlreiche Studien der vergangenen Jahre belegen einen rückläufigen Zeitungs- und Zeitschriftenkonsum der Zielgruppe. Entscheidend für das Lesen sind vor allem drei Einflussgrößen: Das soziale Umfeld – hier hat die Familie eine Schlüsselrolle –, die persönliche Prägung sowie die Gestaltung des Mediums. Letztere ist ganz in der Hand der Verlage. Hier ist es wichtig, adäquate Inhalte in einer ansprechenden Form zu vermitteln. Jugendliche lesen gerne selektiv: Ansprechende Überschriften, Hervorhebungen im Text, Infoboxen, Bilder und Grafiken tragen beispielsweise dazu bei, die Lesebereitschaft bei den Jugendlichen zu erhöhen.

Anja Pasquay: Jugendliche werden nicht zu Lesern, sie müssen es bereits sein. Sprich: Wir müssen die Kinder zum Lesen verführen, erziehen, begeistern. Ganz wichtig ist das Vorbild in der Familie: Wer Eltern und Geschwister nicht lesen sieht, wird es auch selbst eher nicht tun. Und für kleine Kinder das Größte: vorgelesen bekommen und zuhören und selber erzählen.

Jens Lönneker: Inhaltlich gilt es die Perspektiven der Jugendlichen auf die Welt zu verstehen und aufzugreifen. Formal sollten die Titel zudem auch in der Formensprache (Layout, Werbung) für Jugendliche interessant sein. Vertrieblich müssen Jugendliche im heutigen medialen Überangebot möglichst an ihren „Touch Points“ kontaktiert werden – also dort, wo sich Jugendliche sowieso aufhalten. Ein Online-Angebot ist selbstverständlich.

Welche Themen wollen Jugendliche lesen?

Philipp Ikrath: Keine Politik, keine Wirtschaft, kein Tagesgeschehen. Jugendliche wollen Themen behandelt sehen, mit denen sie auch in ihrem eigenen unmittelbaren Lebensumfeld konfrontiert sind. Also Liebe und Freundschaft, Lifestyle, Sport, Musik, Mode etc.

Tobias Langner: Von Interesse ist eine ansprechende Mischung aus Themen, die berühren. Das können die klassischen Inhalte rund um Musik, Kino und Sport, Liebe, Sexualität und Beziehung sein. Aber auch schwierige gesellschaftliche Beiträge, wie Gewalt und Probleme unter Jugendlichen haben eine Relevanz. Im Zuge der Umsetzung sollte allerdings nicht vergessen werden: Den Jugendlichen gibt es genauso wenig wie den Erwachsenen. Der Jugendmarkt ist ein Konglomerat unterschiedlicher Zielgruppen, die zwar alle ein ähnliches Alter aufweisen, sich aber in ihren Bedürfnissen und Präferenzen teilweise erheblich unterscheiden.

Anja Pasquay: Mit Recht weisen Jugendforscher darauf hin, dass es nicht DIE Jugend gibt, sondern viele verschiedene Gruppen. Hinzu kommt, dass „Jugend“ heute schon immer früher beginnt (ab 12) und immer länger dauert (bis 25) – eine Zwölfjährige aber definitiv ganz andere Interessen hat als eine 25-Jährige oder auch nur eine 18-Jährige. Alter ist also immer eine entscheidende Determinante der inhaltlichen und werblichen Ansprache. Ansonsten gilt: alles, was für Jugendliche relevant ist.

Jens Lönneker: In unserer multioptionalen Welt fehlt es Jugendlichen häufig an Orientierungswerten. Es ist für sie deutlich schwerer geworden herauszuarbeiten, was für sie richtig und falsch ist. Orientierung rund um Themen wie Bewerbung, Umgang mit Geld, Sexualität, Beziehungen sind von großer Bedeutung. Diese Themen können besonders attraktiv über Role Models aufbereitet werden – also Prominente, die für Jugendliche Vorbilderfunktion entwickeln. Daneben ist es auch wichtig, aus der Lebenswelt der Jugendlichen zu berichten. Dabei brauchen die lokalen Engagements von Jugendlichen, ihre sportliche Aktivitäten eine mediale Bühne. Fremde Welten wie etwa die Situation im Irak können über jugendliche Perspektiven näher gebracht werden – etwa wenn über Beziehungen zwischen Teenagern im Irak berichtet wird.

Welche journalistische Darstellungsform macht Lust?

Philipp Ikrath: Je mehr Fakten, je weniger Bilder, je seriöser in der Sprache, desto schlechter. Als positives Beispiel für eine Zeitschrift (wenn auch für ältere Jugendliche und junge Erwachsene) sehe ich die „Neon“. Die stark subjektive und ironische Darstellungsform der Inhalte vermittelt ein Gefühl der scheinbaren Authentizität – hier spricht einer von uns offen und abseits von den Konventionen eines herkömmlichen Magazinjournalismus die eigene Meinung aus. Botschaft und Absender sind eins: Der Journalist ist nicht mehr anonymer Berichterstatter weitgehend abstrakter Ereignisse, sondern berichtet von den eigenen individuellen Erfahrungen.

Tobias Langner: Spaß macht all das, was anspricht. Hierunter fallen die eben erwähnten Gestaltungsmittel einer ansprechenden Bebilderung, der Verwendung von Grafiken, Infoboxen etc. Nicht zu vergessen ist die Verwendung einer auf die jugendlichen Zielgruppen abgestimmten Sprache. Endlose Textwüsten stoßen dagegen ab.

Anja Pasquay: Editorials halte ich für überflüssig, Glossen können bei sehr jungen Lesern schief gehen. Ganzseitige Interviews stoßen vermutlich auch auf eher wenig Gegenliebe. Ansonsten ist es ein Zeichen für guten Journalismus, dass für den jeweiligen Inhalt die passende Form gewählt wird – und das gilt bei Texten und Fotos für Jugendliche wie für Erwachsene. Im Übrigen muss natürlich immer die Verlängerung ins Internet gleich mitbedacht werden, etwa mit zusätzlichen Bildern, einem Pod- oder Vodcast zur Person, Abstimmungen zu einem aktuellen Thema etc.

Jens Lönneker: Auch Jugendliche betrachten seriöse Zeitungen mit einem gewissen Anspruch, deren Lektüre nicht immer nur ganz einfach ist. Sie haben davor Respekt und suchen auch die Auseinandersetzung, wenn sie sich eine Zeitung nehmen. Eine zu flache, anbiedernde Darstellungsform wird daher abgelehnt.

Wie wichtig ist der Titel für den Erfolg eines Jugendmediums?

Philipp Ikrath: Anglizismen sind typische Beispiele für Erwachsene, die sich einer scheinbar jugendlichen Sprache bedienen wollen, daran aber scheitern. „X@act“ ist ein gutes Beispiel für einen Terminus, der zwar bedeutungslos ist, mittels des X und des @ aber den Anschein von Coolness erwecken möchte. Meiner Meinung nach etwas zu viel des Guten. „Szene“ und „Graffiti“ sind auch nicht unbedingt originell, sie sagen auch über die Inhalte der Seite nichts aus. „Spiesser“ finde ich nicht schlecht, der Titel transportiert die ironische Grundhaltung des Magazins und macht neugierig.

Tobias Langner: Generell gilt: Ein guter Markenname muss eigenständig sein, sich also von anderen vergleichbaren Medienangeboten abheben. Er muss der Zielgruppe gefallen, ihre Neugier wecken und ihr nach Möglichkeit vermitteln, was sie von dem Angebot erwarten kann. Zu guter Letzt sollte er leicht aussprechbar sein.

Anja Pasquay: Vielleicht nur so viel: Bei Amerikanismen (X) oder technischer Sprache (@) droht das momentan Moderne irgendwann Allgemeingut oder veraltet zu sein und verliert das Alleinstellungsmerkmal. Allerdings wandelt sich auch die Jugend so schnell, dass man schon unter diesem Gesichtspunkt jedem Titel gratulieren muss, dem es gelingt, einen Namen über längere Zeit als Marke für Jugendliche zu etablieren. Preisfrage: Würde die „Bravo“ noch „Bravo“ heißen, wenn sie erst heute auf den Markt käme?

Jens Lönneker: Am Ende des Tages sind Form und Inhalt wichtiger als der Name des Titels. Wie beim Märchen vom Rumpelstilzchen ist es eher wichtig, dass es überhaupt einen Namen gibt und dass
man ihn kennt. Daher gibt es eigentlich nur eine Vorgabe zu beachten: Der Name sollte sinnhaft sein, da er dann deutlich einfacher zu kommunizieren und zu erinnern ist.

Sollten Jugendmedien gratis sein?

Philipp Ikrath: Vor allem Jungs haben kaum mehr den Willen, Geld für Printmedien auszugeben, Mädchen sind hier noch eher bereit, in die Tasche zu greifen. Also „ja“: Wenn man eine breite jugendliche Zielgruppe ansprechen möchte, ist das wohl der sicherste Weg.

Tobias Langner: Nein. Natürlich muss eine Jugendzeitschrift für den Jugendlichen bezahlbar sein, aber die Kosten sind in der Regel nicht die Hürden, die vom Zeitungs- und Zeitschriftenlesen abhalten. Bedeutender sind da schon die zuvor erwähnten sozialen und persönlichen Faktoren.

Anja Pasquay: Nein. Redaktionelle Leistung sollte grundsätzlich nicht verschenkt werden. Das macht – und gilt übrigens auch für den „Spiesser“ – unabhängig(er) von der Werbung. Im Übrigen: Wie kann es sein, dass Jugendliche, ohne mit der Wimper zu zucken, für das Herunterladen von Jingles auf ihr Handy zahlen und nicht für eine interessante, unterhaltsame, relevante Zeitung?

Jens Lönneker: Ja und nein. Nimmt man die Erfolge von Gratiszeitungen bei jungen Altersgruppen, ist das Gratisangebot, zumindest für Universalmedien mit großer Reichweite, sinnvoll. Sie sind für Jugendliche dann eher Gebrauchsmedien und bergen keinen Special-Interest-Hintergrund. Dagegen dürfen Titel wie etwa „Bravo“, die für eine eigene Wertigkeit bei Jugendlichen stehen, aus psychologischen Gründen nicht gratis verteilt werden. Sie würden an Attraktivität verlieren.

Die Experten

Philipp Ikrath ist Studienleiter bei Tfactory, einer Agentur für Jugendmarktforschung und Jugendmarketing.

Tobias Langner ist Marketingexperte und forscht an der Uni Wuppertal.

Anja Pasquay ist Sprecherin des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV).

Jens Lönneker ist Geschäftsführer bei Rheingold, einem Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen.

Zum Weiterlesen:

* Beitrag „Jugend und Zeitung“ im BDZV-Jahrbuch 2004 ( www.bdzv.de)

* Broschüre „Erklär mir die Welt“: Vorgestellt werden 30 Kinderseiten deutscher Tageszeitungen. Herausgeber Verband Deutscher Lokalzeitungen e.V. (19,90 Euro, www.lokalpresse.de)

Erschienen in Ausgabe 4/2008 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 41 Autor/en: Andrea Mertes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.