„Unglaubliche Ruhelosigkeit“

Nach Angela Merkels Auftritt in der Osloer Oper war in 78 von 302 der deutschen Berichte dazu das Dekolleté der Kanzlerin Thema. Gehört diese Offenherzigkeit zur politischen Kommunikationsstrategie?

Thomas Steg: Ich habe viele Vermutungen darüber gelesen, welche Motive und Inszenierungsabsichten die Bundeskanzlerin bei der Opern-Einweihung in Oslo gehabt haben soll. Nach meiner Erfahrung wird in der Politik im Nachhinein gern vieles zu einer ausgeklügelten und genau berechneten Strategie erklärt. Wir wissen doch, seit der Antike gehören Selbstdarstellung, Symbolik und Inszenierung zur Politik. Und bei allem, was man glaubt, hineininterpretieren zu können, war die primäre Absicht der Bundeskanzlerin doch, sich für diesen feierlichen Anlass angemessen und würdevoll zu präsentieren. In einem schicken Abendkleid eben.

In unserer Studie „Journalismus in der Berliner Republik“ (s. a. S.60 f.) stellen wir eine deutliche Öffnung der Politikberichterstattung gegenüber Boulevard-Themen fest. Wie bewerten Sie das?

Ich habe überhaupt nichts gegen populären Journalismus oder gut gemachte Boulevard-Medien. Boulevard-Journalismus erfüllt ganz bestimmte Wünsche und Interessen von Mediennutzern. Ich widerspreche aber ausdrücklich der Behauptung, Boulevard-Medien seien oder noch genauer die „Bild“-Zeitung sei das politische Leitmedium der Berliner Republik. Auf eine solche Aussage lassen sich die veränderte Mediennutzung und das sich wandelnde Informationsverhalten der Bürger nicht reduzieren. Es wäre jedenfalls ein gewaltiges Missverständnis, Verständlichkeit in der politischen Kommunikation gleichzusetzen mit Anspruchslosigkeit, Inhaltsleere oder Verflachung.

Haben Politiker überhaupt noch die Möglichkeit, sich gegen Boulevardisierung zu wehren?

Boulevard-Medien sind ja keine neue Erfindung. Als politische Informationsquelle sind sie eher ziemlich unbedeutend. Die Menschen wissen genau, was der Boulevard liefert und was sie von ihm erwarten dürfen. Und Politiker kennen die hohen Quoten und Auflagen der Boulevard-Medien. Die kann man nicht so einfach ignorieren, manchmal sind sie sogar eine Versuchung. Aber auch für Politiker gilt, dass sie nichts machen müssen, was sie nicht selbst wollen.

Wie steht es um die Journalisten selbst: Gibt es unter ihnen zu viele „Wichtigtuer“, wie die „Tagesspiegel“-Korrespondentin Tissy Bruns behauptet?

Wir haben ohne Frage einen Wandel zu konstatieren in dem Sinne, dass Journalisten in viel stärkerem Maße zu öffentlichen Personen geworden sind. Sie reduzieren sich nicht mehr auf ihre journalistische Rolle, sondern treten immer häufiger in repräsentativer Funktion auf und werden selbst zu Prominenten, zu Figuren der Mediengesellschaft. Dazu gehören offenbar auch politische Ambitionen, also sich nicht auf die klassische Kontroll- und Kritikfunktion der Medien zu beschränken, sondern selbst politisch zu intervenieren, zum Akteur zu werden, bis hin zur Hybris, eine demokratisch gewählte und legitimierte Bundesregierung „wegschreiben“, mindestens ihr aber die „richtige“ Politik „vorschreiben“ zu wollen. Qualitativ ist das aus meiner Sicht eine andere Haltung als jenes Selbstbewusstsein wohl aller Journalistengenerationen, es eigentlich immer besser zu wissen als die gerade Regierenden oder Herrschenden.

Wo sehen Sie das Hauptproblem des sogenannten „Alpha-Journalismus“?

Journalisten dürfen sich mögen, dürfen gut miteinander auskommen und sich privat prima verstehen, das ist ihnen doch gar nicht vorzuwerfen. Früher gab es in den unterschiedlichen Medien und Verlagen indes derart verschiedene politische und soziale Kulturen, dass ein Schulterschluss von „Spiegel“ bis Springer ziemlich undenkbar gewesen wäre. Die Journalisten, die heute in den höchsten Funktionen die wichtigsten Medien repräsentieren, sind von ihrer Biografie, ihrem Habitus, ihrer sozialen Herkunft, ihren Anschauungsweisen und ihrer Lebenseinstellung her sehr ähnlich. Deswegen ist das gar nicht verwunderlich, dass sie sich miteinander und untereinander gut verstehen, geschäftlich hin und wieder die gleichen Interessen verfolgen oder wie bei der Rechtschreibreform gemeinsame Projekte gegen die Politik vertreten. Ich glaube, dass uns das weiter begleiten wird.

Inwiefern?

So wie soziale Milieus und Bindungen erodieren, so lösen sich auch Affinitäten zwischen Medien und Verlagen auf der einen Seite und politischen Lagern und ideologischen Positionen auf der anderen Seite auf. Die tradierten Zuordnungen stimmen schon lange nicht mehr. Das kann ein Beleg sein für publizistische Unabhängigkeit, aber ebenso gut ein Indiz für Entpolitisierung und Beliebigkeit.

Apropos Entpolitisierung: Welche Rolle spielt für Sie der Podcast der Kanzlerin?

Das, was die Kanzlerin als erste Regierungschefin mit ihrem Podcast kontinuierlich macht, hat sich als sehr sinnvoll erwiesen und wird gut nachgefragt.Die wöchentlichen Zugriffszahlen liegen bei durchschnittlich rund 200.000, davon zehn Prozent Downloads. Da die Podcasts im Internet weiterverbreitet werden, liegen die tatsächlichen Zugriffszahlen darüber. Zugleich dürfen wir das, was unter Regierungskommunikation 2.0 diskutiert wird, nicht überschätzen. Aktuelle Untersuchungen haben gerade wieder bestätigt, dass die größte Bedeutung, wenn man sich informieren will, immer noch klassische Massenmedien wie Fernsehen und Tageszeitung haben. Aber internetbasierte Kommunikationsformen werden immer wichtiger, gerade wenn man jüngere Zielgruppen erreichen will.

Ist der Podcast nicht auch ein Mittel, um bei Interviewanfragen einfach aufs Internet verweisen zu können?

Nun, wir haben auf Grund der rechtlichen Lage in den Rundfunk- oder Medienstaatsverträgen eine eindeutige Situation in Deutschland. Die Regierungschefin kann einmal im Jahr, und zwar am Silvesterabend, eine Fernsehansprache halten. In anderen westlichen Demokratien haben Regierungschefs andere Möglichkeiten, über Ansprachen direkt zu kommunizieren. Natürlich wird seit Jahrzehnten darüber lamentiert, dass das ein Nachteil ist, denn es ist eine verlockende Vorstellung, sich über direkte Ansprachen ohne journalistische Gatekeeper oder Filter unmittelbar an die Bevölkerung zu wenden. Über einen Podcast ist das jetzt prinzipiell möglich.

Was sagen Sie den Journalisten, die sich über Ihre Verweise auf den Podcast ärgern?

Dass bei terminlichen Engpässen am Wochenende Interviewwünsche abgesagt werden und auf den Podcast verwiesen wird, halte ich für legitim. Der Podcast wird am Samstagvormittag freigeschaltet, und die Kanzlerin äußert sich immer am Wochenende zu einem aktuellen Thema der nächsten Tage. Aber ganz grundsätzlich: Der Podcast ersetzt nicht das Interview und nicht das ad hoc oder en passant gegebene Statement. Es ist ein ergänzendes Informationsangebot.

Beschleunigt das Internet generell die politische Kommunikation?

Wenn ich die Entwicklung in den vergangenen Jahren betrachte, dann ist das Problem der Beschleunigung kein neues Phänomen, das mit dem Aufkommen und der Ausbreitung des Internet verbunden wäre, sondern es gibt andere Dinge, die wichtig sind.

Und zwar?

Erstens die zunehmende Konkurrenz. Wir haben in den vergangenen 20 oder 30 Jahren eine explosionsartige Vermehrung des Medienangebots erlebt, vor allem im elektronischen Bereich. Dadurch haben wir eine verschärfte Konkurrenz, die sich insbesondere im Printbereich durch den erhöhten Wettbewerbsdruck ausgebildet hat, der wiederum auf Grund von Konzen- trationsprozessen und der Jagd nach exklusiven Meldungen zugenommen hat. Und wenn Zeitungen dann auch noch Online-Angebote machen, dann haben Sie automatisch die Situation, dass keine Nachricht wirklich, reifen‘ oder aufwendig recherchiert werden kann, sondern dass die Feststellung: „Medien haben keine Zeit, Medien kennen keine Zeit“ in der Tat zutrifft. Gibt es eine Information, muss sie sofort veröffent- licht werden, weil die Haltbarkeit einer Nachricht so gering ist und
ein anderer mit der exklusiven Information schneller auf dem Markt sein könnte.

An dieser Beschleunigung nimmt aber das Internet doch eine wesentlichen Anteil.

Also: Beschleunigung gibt es, doch ursächlich dafür ist nicht das Internet, sondern sind Prozesse, die schon seit vielen Jahren andauern durch verschärfte Konkurrenz und durch technische Möglichkeiten. Das führt zu einer unglaublichen Ruhelosigkeit und einem Verlust an Reflexionszeit sowohl im journalistischen Betrieb als auch in der Politik.

Leif Kramp arbeitet als freier Journalist und Medienwissenschaftler in Hamburg,

Stephan Weichert arbeitet als Kommunikationsberater und Projektleiter am Institut für Medien- und Kommunikationspolitik gGmbH in Berlin. Kontakt: autor@mediummagazin.de

Linktipp:

Das ausführliche Interview mit Thomas Steg, in dem er sich u. a. zur Rolle von Journalisten als politische Akteure und der Politikberater äußert, ist abrufbar unter www.mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 7/2008 in der Rubrik „Die andere Seite“ auf Seite 64 bis 65 Autor/en: Interview: Leif Kramp, Stephan Weichert. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.