Am Puls der Bürger

Näher dran am Leser – kaum eine Regionalzeitung, die dieses Motto nicht auf die Fahnen geschrieben hat. Was also ist so Besonderes an der „Bürgerzeitung“ aus Braunschweig? Es ist die Konsequenz, der Eifer und der hohe Anspruch, mit dem die „Braunschweiger Zeitung“ (BZ) ihr Projekt im Alltag umsetzt. So sieht es zumindest die Jury der Konrad-Adenauer-Stiftung, die die „BZ“ mit dem ersten Preis kürte.

„Die Zeitung wird nicht nur für die Leser, sondern mit den Lesern gemacht“, so Jury-Sprecher Dr. Dieter Golombek. Dazu holt die Redaktion Leser ins Haus, um mit ihnen über das Blatt zu diskutieren, sie organisiert zahllose Veranstaltungen, kommt zu den Menschen, lässt sie in Foren, Pressekonferenzen, Abstimmungen und Interviews mitreden und mitmachen. Und sie stellt sich der Kritik, hat ein eigenes Ressort gegründet, das sich um Zuschriften und Anregungen kümmert und leistet sich einen Ombudsrat, der Leserbeschwerden nachgeht.

Die Philosophie. Mittlerweile sind in dem Projekt Bürgerzeitung rund 50 verschiedene Elemente entstanden, so Chefredakteur Paul-Josef Raue. Vieles davon ist für Zeitungsmacher altbekannt, wie etwa das Ratgebertelefon oder Zeitung an der Schule. Aber es sind auch viele neue Ideen hinzugekommen, um die Leser besser einzubinden, seien es Leser-Interviews mit Prominenten oder Leser-Konferenzen für alle Redaktionen. Ungewöhnlich ist nicht nur die Zahl der Aktionen, sondern auch die dahinter stehende Philosophie.

Denn der Chefredakteur legt die Latte hoch. Auf die Frage, ob er nun Zeitung 2.0 mache, antwortet Raue: „Wir machen Artikel 5 – das, was das Grundgesetz von uns verlangt.“ Das bedeutet für ihn, die Menschen ernst zu nehmen und an der Diskussion zu beteiligen. „Unsere Zeitung ist ein Marktplatz der Demokratie“, sagt Raue und betont zugleich: „Wir bleiben Journalisten, wir moderieren und wir holen die Perlen raus. Wir stoßen an, wir schubsen die Leser.“

Entstanden ist die „Bürgerzeitung“ jedoch nicht auf dem Schreibtisch des Chefs, sondern in einem jahrelangen Prozess. Und aus purer Notwendigkeit. „Wir haben gemerkt, dass uns die Bürger davonlaufen“, sagt Raue. Ständig habe man über Ursachen und Konsequenzen diskutiert und gestritten, Ideen entwickelt und verworfen. Schließlich wurde ein eigenes Leser-Ressort geschaffen, das eine tägliche „Leser-Seite“ produziert. Ein Redakteur fungiert als fester Ansprechpartner für die Leser. Seither habe sich die Zahl der Leserbriefe verfünffacht, berichtet der stellvertretende Chefredakteur Stefan Kläsener.

Da die „Bürgerzeitung“ über Jahre hinweg im Haus gewachsen ist, brauche man auch kein Konzept-Papier, um die Kollegen auf Linie zu trimmen. Raue: „Die Bürgerzeitung ist normaler Alltag bei uns geworden.“ Es gehe da- rum, die Zeitung zu verbessern, die Bedürfnisse der Leser zu befriedigen. Und dafür hat Raue ein klares Rezept: „Wir müssen den Journalismus nicht neu erfinden, sondern uns einfach auf unsere Profession und altbewährte Stärken besinnen.“

„Wikipedia-Prinzip“. Dazu gehöre, das Wissen und die Erfahrung der Bürger zu nutzen, ihre Meinungen und Wünsche zu hören und von ihnen zu lernen. Raue nennt es das „Wikipedia-Prinzip“, die Weisheit der Vielen nutzen. Zum Beispiel das wöchentliche Interview unter der Rubrik „Leser fragen …“. Dort stellen nicht die Redakteure, sondern Leser den prominenten Gästen die Fragen. Die Kandidaten werden von der Redaktion gezielt ausgewählt. So setzten sie der Justizministerin eine Jurastudentin, einen pensionierten Amtsrichter und einen Rechtsanwalt gegenüber. Raue betont: „Es muss Qualität dabei sein, sonst interessiert uns das nicht.“ Und: Die Redaktion behält das Heft in der Hand, moderiert und wählt die Schwerpunkte für die Geschichte aus.

Ähnlich funktioniert das Prinzip bei den Leserkonferenzen. Jede der sieben Lokalredaktionen lädt vier Mal im Jahr Leser zur Diskussion ein. „Da nehmen wir auch ganz bewusst Leute, die unzufrieden mit uns sind“, sagt der Chefredakteur. Nicht, um die Kollegen vor Ort beschimpfen zu lassen, sondern um Anregungen zu bekommen, neue Geschichten und Hintergründe zu erfahren. Vor allem schärften diese Gespräche den Blick der Redaktion auf vergessene oder wenig beachtete Orte, Themen, Menschen. Die Ergebnisse dieser Konferenzen seien stets lohnend.

Zielgruppe Jugend. Viele der Aktionen der „BZ“ haben die Jugend im Visier. Die Palette reicht von der bekannten Zeitung an der Schule oder im Kindergarten bis hin zum Jugendparlament, bei dem Schüler in die Rolle der Kommunalpolitiker schlüpfen. Und schließlich räumt die Chefredaktion einen Tag lang die Stühle für Jugendliche aus der Region, die das Blatt mit ihren Themen und Kommentaren füllen.

Mit den Lesern in Kontakt kommen, wo immer es geht. Sei es bei Diskussionen mit Wissenschaftlern oder regionalen Experten, sei es am Lesertelefon oder bei Aktionen zum Ehrenamt, bei Konferenzen, Galas oder wie jüngst bei einer 240 Kilometer langen Wanderung entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Immer die Hand am Puls der Bürger, natürlich sei das mehr Aufwand als nur am Telefon zu sitzen und Termine abzuarbeiten. Doch Raue ist überzeugt: „Man könnte in der Zeit nichts Besseres machen. Das Ergebnis ist immer hoch positiv. Man hat Inhalte im Blatt, Themen, über die man sonst nichts wissen würde. Und man hat Kontakte in die Welt, über die man schreibt. Das macht richtigen Spaß.“

Lernkurven. Er gibt zu, dass die Kollegen enorm viel dazulernen musste. „Das Schwierigste für die Redaktionen war, sich der Kritik der Leser zu stellen“, erzählt Raue. Zum einen im direkten Gespräch, zum anderen in Briefen. So werde etwa jeder Leserbrief, der sich mit der Zeitung beschäftigt, ans schwarze Brett gehängt. Zusätzlich gibt es den hauseigenen Ombudsrat, bestehend aus dem früheren Generalstaatsanwalt Heinrich Kintzi und aus Raues Stellvertreter Kläsener. Der Ombudsrat nimmt kritische Dinge in die Hand und schreibt eine wöchentliche Kolumne. Raue: „Der führt uns auch öffentlich vor, wenn wir Fehler machen“. Das sei für die Kollegen nicht immer leicht zu ertragen. „Da gibt es schon mal lange Gesichter.“

Und die Bürger selbst? Raue meint, das Interesse der Leser an den Aktionen und Gesprächen nehme nach wie vor zu. Es gebe so gut wie keine Abbestellungen mehr aus Gründen der Blattkritik. Seit zwei Jahren steige die Reichweite. Sie liegt derzeit bei 60 Prozent. Entgegen dem Branchentrend stieg sogar die Auflage im zweiten Halbjahr 2009, wenngleich nur um 260 Exemplare. Derzeit werden täglich etwas über 166.000 Zeitungen verkauft. Kritik komme nur noch „von Funktionären, weil sie weniger zu Wort kommen“.

Raue warnt jedoch vor Selbstzufriedenheit. „Bürgerzeitung ist kein Marketing-Konzept, es ist immer ein Prozess, das ist nie abgeschlossen.“ Doch er ist sicher, dass sich das Prinzip gegenüber dem Internet behaupten wird. Dort könne jeder unentwegt zu Wort kommen, es entstehe eine diffuse Öffentlichkeit, aber keine demokratische Qualität. „Das Internet ist wie ein Wolkenkratzer, in dem die Menschen anonym nebeneinander leben. Die Zeitung ist wie ein Dorf oder wie der Marktplatz in einer Stadt, wo jeder Bescheid weiß über das Wichtigste, das zur Unterhaltung animiert.“

Kontakt:

Ansprechpartner bei der „BZ“: David Mache, Assistent der Chefredaktion, Tel: 05 31 – 39 00 392,

E-Mail: david.mache@bzv.de

TIPP: Die preisgekrönten Geschichten und viele weitere gute Beispiele aus Lokalzeitungen werden in dem Band „Ausgezeichnet“ von Dieter Golombek ausführlich beschrieben. Zu beziehen beim Medienfachverlag Oberauer (264 Seiten Preis, 19,80 Euro): E-Mail: vertrieb@oberauer.com oder unter www.newsroom.de, „shop“

Erschienen in Ausgabe 10+11/2009 in der R
ubrik „Medien“ auf Seite 16 bis 16 Autor/en: Robert Domes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.