Revolution am Rhein

Bei uns sind derzeit viele Bälle in der Luft, und zwar Medizinbälle“, sagt Christian Lindner lachend und Joachim Türk lächelt zustimmend. Die beiden führen schon seit 2004 als Doppelspitze die Chefredaktion der „Rhein-Zeitung“, beide sind Hausgewächse, der „Rhein-Zeitung“ seit Ihrer Volontärszeit verbunden. Und doch ist es, als wehe seit Februar 2009 ein völlig neuer Wind im Haus. Wer nur die gedruckte „Rhein-Zeitung“ kennt und mit dem Mittelrhein-Verlag vor allem die einschneidenden Sparmaßnahmen der vergangenen Jahre verbindet, kann leicht übersehen, welche journalistischen und verlegerischen Impulse momentan aus Koblenz kommen. Ein ausgeklügelte Strategie für den Dialog bei Twitter und in sozialen Netzwerken, ein Pilotprojekt zum Einsatz mobiler Journalisten, ein multimediales mobiles Volontärsprojekt, neue Arbeits- und Organisationsstrukturen mit Lokalredakteuren als Reportereinheiten und einem zentralen Produktionsdesk.

Und nebenher läuft auch noch der Relaunch der Printausgabe, den Lindner zur Zeit mit der Berliner Agentur KircherBurkhardt vorbereitet. Priorität hat derzeit aber der Umbau der Zeitung zu einer Multimediaplattform, die dem alten, aber verblichenen Ruf der „RZ“ als Pionier der Onlinewelt neuen Glanz verleihen soll. Fast scheint es, als stünde in der Baustelle „Rhein-Zeitung“ nur noch die Fassade, hinter der momentan alles beinahe gleichzeitig modernisiert wird. „Wir sind mittendrin – und natürlich noch lange nicht am Ziel“, sagen Christian Lindner und Joachim Türk übereinstimmend.

Was also tut sich derzeit auf den einzelnen Baustellen?

1. Twitter & Co: Wie aus Web 2.0-Usern „RZ“-Follower werden.

„Mal ‘ne ganz andere Titelseite vor der Wahl? Wir testen aus: Zahlen in Rot? In Schwarz? Was meint der Schwarm? http://pic.gd/e612c5“ twitterte Chefredakteur Christian Lindner am Tag vor der Bundestagswahl. Es folgte eine vielbeachtete Twitter-Diskussion über die Gestaltung der Titelseite, die sich ebenso rege in der Gruppe „Rhein-Zeitung“ des in Koblenz gegründeten Netzwerks „Wer kennt wen“ (WKW) fortsetzte. Die Onlineausgabe der „RZ“ präsentierte alle Tweets von Followern mit dem Stichwort #rzwahl auf einer „Twitterwall“ (s. a. Seite 13). Und anstatt des sonstigen Einzel-“Tweet des Tages“ druckte die „RZ“ am Tag nach der Wahl auf drei Seiten verteilt gleich elf Tweets ihrer regionalen Follower im Blatt ab.

„Natürlich ist es Mehrarbeit für die Redakteure, nicht mehr bloß die traditionellen Medien Print und Online, sondern auch Social-Media-Kanäle zu befüllen“, räumt Lindner ein. Doch beide Chefredakteure twittern selbst, leben der gesamten Redaktion das Engagement in sozialen Medien vor und sorgen auch so dafür, dass sich das auf möglichst die gesamte Redaktion überträgt. „Wir legen sehr viel Wert da- rauf, dass wir Social Media als Gemeinschaftsaufgabe und nicht als die Arbeit von wenigen definieren.“ Es gibt immer wieder Sonderkonferenzen in kleinen und großen Gruppen, Mails an alle, regelmäßige Schulungen und laut Lindner auch das Wohlwollen der Chefredaktion, das Thema Gesundheitsreform im Blatt mal hinten an zu stellen und sich lieber darum zu kümmern, eine neue WKW-Gruppe mit Leben zu füllen.

Wenige Monate nach dem Start des Social-Media-Engagements im Februar 2009 zeigt sich, wie Print und Netzwerke bereits voneinander profitieren. So informierte beispielsweise ein Follower die „RZ“, dass das Google Streetview Auto für Filmaufnahmen über die Dörfer fährt. Die „RZ“ machte da- raus einen viel beachteten Aufmacher. Oder: Ein Tipp in der WKW-Ortsgruppe „Rhein-Lahn-Zeitung“ über Pannen bei der Unfallrettung eines Vierjährigen führte zu einem großen Bericht im Lokalteil – was wiederum gut in der WKW-Gruppe ankam. Die größte und älteste der inzwischen 17 „RZ“-Gruppen bei WKW (für jede Lokalausgabe eine plus eine Mantelgrupe als Dach) hatte bereits vier Wochen nach Start ohne viel Eigenwerbung knapp 700 Mitglieder gewonnen. „‚Rhein Lahn‘ ist die Pilotgruppe der „RZ“. Hier loten wir aus, was in WKW redaktionell geht“, sagt Lindner.

Und so funktioniert es im Alltag: „RZ“-Lokalredakteur Willi Winkler lädt als Gruppenchef WKW-Mitglieder dazu ein, Themenvorschläge für die Zeitung zu nennen und informiert Gruppenmitglieder vorab, was wann im Blatt aus den Tipps wird. Im gedruckten Lokalteil bekommen Beiträge, die auf Vorschläge aus der Gruppe zurückgehen, ein eigenes Logo: „Ihr Thema aus WKW…“. Lindner nennt das Zusammenspiel von WKW-Mitgliedern und Zeitungsredakteuren „eine neue Form für alte Informationsstrukturen“. Früher hätten die Leute in der Redaktion angerufen, „heute schreiben sie fünf Zeilen bei WKW.“ Wobei es ein Glücksfall für die Zeitung ist, dass das inzwischen zu RTL gehörende Jedermann-Netzwerk in der Region stark verankert ist. „Wir erreichen über WKW mindestens 70 Prozent aller Haushalte“, sagt Lindner.

2. Aufwertung mit eigenem Social Media- Ressort

Seit Februar 2009 twittern Politikredakteur Rainer Stauber, Terminchef Lars Wienand und inzwischen auch weitere Redakteure der Zentralen Produktion (ZP) für den Account @rheinzeitung. Seitdem haben die Redakteure rund 6500 Tweets und 1250 private Mitteilungen (DM) verschickt. Allein @rheinzeitung hat über 2000 Follower (alle 27 Accounts der „RZ“ zusammen derzeit knapp 10.000), die „Rhein-Zeitung“ selbst folgt rund 800 Twitterern bewusst nur aus der Region – und steht mit mehr als der Hälfte von ihnen per Twitter in einem ständigen Austausch. „Das läuft alles neben der normalen Arbeit her, aber es macht auch einen Riesenspaß“, sagt Stauber. Ein Satz übrigens, das bemerkenswert oft fällt, wenn man sich mit twitternden Redakteuren unterhält.

Um die Bedeutung der sozialen Medien für die Zukunft der Zeitung zu unterstreichen, wurde der Social Media- Desk mit den Redakteuren Stauber und Wienand nun Anfang Oktober in den Rang eines Ressorts erhoben, angedockt an die „Zentrale Produktion“.

Am Anfang wurden gezielt Redakteure angesprochen, die schon privat twitterten oder bei WKW unterwegs waren, ob sie das nicht auch im „RZ“-Auftrag tun wollten. Inzwischen twittern alle Lokalredaktionen und Volontäre, auch auf Geheiß der Chefredaktion. Im Vordergrund steht immer der Dialog mit der Community, für reine Informationen mit Links auf Texte aus der Onlineausgabe gibt es den RSS-Feed-basierten Account @regioticker.

„Die meisten Redakteure stehen voll dahinter zu twittern, auch diejenigen, die anfangs zögerlich waren“, sagt Stauber. Und natürlich begrüßen die Twitterer aus der Region die Idee, dass sich die „Rhein-Zeitung“ ihnen auf neuen Wegen nähert – auch ganz persönlich, nicht nur virtuell: Drei „Followerabende“ mit jeweils 15 ausgewählten Teilnehmern (inklusive Führung durch Redaktion und Druckerei) haben bereits stattgefunden, für weitere Abende gibt es eine lange Warteliste. Außerdem lädt die „RZ“ in unregelmäßigen Abständen Twitterer zur Blattkritik ein und lässt dabei ein Video laufen, das in voller Länge ins Netz gestellt wird.

Twitter, WKW und ein Anfangs-Engagement bei Facebook dienen der „Rhein-Zeitung“ in erster Linie dazu, bei Zielgruppen, die sie mit der gedruckten Zeitung kaum mehr erreichen, als kompetenter Ansprechpartner und Ratgeber in der Region wahrgenommen zu werden. Wie das ankommt, zeigt auch das: Zaghafte wirtschaftliche Erfolge stellen sich ein, indem über Twitter und WKW erste Neu-Abonnenten gewonnen wurden. Woher die „RZ“ das weiß? Die Nutzer haben es ihr selbst mitgeteilt.

3. Abgespeckte Aufgaben: Aus Seitenproduzenten werden Lokalreporter

Das Arbeitsmodell der letzten 20 Jahre, bei dem Lokalredakteure selber ihre Seiten pl
anen, recherchieren, schreiben, redigieren, layouten und fertig produzieren, gilt in der „RZ“ heute als Gift für einen lebendigen Journalismus – weil Reporter vor lauter Schreibtischarbeit kaum mehr direkten Kontakt zu den Menschen vor Ort bekamen. Inzwischen sind an 13 von 16 Standorten die insgesamt 60 Redakteure von allen Produktionsaufgaben befreit. Ihr Job ausschließlich: Themen aufspüren, planen, schreiben. „Die Lokalredaktionen sind jetzt Reportereinheiten. Wir müssen raus in die Fläche und dort nach exklusiven Geschichten suchen“, betont Chefredakteur Joachim Türk, der die Umstrukturierung koordiniert.

Um die Mobilität zu stärken, werden bis zum Jahresende alle 60 Lokalreporter mit Laptops, Smartphones und UMTS-Karten ausgerüstet. Ihren Arbeitsplatz können sie sich frei auswählen, das kann, muss aber nicht mehr in der Redaktion sein. Täglich um 11 Uhr nimmt je Ausgabe ein Reporter an einer telefonischen Schaltkonferenz mit dem Desk in der Mantelredaktion verpflichtend teil. Ansonsten gibt es keine Konferenz-Bindung. Wie die Reporter sich vor Ort in puncto Konferenzen organisieren, definieren sie autonom. Etwa ein Drittel der Redakteure ist laut Türk von den neuen Strukturen „vollkommen begeistert“. Seit die „RZ“ vor wenigen Wochen ihre kleinsten Lokalredaktionen Andernach und Mayen in reine Zweigstellen für Abo- und Anzeigenannahmen umwandelte, habe man beispielsweise die dortigen Redakteure kaum noch gesehen. Für Türk ist das ein gutes Zeichen: „Die sind immer unterwegs und graben Geschichten aus.“

Doch die Kehrtwende und der damit einhergehende Verzicht auf den früher geregelten Tagesablauf fällt nicht allen Lokalredakteuren leicht. Wer früher argumentierte, „Wir würden ja gerne mehr schreiben, aber die Seitenproduktion …“ muss jetzt zeigen, wie ernst es ihm damit war. Rund ein Drittel der Redakteure tut sich noch schwer mit der neuen Arbeitsstruktur. „20 Jahre Redakteursarbeit als Druckvorstufe haben Spuren in den Köpfen hinterlassen“, sagt Türk. Neuen Schwung und eine Auffrischung der Reportertugenden sollen im November eine Reihe von zweitägigen Inhouse-Seminaren in Koblenz verschaffen, zum Beispiel zur Themenfindung und zum Lokalkommentar. Ein ganz wichtiger Punkt laut Lindner: „Unsere Leute müssen das Tempo mithalten können. Wir dürfen als Redaktionsmanager deshalb nie nur in Sachkonzepten denken und unterwegs sein. Noch entscheidender als jedes spannende produktorientierte Projekt sind gelebte Konzepte für Personalentwicklung.“

4. Zentrale Produktion: Wo Beiträge und Kanäle koordiniert werden

Der unverzichtbare Gegenpol zu den Reportereinheiten ist die Zentrale Produktion – bestehend aus 28 Blattmachern, zwei Assistentinnen sowie einem Redigierpool aus langjährigen freien Mitarbeitern und ehemaligen Redakteuren wie Volontären, die im Homeoffice in Teilzeit Standardtexte bearbeiten. Bis zum Jahreswechsel soll die Umstrukturierungsphase abgeschlossen sein, sagt Jörg Peter Herrmann, Leiter der Zentralen Produktion. Sein Team übernimmt die Beiträge der Reporter im unredigierten Zustand, macht daraus das Blatt und entscheidet, mit welchen Beiträgen weitere Kanäle wie Online oder der Regio-Ticker befüllt werden. Auch der Frühdienst (ab 8 Uhr) und Spätdienst (bis ca. 24 Uhr) sind Aufgaben der ZP. Jeder Blattmacher ist für vier bis fünf Netto-Seiten verantwortlich und in der Regel haben die Lokalchefs draußen in der Region stets die gleichen Ansprechpartner bei der ZP in Koblenz. Gleichzeitig werden so Herrmann, darauf geachtet, dass auch die ZP-Redakteure über Regionalkompetenz verfügen, um die Reportertexte auch entsprechend bearbeiten zu können. Die zentrale Qualitätskontrolle dürfe allerdings nicht zulasten von Aktualität gehen, betont Herrmann: „Alles, was schnell ins Netz gestellt werden sollte, stellen die Redakteure draußen in eigener Entscheidung ins Netz, ohne Umweg über die ZP.“

5. Online-Relaunch: Mehr Weißraum, Blogs und Regionales prominent platziert

RZ Online ist in vielen Aspekten Pionier: Die Zeitung ging 1995 als erste deutsche Tageszeitung mit eigener Redaktion ins Netz. Seit 1996 werden alle Artikel aus „RZ“ und RZ-Online in einem Internet-Volltext-Archiv abgelegt. Und 2001 startete die „RZ“ das weltweit erste E-Paper auf HTML-Basis. Heute hat das vollautomatisierte Angebot 5.920 Abonnenten und ist aufgrund der geringen Betriebskosten profitabel. Zwei RSS-Feeds, einer mit dpa-Meldungen und seit 2008 auch ein Regioticker ergänzen das Angebot.

Doch momentan wirkt die Website trotz prominenter Platzierung des Twittervogels im Header, einer Twitterkarte und der Integration mehrerer Blogs konventionell. Das soll der Relaunch im Dezember 2009 ändern, die Website wird neu gestaltet von der Webagentur Newsfactory, einer Tochtergesellschaft des Verlags der „Augsburger Allgemeine Zeitung“. Lokales und Regionales soll prominenter platziert werden. Zwei weitere Autorenblogs werden hinzukommen, einer über Sicherheitspolitik und einer über Triathlons und Ironman-Wettbewerbe. Warum gerade diese Themen? „Wir können so das Spezial-Know-how der Redakteure besser als vorher herausstellen“, sagt Online-Chef Jochen Magnus. Außerdem sollen künftig auch Gastblogger aus der Region für RZ Online gewonnen werden. Magnus betont, dass der Servicecharakter der Webseite, z. B. mit Veranstaltungskalender, Kinoprogramm etc. erhalten bleibt. Aber auch dieses Prinzip: „Wir werden auch weiterhin nicht unsere gesamten lokalen Inhalte aus der Zeitung online verschenken.“ Ins Netz kommen Geschichten, die über Stadt- oder Kreisgrenzen hinweg interessant, aber nicht exklusiv sind. “Wir werden mehr und längere lokale Geschichten frei veröffentlichen, planen aber auch, einen exklusiven Teil nur unseren Abonnenten zugänglich zu machen“, sagt Magnus. Wo genau künftig die Grenze verlaufen soll, wird derzeit noch definiert.

6. Die Volontärsausbildung – Experimente auf allen Kanälen

Die Bedeutung, welche die „Rhein-Zeitung“ dem multimedialen Umbau und den sozialen Medien zuschreibt, ist vielleicht nirgendwo deutlicher bemerkbar als bei der Volontärsauswahl und -ausbildung. Während altgediente Redakteure, die mit Twitter oder Facebook nichts anfangen können, nach Möglichkeit dort eingesetzt werden sollen, auf denen sie ihren traditionellen Stärken gerecht werden können, haben Volontariatsbewerber bei der „RZ“ diese Wahl nicht. Ohne Social Media-Erfahrung haben Bewerber kaum Chancen, zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Ein möglichst abgeschlossenes Hochschulstudium ist zwar ebenfalls erwünscht. Aber auch Quereinsteiger mit Talenten, welche die Zeitung auf ihrem Weg ins multimediale Zeitalter gut gebrauchen kann, sollen größere Chancen bekommen.

Die Multimedia-Qualifikation wird entsprechend in der Ausbildung groß- geschrieben und auch dabei geht die „RZ“ neue Wege: So probte die „RZ“ im Monat vor der Bundestagswahl ein bisher bundesweit einzigartiges journalistisches Ausbildungprojekt mit allen 18 Volontären aus zwei Jahrgängen: Vier Wochen lang tourten sie mit ihrem „Wahlmobil“, ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Hörfunksender RPR1, in Kleingruppen täglich durch das Verbreitungsgebiet. Die Volontäre schrieben täglich für die Printausgabe, produzierten Hörfunkbeiträge, lieferten O-Töne ab, bloggten, drehten Videos, twitterten mehr als 40 Tweets pro Tag, befüllten eine Facebook- und eine WKW-Gruppe. Das Konzept und die Organisation erarbeiteten sie eigenständig – betreut von der Volontärsausbilderin Regina Theunissen. Das Projekt habe, so sagt sie ganz offen, ein doppeltes Ziel gehabt: Den Menschen in der Region, insbesondere den jungen, sollte eine neue, multimediale Art der Wahlkampfberichterstattung geboten und gleichzeitig die individuellen Stärken und Schwächen der Volontäre beobachtet werden.

Das hat sich gelohnt: „Manch einer, der vorher nicht viel mit Twitter a
nfangen konnte, hat beim Wahlmobil auf einmal ein Thema gehabt und dann richtig losgelegt und Spaß am Twittern gefunden“, so Theunissen. „Und manch einer, der sonst eher zurückhaltend oder unauffällig ist und eher den Alltag gut managt als sich mit ‚gro- ßen Geschichten‘ hervorzutun, konnte sich bei diesem Projekt richtig profilieren – durch kreative Ideen, ungeahnte Programmierkenntnisse oder äußerste Zuverlässigkeit, Teamgeist, hohes Verantwortungsgefühl oder außerordentliches Engagement.“ Multimediale Sonderprojekte der Volontäre wird es bei der „RZ“ weiterhin regelmäßig geben, wenn auch nicht immer mit einem solch hohen Aufwand wie beim Wahlmobil.

Wie sieht der Nachwuchs selbst das Projekt? Volontär Markus Eschenauer war in der ersten Woche mit dem Wahlmobil unterwegs und möchte diese Erfahrung nicht missen. „Ich habe jetzt Grundkenntnisse der Videoproduktion und weiß durch die Kooperation, wie die Kollegen vom Radio arbeiten“, sagt der 29-Jährige. Vor allem aber hätten sie gelernt, wie man kurzfristig Termine bekommt, und dass sich Hartnäckigkeit auszahlt. So gelang es den Volos während ihrer „Wahlmobil-Tour“ neben vielen anderen auch Merkel, Steinmeier und Guttenberg zu interviewen – und somit mehr Spitzenpolitiker als mancher gestandene Politikredakteur in einem ganzen Jahr. Aus diesem Lager kam anfangs auch, durchaus berechtigte, Kritik am „Schülerzeitungsniveau“ der Beiträge. Doch die Volos sollten, mit Rückendeckung von Theunissen und den Chefredakteuren, bewusst mit Recherche- und Darstellungsformen experimentieren und damit Erfahrungen sammeln. Von erfahrenen Redakteuren wurden nur Beiträge für die Printausgabe redigiert, alles andere verantworteten die Volontäre in Eigenregie. Eschenauer gibt selbstkritisch zu, dass anfangs nicht alles rund gelaufen sei. „Aber wir sind Volontäre, wir üben noch.“ Terminkoordination zu lernen und die Erfahrung zu machen, auf welchen offiziellen und inoffiziellen Kanälen man brauchbare Informationen bekommt, sei für die Entwicklung des Projekts sehr wichtig gewesen. Seinen Volontärskollegen bei anderen Zeitungen rät Eschenauer: „Wenn ihr die Gelegenheit habt, so etwas aufzubauen, dann tut es. Ergreift die Initiative.“

7. Unterwegs als rollende Marke: Die Mobile Journalistin „MoJane“

Seit Anfang August 2009 trainiert die 29-jährige Redakteurin Katrin Steinert ihre neue Rolle als mobile Journalistin (MoJo). Die ehemalige Volontärin ist Pionierin für ein ganzes Team von circa zehn „RZ“-MoJos, das im kommenden Jahr durch die Region Mittelrhein fahren soll. Ihren Namen RZMoJane, unter dem Steinert im Netz auftritt, ließ sie – ganz webzweinullig – vom Schwarm finden. „MoJo“ ist ein eingeführter Begriff, klingt aber generisch und eher männlich. Der Name „RZMoJane“ hingegen, für den sich Steinert entschied, verkörpert die Jane, die sich wie Tarzan durch den Dschungel des Web 2.0 schwingt.

MoJane hat ein eigenes Blog, dreht Videos und nimmt Audiobeiträge auf, als @RZMoJane twittert Steinert für die „RZ“. Alles in einem locker-flapsigen Stil, der neue junge Zielgruppen ansprechen soll. Das missfällt manchem älteren Redakteur. Lindner betont: „Sie soll in das Projekt Mobiler Journalismus insgesamt einen eigenen und auch „RZ“-unüblichen Ton einbringen. Ich habe sie deshalb bewusst ermuntert, in Twitter, Blog & Co. frisch, frech und unverkrampft zu agieren.“

Das gilt nicht nur für MoJane: Alle Blogger, Twitterer und Netzwerker schreiben ohne Freigabeprozedur autonom. „Ich bin überzeugt: Web 2.0 in Redaktionen geht nur so“, sagt Lindner. Kollegen anderer Medienhäuser rät er: „Wenn Sie Web 2.0 machen wollen, müssen Sie in diesem Bereich Ihre normalen Strukturen, Prozesse und Abnahmeverfahren vergessen.“

Unter ihrem Klarnamen schreibt Steinert auch klassische Berichte für die Printausgabe. Der ständige Wechsel zwischen verschiedenen Stilen, zwischen klassischen Berichten und der „lockeren und coolen“ Ansprache in sozialen Netzen sei durchaus gewöhnungsbedürftig, sagt Steinert. Noch arbeitet sie in einem Büro, das an das zentrale Newsdesk angebunden ist, und in WLAN-Cafés. Demnächst aber wird ihr Büro auf vier Rädern durchs Land rollen: In einem Opel Vivaro mit „RZ“-Logo, der mobile Kommunikationszentrale und Werbeträger für die multimedialen Aktivitäten der „Rhein-Zeitung“ werden soll.

Steinerts Rolle wird allerdings auch kritisch betrachtet, wie manche Kommentare unter ihren Blogeinträgen zeigen. Manche vermuten hinter dem „All-in-One“-Konzept MoJo eine reine Sparmaßnahme zulasten von Redakteursstellen. Demgegenüber steht, was Steinert kürzlich bloggte: „Lauter schöne Dinge bekomme ich. Laptop, neueste Flipvideo, Videokamera, Adobe Premiere (Schnittprogramm) und und und. Einfach so. Sozusagen: berufliches Weihnachten und Geburtstag auf einen Schlag.“ […] „Und das gute Gefährt, das „RZ“-Mobil, wenn es denn da ist, wird wohl mit das teuerste Geschenk sein. Hihi.“ Ein Kommentator schrieb nüchtern: „Das zahlen alles die noch treuen Zeitungsbezieher.“ Die selbstbewusste Antwort von MoJane: „Der Zeitungsleser und unsere Anzeigenkunden bezahlen das – und bekommen dafür etwas zurück. Nämlich Inhalte, neue Gedankenanstöße, Hintergründe, Unterhaltung.“

Auf ihre neue Rolle durfte sie sich mit selbst gewählten Weiterbildungskursen bei der IFRA vorbereiten – auch kein preiswertes Vergnügen. Doch Grund für Neid von Kollegen auf traditionelleren Posten sieht Steinert nicht: Bei der „RZ“ bekomme jeder Redakteur, der einen begründeten Wunsch vortrage, ein geeignetes Seminar spendiert.

Die Bälle fliegen also in der „Rhein-Zeitung“, doch es sind – und daraus machen auch die Chefredakteure keinen Hehl – eben schwergewichtige Medizinbälle und vielleicht sogar etwas zu viele auf einmal. Der Umbau läuft so hochtourig, dass da manches auch mal unter die Räder gerät. Wenn die Chefredaktion voll Begeisterung in der Konferenz die jüngsten Twitter-Erfolge lobt, aber nicht die aufwendig produzierte Themenstrecke im Blatt, fördert das nicht gerade den Enthusiasmus der altgedienten Redakteure. Doch die Erkenntnis, dass es nicht mehr so wie bisher weitergehen wird mit der Zeitung, hat sich durchgesetzt. Und auch die altgedienten Redakteure sehen, trotz aller Skepsis im Detail, wie sich das Image der „Rhein-Zeitung“ bei Lesern, Usern und Kollegen deutlich verbessert – ein Prozess, der eine weitere Beobachtung lohnt.

Erschienen in Ausgabe 10+11/2009 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 28 bis 28 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.