Workflow der Zukunft

Vor anderthalb Jahren ärgerte sich Hans-Jürgen Jakobs, Chefredakteur von „sueddeutsche.de“, in einem Interview über den Konkurrenten „Welt Online“ und sprach von einem „irrsinnig hohen Nutzeranteil von rund 50 Prozent“, den die Berliner Wettbewerber durch Links via Google und Google News erzielten. Inzwischen ist diese Strategie längst gängige Praxis bei allen großen Nachrichtenseiten, „Focus Online“ kommt nach eigenen Angaben auf Google-Traffic von etwa 45 Prozent, Tendenz – eher steigend.

Dass auf diese Weise die Zahl der Seitenaufrufe und Unique Users erhöht werden kann, steht außer Frage. Wichtig ist aber eine ganz andere Erkenntnis: Die Nachricht findet inzwischen den Nutzer, nicht umgekehrt. Jochen Wegner, Chefredakteur von „Focus Online“ formulierte im Branchendienst meedia.de: „Irgendwann werden wir den Punkt erreichen, an dem wir deutlich mehr Nutzer über alle möglichen Wege zu uns holen als über die Homepage.“

Info-Cockpit. Dieser Ansatz liegt auch einem neuen Demo-Modell für Webseiten mit journalistischen Inhalten zugrunde, den die Axel Springer Akademie entwickelt hat (siehe Grafik). Jede Nachricht, jedes Thema wird online in einer Art navigierbarem Info-Cockpit aufbereitet. Text ist dabei nur ein (gleichrangiger) Baustein von vielen – unerlässlich für den Teaser und den Einstieg in ein Thema, aber anschließend hat der Besucher der Seite die Chance, sich schon von Beginn an für eine andere Perspektive zu entscheiden, zum Beispiel für Video. Konsequent integriert wird das Social Web, denn kein Thema wird mehr exklusiv und losgelöst nur noch auf der eigenen Plattform behandelt werden können – non-lineares Erzählen bedeutet auch: Jedes Thema ist eine „developing story“ und zwar immer. Das macht im Modell der Axel Springer Akademie auch der Zeitstrahl (rechts oben in der Grafik) deutlich, der für Transparenz sorgt. Über diese Funktionalität kann jeder Besucher nachvollziehen, wie sich das Thema entwickelt hat, wann neue Fakten hinzukamen und möglicherweise falsche Angaben korrigiert werden mussten.

Neue Arbeitsabläufe. Anhand der Demo-Newssite (grafische Umsetzung: Markus Angermeier – kosmar, Berlin) lässt sich hervorragend illustrieren, dass die Auswirkungen auf journalistische Produktionsprozesse immens sind. Onlinejournalismus besteht nicht mehr länger darin, multimediale Beiboote zu Texten zu entwickeln, die per se für Print konzipiert worden sind. Onlinejournalismus baut ab jetzt Schiffe, die selbst schwimmen können – eine Eilmeldung kann als Speedboat in Twitter starten und entwickelt sich im neuen Online-Workflow zum multimedialen Luxusdampfer auf der eigenen Plattform, wie in der Grafik erkennbar – verlinkt mit dem Social Web und somit interaktiv und dynamisch angelegt.

Redaktionen der Zukunft werden also unabdingbar zu vernetzten Produktionseinheiten. Es entstehen neue Berufsbilder und die journalistische Qualifikation wird um mehrere Anforderungen erweitert.

Acht Thesen. Folgende konkrete Änderungen haben wir für den Journalismus definiert:

1. Online ist zentraler Ausgabekanal, Print nicht mehr Taktgeber: Das Bestücken der Info-Cockpits erfordert ein gleichberechtigtes Nebeneinander aller eingesetzten Medien. Der Ausgabekanal Internet bestimmt die Erzählform. Online ist keine digitale Kopie der Zeitung, Themen definieren sich nicht mehr allein über Texte.

2. Kein Redaktionsschluss mehr. Redaktionen der Zukunft sind Non-Stop-Dienste wie Feuerwehr und Ärzte, das bedingt neue Arbeitszeitmodelle. Diese fortlaufende News-Produktion führt in den Verlag 3.0: Tradierte Vertriebsstrukturen müssen modifiziert werden (Stichwort: „web to print“).

3. Erzähler wird Komponist: Digitales und non-lineares Storytelling bedeutet mehr: der Erzähler wird auch zum Komponisten und Dramaturgen, orchestriert die Geschichte mit dem gesamten Medien-Portfolio. Journalisten der Zukunft sind somit auch immer Produktentwickler.

4. Neues Berufsbild: Prodnewser. Prodnewser sind Produzenten, die auf bestimmte Ausgabekanäle spezialisiert sind, dabei aber über einen journalistischen Background verfügen (im analogen TV-Business entspricht dies z. B. der Rolle des Mediengestalters oder evtl. dem “New Media Producer“ aus dem Audiobereich)

5. Weniger Platz für Edelfedern. Autoren im klassischen Sinne als Meister der langen Texte wird es auch in Zukunft geben. Sie sind aber im obigen Verständnis genauso Spezialisten (in diesem Falle für den Ausgabekanal „Print“) wie ein Video- oder Foto-Produzent. Im künftigen Workflow von Redaktionen hat der Autor somit nicht mehr die zentrale Funktion, zumal neue, externe Autoren-Typen (z. B. über User Generated Content oder Weblogs) als Inhalte-Lieferanten hinzukommen.

6. Mehrwert durch Teamspirit. Die neue Arbeitsweise der Ausgabekanal-Spezialisten hat zur Konsequenz, dass die klassische Aufteilung in Ressorts (Politik, Sport, Kultur etc.) flexibler wird. Abhängig vom Thema sitzen der Video-Experte, der Flasher, der Texter, der Podcaster und der Prodnewser zusammen und regeln über mehrere Themen hinweg ihre Arbeitsabläufe für die jeweiligen Ausgabenkanäle.

7. Ausgabekanal bestimmt die Erzählform. In der Branche wird gern von einem „All-in-one-System“ gesprochen. Für die vielen unterschiedlichen Print-Produkte werden aber weiterhin hoch spezialisierte IT-Anwendungen benötigt. Wichtig ist ein alle Ausgaben-Kanäle klammerndes Informations-System, damit in einem zentralen Themenplan-Container aller verfügbarer Content (Text, Video, Audio, Bild, Grafik, User generated Content) von jedem Mitarbeiter transparent eingesehen und direkt weiter verarbeitet werden kann. Zudem ist für eine vernetzte Verwertungs-Strategie wie Syndication, Newsletter oder Dossiers der Zugriff auf eine Datenbank unerlässlich.

8. Fakten-Kontrolle wird anspruchsvoller. Angesicht global vernetzter Recherche sind neue Kontrollmechanismen vonnöten, mit deren Hilfe Informationen aus dem Netz (Social Web) solide verifiziert werden können. Online-Recherche, das Finden von Datenbanken außerhalb der üblichen Treffer bei Google, ist dabei ebenso relevant wie ein belastbares Recherche-Ergebnis im Microblogging-Dienst Twitter.

Qualität. Demzufolge stellt sich für das Berufsbild der Zukunft die Frage: Wie wird unter diesen neuen Produktionsabläufen der häufig missbrauchte Begriff des Qualitätsjournalismus definiert? Allein die sprachliche Brillanz des Textes wird als Benchmark nicht mehr ausreichen.

Digitales Storytelling erfordert eine Art Roadmap für jede Themenwolke, die von den Prodnewsern erstellt wird. Ist beispielsweise auf einem Video der Kern der Nachricht erfasst, muss man im Text nicht eigens Auszüge aus dem Ton-Dokument wiedergeben.

Qualität wird sich daran messen lassen müssen, wie intelligent jedes einzelne Medium in jedem spezialisierten Ausgabekanal verwendet worden ist.

Debatte:

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Erschienen in Ausgabe 12/2009 in der Rubrik „Special“ auf Seite 34 bis 35 Autor/en: Frank Diering und Ansgar Mayer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.