Aufklärung statt Polemik

Eine „Hexenjagd“ nannte Henryk M. Broder bei „Maybrit Illner“ die Berichterstattung über Thilo Sarrazin und sein Buch „Deutschland schafft sich ab“. Und erntete damit eine Schlagzeile in der „Welt“. Wieder einmal also hat die Polemik gepunktet. Wieder einmal erleben wir in diesen Tagen, wie die Republik von schrillen Tönen beherrscht wird. Wie auch immer man zu den Thesen von Thilo Sarrazin stehen mag – und dies hier ist nicht der Ort, über deren Sinn oder Unsinn zu richten -, die aufgeregte Diskussion macht auf drastische Weise auch deutlich, welche Aufgabe die Medien haben – besser gesagt, die Medien erfüllen sollten.

Die Aufgaben.

In seinem Bericht über die Pressekonferenz, bei der Thilo Sarrazzin am 30. August sein Buch vorstellte, beschreibt Holger Schmale in der „Frankfurter Rundschau“ auch die eigenen Zweifel und die seiner Kollegen: „Viele hier hadern mit sich selbst, jeder sieht ja, welchen Anteil die Medien an diesem Zirkus haben, den der Autor still, aber doch unübersehbar genießt … Ist er der Rassist, gar Antisemit, als der er vielen doch erscheint – wie kann man ihm dann ein solches Forum verschaffen?“ Am Ende kommt der Autor zu dem Schluss: „Manche sagen, das beste Mittel gegen sein Auftreten sei, ihn ins Leere laufen zu lassen, den Zirkus nicht mitzumachen. Das allerbeste Mittel aber ist noch immer, dem Fadenscheinigen, Dumpfen mit Geist und Humor zu begegnen. Einige junge Leute zeigen, wie es geht: Sie tragen Jacken mit dem Aufkleber:, Wir verteilen Intelligenzgene, gesponsert von Dr. Sarrazin.‘ Aus Glasgefäßen bieten sie bunte Smarties an.“

Aber mit Geist und Humor allein ist es nicht getan. Wenn im Internet die Foren überquellen von zustimmenden Äußerungen zu Sarrazins Thesen, sollte, muss das auch als Warnzeichen gedeutet werden für die wachsende Kluft zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung.

Da ist an sich nichts Neues. Aber wir Journalisten müssen uns die Frage stellen, ob wir angesichts der zweifellos drängenden Probleme nicht allzusehr in die Falle einer falsch verstandenen „Political Correctness“ tappen, unangenehme Wahrheiten bemänteln und so Provokateuren wie Thilo Sarrazin das Feld überlassen.

Die Aufgabe von Journalisten ist es, Probleme zu benennen. Statt ins Rathaus zur Pressekonferenz des Bildungsdezernenten sollten sich also Lokalreporter lieber öfter mal auf den Weg in die Schulen machen und sich die tatsächliche Situation vor Ort anschauen, mit Schülern, Lehrern und Eltern sprechen, sich deren Nöte und Ideen anhören und keinen Ankündigungsjournalismus aus der Obrigkeitswarte betreiben.

Statt Sprechblasen von Politikern jeder Couleur in Dauerschleife zu reproduzieren, sollten deren Aussagen und Ankündigungen analysiert und mit Fakten widerlegt oder bestätigt werden.

Statt den Fokus „nur“ auf Missstände zu richten, gilt es auch, Lösungsansätze, Initiativen, die als Vorbilder taugen, darzustellen.

Statt die Ängste in der Bevölkerung vor einem Verlust der eigenen, nationalen Identität mit rechtsgerichteten politischen Weltbildern gleichzusetzen, sollten solche Stimmungen ernst genommen und den Ursachen nachgegangen werden.

Statt die nationale Nabelschau zu bedienen, verdiente der Blick über den Tellerrand mehr mediale Aufmerksamkeit: Genannt seien hier nur die Bedingungen und Entwicklungen schon bei unseren europäischen Nachbarn (ein Stichwort: Flüchtlingsproblematik in Griechenland und Italien) und was diese für uns bedeuten.

Das passiert doch?

Sicher, aber viel zu wenig. Journalisten sollten dem Volk mehr „aufs Maul“ schauen. Das heißt noch lange nicht, dass sie danach reden müssen. Den richtigen Ton zu treffen, der Gehör findet, ohne Probleme gleich populistisch zu vereinfachen, ist schwer – aber eine originäre journalistische Aufgabe. Und auch das: Wer den Populisten nicht das Feld überlassen will, muss es besser wissen, über mehr Sachverstand und Kenntnisse verfügen als diese. Guter Journalismus muss nicht nur komplizierte und emotional aufgeladene Sachverhalte erklären, er muss kritische Fragen stellen, aufklären und einordnen.

„Die Polemik wird verschwinden, die Probleme werden bleiben“, schreibt Andrian Kreye in der „Süddeutschen“ über“Sarrazins Dreisatz“. Damit ist auch die Aufgabe für Journalisten benannt: Aufzuklären statt Aufgeregtheiten zu reproduzieren.

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 09/2010 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 4. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.