Ganz nah dran?

„Eigentlich ist es die Stunde der Regionalzeitungen“, sagt jemand aus einer Stuttgarter Redaktion. Tatsächlich scheint die Situation im Streit um Stuttgart 21 ideal, um genau das unter Beweis zu stellen, was Qualitätsjournalismus vor Ort sein sollte: engagiert, kritisch, aufklärend, bürgernah. Und das in einer Situation, in der die Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft derart kläglich versagen in der Vermittlung eines Prozesses, der doch schon seit über 15 Jahren andauert.

15 Jahre:

Es lohnt der Blick zurück auf die Bedingungen, die damals zu Beginn des Projektes herrschten: Erinnert sich noch jemand an BTX? Im Jahr 1995 wurde gerade erst BTXplus inklusive Internetzugang eingeführt, gerade einmal knapp zwei Millionen Internetanschlüsse wurden in Deutschland gezählt. Heute sind es dagegen bald allein 26 Millionen Breitbandanschlüsse.

Nackte Zahlen, die zunächst nichts mit den Milliarden-Summen von Stuttgart 21 zu tun haben und doch deutlich machen: Ein „Weiter so“ in der tradierten Kommunikation kann es nicht mehr geben – weder bei Politikern, die sich mehr in Ausschüssen statt in Bürgerforen erklären, noch in Medien, die mehr aus dem Rathaus als vom Marktplatz berichten. Und dabei beide eines völlig verkennen: die Emotionen, die heute über die multimediale Vernetzung ganz neue Kräfte entfalten können.

Eigentlich liegt gerade darin der Vorteil und die Chance der Regionalzeitung: Wer, wenn nicht die Lokaljournalisten, ist näher dran an der Stimmungslage, an den Sorgen und Nöten der Bevölkerung – besser gesagt, könnte dran sein? Doch: „Das Thema polarisiert derart, dass die Leute andere Meinungen nicht mehr ertragen“, berichtet Hans-Jörg Zürn, Verlagsleiter und Chefredakteur der „Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung“ über die aufgeheizte Stimmung in der Leserschaft (S. 24f.).

Die Redaktionen in der Region Stuttgart erleben gerade eine bisher nicht gekannte Wucht an Leserkritiken, Onlinekommentaren – bis hin zu Abokündigungen. Mal mehr, mal weniger selbst verschuldet, geraten sie zwischen die Mühlsteine der Streitparteien. Und alle suchen nach Auswegen aus dem Dilemma. Mit Sachlichkeit ist es da nicht getan. Die Debatte hat längst Züge der Hysterie angenommen. Die Argumentation muss auch die Emotionen erreichen. „Siege werden nur über die Bedienungstaste Leidenschaft gewonnen, nicht mit dem Hinweis, dass alles rechtsstaatlich zustande gekommen ist“, mahnt Anton Hunger, der langjährige Porsche-Kommunikationschef, nicht nur in Richtung Politiker und PR-Profis (Seite 48).

… und die Konsequenzen?

Das Milliardenprojekt des Stuttgarter Bahnhofs mag vielleicht singulär sein, der Bürgerprotest ist es längst nicht mehr. Was in Stuttgart gerade passiert, lässt sich überall im Land beobachten, wo auch kleinere Maßstäbe angelegt werden.

In Heddesheim beispielsweise, wo die Sorgen und Ängste der Bevölkerung wegen eines geplanten Logistikzentrums in den alteingesessenen lokalen Medien lange kein ausreichendes Forum fanden – bis sich der Protest in Hardy Prothmanns Heddesheim-Blog artikulierte. Und sich so dort als ernstzunehmendes lokales Alternativmedium entwickeln konnte.

Immerhin: In Stuttgart steigen die Einzelverkäufe der Zeitungen wie die Zugriffe auf die Internetseiten der örtlichen Blätter. Und Joachim Dorfs, Chefredakteur der heftig kritisierten „Stuttgarter Zeitung“, sagt: „Ich bin sicher, dass der Umgang mit den Lesern intensiver wird, das ist das Positive an der Geschichte.“ Bleibt zu hoffen, dass das nicht nur ein frommer Wunsch ist.

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Die Kehrseite

von „medium magazin“ trägt schon traditionell einmal im Jahr ein eigenes Cover: Den Titel der „Journalistin“. Passend zu unserem aktuellen Titel-Thema „Pro & Contra Quote im Journalismus“ veröffentlichte die UNO am 21. Oktober ihren Bericht zur Gleichstellung. Darin heißt es unter anderem: Frauen sind weltweit in Entscheidungspositionen noch immer deutlich unterrepräsentiert, nur 13 der 500 größten Unternehmen werden von einer Frau geleitet.

Das sieht in Medienunternehmen hierzulande nicht viel anders aus, wenn man von den Eigentümerinnen Liz Mohn und Friede Springer mal absieht und den Blick in die Exekutiv-Etagen lenkt, vor allem im Zeitungsbereich: Wenn Tanja Kurz zum 1.11. Chefredakteurin des „Haller Tageblatt“ wird (s. Fragebogen S. 54), sind es gerade mal sechs Frauen an der Spitze einer Tageszeitung hierzulande. Den Berichten zur Stimmungslage in der Frauenfrage haben wir das ganze Special gewidmet.

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Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 4. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.