„Was für ein Chef!“

Erich Böhme war für mich immer: der Chef. Fast zwanzig Jahre lang. Erst, Anfang der Siebziger, als Leiter des Bonner Büros, dann als Chefredakteur des „Spiegel“.

Aber was für ein Chef. Als Vorgesetzter war er stets einer, dem wir, ob Redakteure oder Ressortleiter, auf Augenhöhe begegnen konnten; keiner, der von oben herab regierte. Zugleich einer, den man im besten Wortsinne eine Autorität nennen darf: hoch angesehen als Journalist, der virtuos „Spiegel“-Geschichten recherchieren und erzählen konnte; immer respektiert als Führungskraft, mit unbestechlichem Urteil und der nie angezweifelten Fähigkeit, eine komplexe journalistische Organisation souverän zu managen. Er war nicht zuletzt einer, von dem sich jene, die, wie ich, auf Führungspositionen wechselten, eine Menge abgucken konnten. Ein Vorbild, mit Qualitäten, die heute und in Zukunft noch genau so gewichtig sind für unsere Zunft, wie sie es in den Siebzigern und Achtzigern waren.

Erich Böhme

* bewies politische Standfestigkeit, ohne sich parteipolitisch vereinnahmen zu lassen. „DER Spiegel“ unter seiner Leitung stand in den Siebzigern fest zur sozialliberalen Koalition – und war dennoch einer der schärfsten Kritiker der Kabinette von Brandt und Schmidt. Die Kohl-Regierung sah in dem Magazin das journalistische Feindbild schlechthin.

* war ein Meister im Ausbalancieren von Nähe und Distanz zu seinen Informanten. Mit seinem Kommunikationstalent schuf er sich unzählige Verbindungen, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kulturszene. Aber wenn es darauf ankam, verschonte er keinen. Mit Friedrich Karl Flick hatte er gemeinsam Urlaub gemacht, und dennoch war sein Magazin später Chefaufklärer in der Flick-Affäre.

* galt stets als Garant für innere Pressefreiheit. Ein Nachrichtenmagazin wie der „Spiegel“ braucht eine Linie, aber es braucht auch eine Bandbreite an Meinungen, damit sich die Talente entfalten können. Beispielhaft: Die von mir geleitete Wirtschaftsredaktion zeigte sich schon in den Siebzigern und Achtzigern umweltbewusst und wachstumskritisch. Der Diplom-Volkswirt Böhme war, wie der damalige politische Mainstream, wenig angetan von diesen grünen und systemkritischen Ansätzen. Aber er war liberal genug, uns machen zu lassen.

* praktizierte die hohe Schule der Menschenführung. Kritik ist in einem journalistischen Betrieb unvermeidlich, erst recht in einem mit dem hohen Anspruch des „Spiegel“. Aber Böhme achtete immer darauf, dass er mit einem kritischen Urteil nicht vernichtete. Wenn eine Geschichte misslungen war, schrieb er das nicht auf die Druckfahne, die durchs ganze Haus lief, sondern rief den Verantwortlichen an. In sanftem Hessisch erfuhr der dann: „Ei, des is ein bisschen lieblos geschriwwe“, und wusste mit dieser Formel, dass er noch kräftig nachbessern musste.

* schirmte die Redaktion gegen Attacken von außerhalb ab, ob die aus dem Verlag kamen oder von Externen. Böhme war nie einer, der sich, wie mancher seiner Kollegen, schnell von der Truppe absetzt, wenn das Feuer mal heftiger wird. Jeder Redakteur konnte sich darauf verlassen, dass dieser Chefredakteur zu ihm stand, so lange es eben ging – eine ganz wichtige Voraussetzung, um Teamgeist und Wir-Gefühl zu schaffen und zu erhalten.

Erich Böhme, ein Übervater, verklärt nach dem Grundsatz „nihil nisi bene de mortiis“, nur Gutes über Tote? Natürlich war der Mann nicht vollkommen. Aber seine Fehler wiegen wenig im Vergleich zu den Aktiva, die dieser Redaktionsleiter für mich einbrachte. Sicher, er war begünstigt durch die Zeitläufte – der „Spiegel“ besaß ein Quasi-Monopol, die Anzeigen waren manchmal kaum unterzubringen, Geld gab es mehr als reichlich. Aber das ändert nichts am Urteil: Erich Böhme war der beste Chefredakteur, der den „Spiegel“ je führte. Und er bleibt ein Vorbild für unsere Profession.

Der Autor: Wolfgang Kaden war von 1968 bis 1994 beim „Spiegel“, u. a. Ressortchef Wirtschaft und drei Jahre Chefredakteur (mit H. W. Kilz) danach bis 2003 Chefredakteur des „manager magazins“.

Erschienen in Ausgabe 01+02/2010 in der Rubrik „Rubriken & Kolumnen“ auf Seite 63 bis 63. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.