Wechseljahre

Martin Enders* ist demnächst zu einem Ausstand eingeladen, doch richtig freuen mag er sich auf die Abschiedsfeier im Funkhaus nicht. Sein wichtigster Auftraggeber geht in Rente, und ob er mit dessen Nachfolgerin ebenso gut klar kommt, ist ungewiss. Es wird gar gemunkelt, die ganze Sendung sei von Einstellung bedroht. 15 Jahre lang hat Enders im Schnitt zwei Beiträge pro Monat produziert. „Das Honorar war eine sichere Bank, das reichte schon mal für die Büromiete“, erinnert sich der freie Journalist. Im Rückblick hält er es für einen Fehler, sich ein „warmes Plätzchen“ gesucht und auf einige wenige Redakteure verlassen zu haben – die meisten davon ein bisschen älter als er selbst. „Wir sind zusammen grau geworden“, sagt der 53-Jährige. Er weiß noch nicht, wie es weiter geht, wenn wie befürchtet die regelmäßigen Jobs wegbrechen. „Vielleicht gehe ich zurück in die PR, das habe ich schon als Berufsanfänger gemacht, um mich über Wasser zu halten.“

Auch Bettina Stelzer*, 49, denkt über einen Wechsel ihrer beruflichen Perspektive nach. Sie überlegt „ernsthaft, doch noch das zu versuchen, was ich einst studiert habe: Lehrerin“. Sie ist spezialisiert auf ambitionierte Fernsehdokumentationen, hat sogar in Afrika und Südamerika gedreht. „Ich erlebe jetzt häufiger, dass meine Vorschläge sofort abgelehnt werden oder in die unterste Ablage wandern.“ Ganze Sendereihen, für die sie früher gearbeitet hat, wurden ersatzlos gestrichen. In anderen Redaktionen wechseln häufig die Ansprechpartner. „Dauernd neue Gesichter, das liegt mir nicht.“ Selbstzweifel plagen sie, „ob ich zu alt für das werde, was jetzt noch gefragt ist“. Sie reagiert irritiert, wenn ihr ein junger festangestellter Kollege nach einer flüchtigen Internet-Recherche mitteilt, das sei „doch kein Thema“. Sie hadert mit einer „Welt der Zitate“, in der „Langzeitbeobachtung offenbar nicht interessiert“, und kritisiert den „Trend zur Skandalisierung“ gerade in der Auslandsberichterstattung. Technische Neuerungen wie digitale Minikameras haben nach ihrem Eindruck dazu geführt, dass deutlich mehr Vorleistungen in der Akquisephase erwartet werden. Eine längere TV-Reportage sei heute kaum noch zu verkaufen, „wenn nicht schon gedrehtes Material vorliegt“.

Frank Wiedefeld* ist erst Mitte 40 und hat dennoch bereits „die Nase voll von den jungen Besserwissern“. Als „freier Unternehmer“ hat er stets Wert darauf gelegt, von keinem Auftraggeber allzu sehr abhängig zu sein – und sich im Laufe der Jahre einen umfangreichen „Bauchladen“ zugelegt. Er schreibt überwiegend für Zeitungen und Zeitschriften, dazu kommen gelegentlich Texte für Organisationen sowie das ein oder andere Rundfunkfeature. „Radio und Fernsehen sind inhaltlich flacher geworden“, schimpft er, das gelte „leider auch für die Öffentlich-Rechtlichen“. „Permanentes Gutdraufsein“ und „abgeschmackte Scherze“ gehen ihm auf die Nerven. Mit einigen Kunden in den Printmedien hadert Wiedefeld ebenso. „Die Kommunikationssitten verfallen“: Mails werden nicht beantwortet, Bitten um Rückrufe ignoriert, Manuskripte einfach nicht gedruckt. Er wolle „auf Augenhöhe kooperieren“ und verliere die „Lust, das sportlich zu nehmen“. Ihn ärgert, von „gleichaltrigen Ressortleitern zu Veränderungen meiner Arbeitsweise gezwungen zu werden“. Neben verletztem Stolz steckt dahinter auch, das ist ihm durchaus bewusst, der Neid auf die Macht. „Wenn ich innerhalb meines alten Verlagshauses, wo ich einst volontiert habe, den Marsch durch die Institution angetreten hätte, trüge ich jetzt Personalverantwortung – ich würde andere bewerten, statt bewertet zu werden.“

Generation „Dauerfreier“. Drei Beispiele für den Alltag im freien Journalismus, für Wendezeitstimmung in der zweiten Hälfte der Berufsbiografie. Ein Phänomen ohne große Tradition: Selbstständiges journalistisches Arbeiten war früher eine Art Übergangstätigkeit in den ersten Berufsjahren, ein unfreiwilliges Provisorium, bevor man sich beim Hauptauftraggeber einklagte oder bei Stellenangeboten zugriff. Solche Optionen sind seltener geworden – oder auch gar nicht erwünscht. In gut zehn Jahren erreicht eine ganze Generation von „Dauerfreien“ das Rentenalter – abgesichert durch die seit 1983 bestehende Künstlersozialkasse, unterstützt durch von den Verwertungsgesellschaften bezuschusste private Kranken- oder Rentenversicherungen, mehr als früher beraten und unterstützt von den Journalistengewerkschaften, alimentiert durch lange Zeit relativ gute Absatzmöglichkeiten. Das alles hat die persönliche Lebensplanung erleichtert, zum Teil eine langfristige Existenz als Freiberufler überhaupt erst ermöglicht. Doch was nützt es, wenn die Aufträge mit steigendem Alter weniger werden oder ganz ausbleiben? Was gibt es für Alternativen, wenn attraktive Stellen Mangelware sind, der Seitenwechsel auf vergleichbarem Niveau versperrt ist?

Nach einer Studie des Zentrums für Sozialpolitik an der Universität Bremen arbeiten in Deutschland gut 3,5 Millionen Selbstständige. Ein Drittel von ihnen sind Frauen; die Hälfte ist älter als 45 Jahre, 12 Prozent haben die 60 überschritten. Freiberufler arbeiten länger als Angestellte – im Lebensverlauf, aber auch pro Woche: im Schnitt 49 Stunden. Einen „sorglosen Umgang mit Gesundheit“ attestiert ihnen die Bremer Untersuchung. Dieser drückt sich auch darin aus, dass mehr als ein Sechstel an allen Wochentagen (einschließlich Sonntag) arbeitet und dass sich freie Mitarbeiter „in Kulturberufen“ maximal 20 Tage Jahresurlaub gönnen. Zwar wurden diese Daten nicht nur unter JournalistInnen im engeren Sinne erhoben, doch Gründerzeiten und Aufbruchstimmung sind in der einst boomenden Medienbranche definitiv vorbei.

Stiländerung. Beileibe nicht jedes Problem, mit dem freie JournalistInnen derzeit konfrontiert sind, lässt sich auf ihr Alter zurückführen. Für die nachwachsende Generation ist der berufliche Einstieg oft noch schwieriger, und viele müssen sich mit Dumping-Honoraren zufrieden geben. Die Konkurrenz wächst, allzu viele Wettbewerber buhlen um einen eher schrumpfenden Auftragskuchen. Die Zeitungsverlage sparen, viele Online-Tätigkeiten sind miserabel bezahlt. In den Radio- und Fernsehsendern der ARD, für die Veteranen früher eine verlässliche Geldquelle, sind längere Beiträge und gründlich recherchierte Hintergrundberichte weniger gefragt.

Dennoch besteht für die Älteren kein Anlass zu jammern – oder gar arrogant herabzusehen auf die Jüngeren. Diese mögen ganz andere Vorstellungen und Vorlieben haben, darin aber drückt sich schlicht ein Wandel des beruflichen Selbstverständnisses aus. „Die jungen Leute, die ich in den Redaktionen treffe, finde ich manchmal toll!“, gibt Bettina Stelzer selbstkritisch zu. Die formale Qualifikation der Newcomer ist oft hervorragend, und sie sind näher dran „am Puls der Zeit“ – das glauben zumindest Personalverantwortliche und Programm-Macher, die sich an der „werberelevanten“ Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen orientieren.

Das hat Konsequenzen für Themenauswahl und Präsentationsstile. Ein Radiofeature, das sich nicht als akustisches Feuerwerk versteht; der ganzseitige Zeitungsessay, der eine Kernthese in anspruchsvoller, aber dennoch verständlicher Sprache entwickelt; der ruhige Filmbeitrag, der bewusst auf jede Action verzichtet: All das ist einer Kundschaft, die mit der Schnelllebigkeit von Internet, Twittern und Formatradio aufgewachsen ist, angeblich nicht mehr zuzumuten. Wer sich dem Infotainment, Häppchen- oder Servicejournalismus verweigert, muss in (manchmal wenig imagefördernde) Randbereiche ausweichen oder gleich ganz den Beruf wechseln.

Erfahrungs-Werte. Mit Unsicherheit haben freie JournalistInnen schon immer gelebt. Doch auch für S
elbstständige war es in der Vergangenheit durchaus machbar, in der zweiten Hälfte ihres beruflichen Weges die Früchte früherer Anstrengungen zu genießen. Das ist heute schwierig geworden, weil Kontakte und Erfahrungswissen viel schneller entwertet sind. Einstige Mentoren haben die Redaktionen verlassen, andere sitzen resigniert die fehlenden Jahre bis zur Rente ab.

Auch mit Mitte 50 oder gar 60 Jahren ist es für Freie die pure Überlebensnotwendigkeit, sich in (selbst finanzierten) Weiterbildungen mit den veränderten Anforderungen an die Präsentation journalistischer Inhalte zu beschäftigen. Die negative Variante ist der Versuch, einfach „abzuschalten“, sich unengagiert „durchzuhangeln“ und zu hoffen, dass es möglichst wenige merken. Diese „innere Kündigung“ mag als Rezept für manche Festangestellte noch taugen. Als Strategie für FreiberuflerInnen ist sie gänzlich unbrauchbar – ihre Anwendung führt auf direktem Weg zu roten Zahlen auf dem Girokonto.

Die Medienbranche hat sich stets in besonderem Maße als „junge Branche“ verstanden. Die Ausnahme von dieser Regel bildeten und bilden ein paar grau melierte Herren, die ihre führende Position in einem Leitmedium, ihre vielfältigen Netzwerke und ihre Fähigkeit der abgeklärten Analyse zur eigenen Profilierung nutzen können. Abgesehen von diesen Edelfedern wird „Altersweisheit“ unter Journalisten – im Gegensatz etwa zum Berufsbild des Richters, des Coach oder des Therapeuten – nicht sonderlich wertgeschätzt. „Für jeden Redakteur, den ich das erste Mal kontaktiere, bin ich erst mal ein unbeschriebenes Blatt“, berichtet Frank Wiedefeld. „Woher soll der wissen, dass ich schon drei Journalistenpreise bekommen habe?“ Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung liegen weit auseinander: Der „erfahrene Freie“ hat bei jedem Angebot seine berufliche Lebensleistung im Kopf – für sein Gegenüber ist er nur einer von zahlreichen lästigen Anrufern, ein weiterer drängender Nachfrager, der Schreibtisch und Mailbox verstopft.

So besehen waren „die Medien“ immer schon ein besonders extremes Beispiel für den Jugendkult in der Arbeitswelt. Die viel beklagte Altersdiskriminierung, behaupten Arbeitsmarktexperten, soll bald der Vergangenheit angehören. Die Methode, „neues Wissen und neue Technologien über neue, gut ausgebildete Mitarbeiter zu beschaffen“, werde nicht mehr lange durchhaltbar sein, prophezeit Hans-Jörg Bullinger vom Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation: „Wir verbinden Einfallsreichtum, Innovation, Kreativität oder Risikobereitschaft automatisch mit einem niedrigen Lebensalter.“ Aber es sei keineswegs belegt, dass „Ältere sich nicht weiter entwickeln könnten“. Häufig, beobachtet Bullinger, fehle schlicht die berufliche Perspektive. Es komme in den Unternehmen entscheidend darauf an, Ältere „stärker zu motivieren“.

Verlage oder Rundfunkanstalten können sich wegen beamtenähnlicher Arbeitsverhältnisse, langer Kündigungsfristen und hoher Abfindungen nicht einfach von älteren Festangestellten trennen – selbst wenn sie sich dies manchmal wünschen. Nichts aber hindert Vorgesetzte und Programmplaner daran, auf ältere Freiberufler zu verzichten, wenn deren Angebote nicht mehr in ein „relaunchtes“ Blatt oder „reformiertes“ Sendeschema passen. Eine solide Position in der Vergangenheit ist für Selbstständige keine Garantie auf gleichwertige Weiterbeschäftigung in der Gegenwart. „Sei vernünftig, schlag dir aus dem Kopf, hier mit 55 noch zu moderieren“, legt ein Redakteur der einst „programmprägenden“ Fernseh-Freien nahe – und versteht das als gut gemeinten Ratschlag. Ein Vorreiter der „silbernen Transformation“, die Trendforscher für die Arbeitswelt der Zukunft voraussagen, wird der Journalismus so wohl nicht werden.

* Namen geändert

Erschienen in Ausgabe 01+02/2010 in der Rubrik „Leben“ auf Seite 56 bis 59 Autor/en: Thomas Gesterkamp. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.