Die Nachrichtenfabrik

Wenn Chefredakteur Volker Wasmuth erklären soll, was sich hinter dem kryptischen Begriff der vielbeschworenen „Synergie“ verbirgt, bezieht er sich auf Ereignisse wie jenes im Februar dieses Jahres. Damals begann die Woche mit einer Katastrophe – die große Bestürzung auslöste, bei n-tv darüber hinaus aber auch zu neuen Abläufen führte. Die erste Eilmeldung an diesem Montagmorgen kommt von Reuters: „Zugunglück in Belgien – 20 Tote.“ Im Nordwesten von Köln greift ein Mitarbeiter des News-Senders zum Hörer. Neun Kilometer entfernt, im Westen der Domstadt, nimmt jemand vom Planungsdesk der RTL-Gruppe den Hörer ab. Die entscheidende Frage: Wer fährt hin? Nach kurzem Zuruf wird Martin Roxel alarmiert. Er arbeitet für das Regionalbüro RTL-West und lässt alles stehen und liegen, macht sich sofort mit einem Satelliten-Übertragungswagen auf den Weg. Das Besondere: Der Reporter arbeitet an diesem Tag zunächst gar nicht für die Nachrichtensendungen von RTL, sondern stellt sich für den Nachrichtensender der Gruppe vor die Kamera. Erst drei Stunden später löst ihn Marie Görz als Korrespondentin von n-tv ab: Weil RTL-Mann Roxel auch für ihren Sender die Stellung hielt, konnte sie noch einen Koffer packen und sich auf einen mehrtägigen Aufenthalt vorbereiten. Schließlich wird sie Material speziell für die Sendungen des Konzern-Flaggschiffs drehen.

„Früher hätten wir das noch getrennt voneinander organisieren müssen – und damit nicht nur zwei Teams vor Ort gehabt, sondern auch zwei Übertragungswagen“, sagt n-tv-Chef Wasmuth. „Das sparen wir uns jetzt.“

Das geht, weil die Mediengruppe RTL-Deutschland, zu der auch VOX und RTL2 gehören, ihre Sender nicht mehr völlig getrennt voneinander führt, sondern verstärkt auf Kooperationen setzt, das Geschäft mit den Nachrichten inklusive. Ein eindrucksvolles, weil für alle Zuschauer offensichtliches Beispiel war das Exklusiv-Interview von Antonia Rados mit Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad, das nicht bloß auf RTL zu sehen war, sondern per Synergie auf allen Kanälen in unterschiedlichen Längen ausgestrahlt wurde.

Seit 2008 hat sich in der Sendergruppe die Gesellschaft infoNetwork ausgebildet – bisher ohne Aufschrei und Proteste, was wiederum darauf hindeutet, dass die Mitarbeiter den Weg mitgehen. InfoNetwork fasst nahezu alle Kollegen zusammen, die Informationsfernsehen machen. Rund 600 sind es inzwischen – Autoren und Techniker, von „RTL Aktuell“ über die „RTL2 News“ und n-tv bis hin zu den Boulevardmagazinen „Explosiv“ und „Extra“. Nur wenige wurden ausgenommen, etwa RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel, der Verantwortung für die Inhalte des Senders trägt und deshalb auch künftig dort angestellt sein muss.

Die Sender unterhalten seit zwei Jahren einen gemeinsamen Fuhrpark, disponieren zentral Kameratechnik und Personal, von Cuttern und Tonassistenten bis hin zu Reportern. Hier wurde zusammengelegt, was sich zusammenlegen lässt. Von Juni an ziehen alle Sender der RTL-Gruppe zudem in ein neues Sendegelände an der Kölner Messe. Dann sollen auch Studios gemeinsam betrieben werden – letztlich, um zu sparen, auch wenn die Verantwortlichen lieber von Effizienz sprechen.

Nun sind Synergien bei TV-Nachrichten nichts Neues. Wie weit das gehen kann, zeigt ProSiebenSat.1. Dort produziert der News-Kanal N24 nicht nur ein eigenes Programm, sondern liefert auch komplette Sendungen für ProSieben, Sat.1 und Kabel Eins. Im Unterscheid zur RTL-Gruppe zeigen sie dort aber meist dieselben Beiträge auf allen Kanälen. Kloeppel spricht bei RTL deshalb von einem Mischmodell, bei dem zwar fast alle Mitarbeiter in einer Firma untergebracht wurden, für jede Sendung aber weiter Verantwortliche eigene Entscheidungen treffen: „So behält jedes Format sein eigenes Gesicht und wird nicht austauschbar“, sagt er. Praktisch heißt das: Die Redaktionen von „RTL Aktuell“ über das „Nachtjournal“ bis hin zu den „Punkt“-Sendungen um 6, 9 und 12 Uhr überlegen sich nach wie vor unabhängig voneinander, welche Themen sie in ihren Formaten unterbringen wollen, mit welcher Gewichtung und welchen Aufhängern. „Das kreative Potential bleibt so in den Redaktionen“, erklärt infoNetwork-Chef Michael Wulf. Eine Entscheidung, die sich bisher ausgezahlt hat. Denn anders als die Sendungen auf Sat.1 & Co. spielen etwa die RTL-Nachrichten mit eigenen Schwerpunkten bei der Gunst der Zuschauer in der öffentlich-rechtlichen Liga mit (siehe Kasten).

Während in der RTL-Gruppe die einzelnen Sendungen also auch künftig von eigenen Redaktionen geplant werden, wurde die Umsetzung weitgehend konzentriert: Die infoNetwork arbeitet als 100-prozentige Tochter der Mediengruppe allen aktuellen Sendungen zu. Ein Newsdesk sichtet die Nachrichtenlage und disponiert Reporter und Teams aus zentralen Pools – gedreht und produziert wird auf Bestellung der Redaktionen. Der Desk sammelt ihre Anfragen und bündelt so viele Aufträge an Reporter und Techniker wie möglich. Das soll helfen, Doppelinterviews ebenso zu vermeiden wie die parallele Produktion von Nachrichtenüberblicken mit weitgehend identischen Inhalten. Wie Kloeppel und Wulf sieht auch der Chefredakteur von n-tv in diesem Modell keinen Einheitsbrei heranreifen. „Seit wir die Nachrichten-Ressourcen aller Sender bündeln, haben wir an Möglichkeiten gewonnen“, sagt Wasmuth. Er lobt, dass durch die zentrale Produktion wiederkehrender Elemente an anderer Stelle Ressourcen frei würden. Beispiel Ausland: RTL hat sein USA-Studio in New York, n-tv in Washington. Beide sind noch da, arbeiten jetzt aber für alle Sender der Gruppe. „Damit wird das Programm insgesamt reichhaltiger“, sagt Wasmuth.

Das klappt, weil heute alle Mitarbeiter nicht mehr nur für einen Sender arbeiten, sondern auch für die anderen parat stehen. Dafür hat die Mediengruppe die bisher bei den Sendern angestellten Redakteure in die neue infoNetwork überführt – bei gleichen Vertragsbedingungen und Beibehaltung der Betriebszugehörigkeit. Einige von ihnen arbeiten jetzt über Monate fest in der Planungsredaktion einer Sendung, andere in einem der Autorenpools mal für den einen, mal für den anderen Sender.

„Wir poolen vor allem die Teams für die Außendrehs und das gesamte Material“, erklärt infoNetwork-Chef Wulf. Was für eine Sendung gedreht wird, ist auch für die anderen zu haben, weil neben dem Agentur- auch das Rohmaterial auf zentralen Servern einläuft. „So kann dasselbe Material immer wieder neu angefasst und mit eigenen Drehs ergänzt werden“, sagt Wulf. Ein Reporter des „Nachtjournal“ könne so ein Stück von „RTL Aktuell“ oder n-tv nehmen, umbauen und mit eigenen Aspekten ergänzen – und dabei etwa einem harten nachrichtlichen Stück mit Stimmen von Politikern die Reaktionen eines Betroffenen entgegenhalten.

Um beim Einholen von O-Tönen Doppelarbeit zu vermeiden, setzt der Desk von infoNetwork eine Software ein, in der die Planer sehen, welche Teams und Reporter wann und wo im Einsatz sind – über alle Redaktionen hinweg. „Damit können wir die Auslastung optimieren und Reisekosten sparen, weil wir kleine Zudrehs auf dem Weg zu einem anderen Termin erledigen lassen können“, sagt Wulf. Mit dieser vernetzten Arbeitsweise sparten alle Zeit und Geld und hätten „trotzdem weiter die Möglichkeit, eigene Ideen umzusetzen“. Wulf wirbt für diese Variante, die jedoch zweifellos weniger Vielfalt bietet als die klassische Struktur mit strikt getrennt geführten Sendern. Bei RTL soll die Übernahme kompletter Beiträge für alle Sendungen jedenfalls die Ausnahme bleiben, wie alle Beteiligten beteuern. Außerdem hat die Synergie in der RTL-Mediengruppe Grenzen. Während etwa Sport- und Wettermeldungen bereits von einer Zentralredaktion geliefert, aber zumindest noch von den einzelnen Sendern individuell präsentiert werden, leistet sich n-tv eine Wirtschaftsredakt
ion von 25 Mann. „Wir erhalten uns so unser Gesicht, unseren Markenkern“, sagt Wasmuth.

Mit dem Aufbau der infoNetwork hat RTL seine bisher streng getrennt arbeitenden aktuellen Sendungen auf moderne Schienen gesetzt. Jetzt ist organisatorisch wie technisch möglich, sowohl Material als auch Personal unkompliziert zu tauschen. Kloeppel sagt dazu unter anderem: „infoNetwork bietet unseren Mitarbeitern die Möglichkeit, ohne großen Aufwand und Formalitäten auch kurzfristig etwas anderes auszuprobieren und die Redaktionen zu wechseln.“

Nur birgt dieses Modell nicht nur Vorteile, sondern auch eine Gefahr. Die Frage ist nämlich, wie lange RTL angesichts der modernen Produktionsweise wohl noch die bisherige harte Trennung der Redaktionen aufrechterhalten wird. Wer jetzt mit dem Rotstift an die Informationsprogramme gehen will, hat es verdammt einfach: Sehr leicht ließe sich beispielsweise die Parallelstruktur in den Redaktionen streichen, die bisher noch Tag für Tag eigenständige Sendungen entwickeln.

Die deutsche RTL-Mediengruppe (RTL, VOX, RTL2, n-tv, SuperRTL) hat Anfang 2008 die 100-prozentige Tochtergesellschaft infoNetwork gegründet. Aufgebaut hat sie Geschäftsführer Michael Wulf. Für infoNetwork arbeiten inzwischen etwa 600 Mitarbeiter. Das sind fast alle Redakteure und Techniker, die in der Sendergruppe Nachrichten und Magazine produzieren. Nur wenige sind noch direkt bei RTL & Co. angestellt, darunter Verantwortungsträger wie RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel und sein Kollege Volker Wasmuth, Chefredakteur bei n-tv. Ziel der infoNetwork ist es, in der Gruppe Doppelarbeit zu vermeiden und Reporter flexibel einzusetzen.

Anders als bei ProSiebenSat.1, wo die Redaktion des Nachrichtensenders N24 auch die News-Sendungen für die drei Vollprogramme der Gruppe komplett produziert, sind die einzelnen Sendungen der RTL-Gruppe in ihrer Themenauswahl und -gewichtung nach wie vor völlig unabhängig vom zentralen Dienstleister. infoNetwork arbeitet ihnen auf Bestellung zu. Die so produzierte Hauptnachrichtensendung der Gruppe „RTL Aktuell“ spielt bei der Gunst der Zuschauer seit Jahren in der Liga von ARD und ZDF mit. So sahen die „Tagesschau“ im Jahr 2009 im Schnitt 8,86 Millionen Zuschauer, „heute“ 4,02 Millionen, „RTL Aktuell“ 3,79 Millionen – ein Wert, den die News der ProSiebenSat.1-Sender nicht einmal zusammen erreichten.

Erschienen in Ausgabe 04+05/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 54 bis 57. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.