„Wir nennen es Arbyte“

Als ich vor neun Jahren anfing, den „Perlentaucher“ zu lesen, wurde mir schnell die neue Qualität klar, die dieser Netzdienst liefert: Er schenkt einem Lebenszeit.

Als Österreicher kenne ich den klassischen Zugang zur Tagespresse aus dem Kaffeehaus. Da es zu teuer wäre, sich mehrere Zeitungen zu kaufen, bedient man sich der im Kaffeehaus ausliegenden Exemplare und bezahlt dafür ein bißchen mehr für die Melange. In den guten Kaffeehäusern gab es übrigens einen analogen Vorläufer von Google. Wenn man bei der Zeitungslektüre auf einen Sachverhalt gestoßen war, zu dem man mehr wissen wollte, konnte man den Oberkellner fragen. Der brachte dann ein griffbereites Konversationslexikon, auf der interessierenden Seite aufgeschlagen, und daneben ein Glas frisches Leitungswasser auf dem Tablett.

Schlüsselfragen. 2002 kam mit Google News die maschinelle Zusammenfassung von Nachrichten. Auch wenn ich kein Nachrichtenjournalist bin, stellte sich für mich doch die Frage: Was kann ich, das die Maschine nicht kann? Was automatisierbar ist, wird automatisiert werden, das war klar. Aber was von dieser neuen Qualität des Aggregierens, des Zusammenführens und Verbindens von digitalen Informationen, kann ich für mich reklamieren? Ich halte das für eine der Schlüsselfragen, die nicht nur den Journalismus, sondern die Zukunft jeder schreibenden Arbeit im Netz betrifft. „In Zukunft wird die Arbeit nicht mehr darin bestehen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern darin, im Zeitalter der Automation leben zu lernen“, schrieb Marshall McLuhan 1964 in seinem Buch „Die magischen Kanäle“ – eine erstaunlich scharfsichtige Prognose.

Seit Juli 2008 versuche ich nun, in einem eigenen Blog auf der Website der „Stuttgarter Zeitung“ Antworten auf Fragen wie die zu finden, was ich kann und die Maschine nicht kann. Seither füllt sich die „Glaserei“ mit bemerkenswerten Fundstücken meiner täglichen Expeditionen durchs Netz.

Diese Fundstücke habe ich viele Jahre in einem digitalen Handarchiv und endlos langen Bookmarks-Listen gesammelt. Aber dort setzt vieles digitalen Staub an. Ein Blog, das stellte sich schnell heraus, ist eine großartige Möglichkeit, solche schlummernden Ressourcen produktiv zu machen und mit anderen zu teilen. Es kann sich zu bedeutend mehr entwickeln als nur einer Datenbank. Ein Blog kann ein Gebilde aus interessanten Dingen werden, die sich immer vielfältiger miteinander verbinden und an Wert gewinnen. Aus meinen täglichen Tauchgängen im Netz, die zwischen drei und fünf Stunden dauern, finden am Ende acht bis zehn Fundstücke den Weg in die „Glaserei“. Nachdem Google seine Bewertungskriterien nicht verrät, tue ich das auch nicht – Spaß beiseite: Es sind viele, vor allem: es ist ein offenes System. Denn ich möchte, dass es sich verändern und entwickeln kann.

Ein persönliches Welthandelszentrum. Für die Leser sollte möglichst schnell erkennbar sein, dass es sich um mehr als eine gehobene Form des Vermischten handelt. Die Netzkolumnen und Essays, die ich schreibe, landen ebenso in meinem Blog wie – nach Ablauf der Erstnutzungsfrist – größere Geschichten, die ich für andere Objekte verfaßt habe. Das Blog ist mein persönliches Welthandelszentrum. Anders als ein Archiv oder eine Bookmarkliste im Browser kann jeder, der möchte, es mitbenutzen. Und es hat sich herausgestellt, dass die Blog-Leser noch mehr tun: sie bringen auch ihre Fundstücke, die zu den meinen passen – Anmerkungen, Links, Zitate. So verwandelt sich mein persönliches Blog in einen gemeinschaftlichen Ort.

Ich wollte kein Meinungsblog und kein Fachblog betreiben, sondern tun, was ich seit jeher tue, nämlich einem möglichst weitreichenden Interesse an der Welt nachzugehen, ohne beliebig zu sein. Mein Blog ist an einigen Stellen sicher näher an den Methoden der Literatur als an denen des Journalismus – wenn ich ein gutes Fundstück am Haken habe, muß es beispielsweise nicht unbedingt aktuell sein. Es kann auch ein Zitat aus einem Brief von 1828 sein, zu dem dann ein weiteres Fundstück, etwa ein Comic-Bild aus den sechziger Jahren paßt. Es sind Momentaufnahmen aus dem unaufhörlichen Fluß der Dinge im Netz. Ich betätige mich als Korrespondent aus dieser neuen Welt.

Die Auswahl, die ich treffe, ist der Versuch, die Arbeit des Redigierens – Dinge auszuwählen, zu präzisieren und verstehbarer zu machen – auch auf diese neue Sphäre aus Texten, Bildern und so weiter anzuwenden.

Eines der wesentlichen Merkmale des sich gerade vollziehenden Medienwandels ist, dass sich Massenmedien nun in Medienmassen verwandeln. Die Angebote werden vielfältiger und zugleich kleinteiliger. Die kulturellen Einheiten, mit denen wir es zu tun haben, verwandeln sich in etwas Neues. Es ist eine Welt der Mikrokultur, der kurzen, schnellen Formen, die den althergebrachten Langformen nun zunehmend Konkurrenz machen.

Die langen Formen, das nur am Rand, werden nicht verschwinden, aber der Tag hat nur 24 Stunden – und wenn es immer mehr neue, kurze und kleine Texte, Tracks, Postings, Tweets gibt, die anzusehen interessant sein könnte, können die langen Formen nicht mehr so viel Zeit für sich in Anspruch nehmen wie bisher.

Ich sehe zum Beispiel kaum noch fern (ok, es gibt eine Arbeitsteilung: meine Frau sieht viel fern und erzählt mir dann die interessantesten Filme), stattdessen wühle ich mich mit großer Lust durch die gigantische Flimmerkiste der digitalen Minutenclips. Abendfüllend war gestern, heute ist Youtube. Wer kennt nicht das Gefühl, nachdem er im Kino gewesen ist, dass der Trailer, den man sich zuvor angesehen hatte, schon der ganze Film gewesen ist? Nun wird der Trailer zum Hauptfilm. Keine Zeit für’s alte Kino, zu viel Neues wartet. Immer mehr immer kürzere Inhalte werden über immer mehr Kanäle zugänglich gemacht. Das kann (hallo, Herr Schirrmacher) auch unglaublich Spaß machen. Die kalifornische Cartoonistin Jennifer Shiman etwa bietet in ihrer „30-Second Bunnies Theatre Library“ Kürzestfassungen bekannter Hollywoodfilme an. Die Liste der immer kürzeren Dinge wird immer länger. Und die Dinge, die ich besonders bemerkenswert finde, kommen in mein Blog. Die Leser scheinen es zu mögen, selbst Beiträge mit Titeln wie „Einige schwierige Dinge, die weder Quote noch Traffic erzeugen, aber unerläßlich sind“.

Keine Sorge. Parallel zu meinem Blog kann man alle Postings auch in einem RSS-Feed abonnieren oder sie als „Notizen“ auf Facebook lesen. Viele Betreiber von Online-Angeboten mögen diese Externalisierungen nicht, weil sich die Leser damit außerhalb der gewohnten Struktur etwa einer Zeitung bewegen können. Ich teile diese Sorge nicht. Von den Lesern, die beispielsweise bei Facebook auf meine Beiträge aufmerksam werden, kommen immer mehr auch zurück auf mein Blog und in das Angebot der „Stuttgarter Zeitung“.

Früher gab es einen Zustand, dann kam eine Veränderung, dann ein neuer Zustand. Jetzt ist Veränderung der Zustand. Die Aufmerksamkeit der Menschen zu erreichen und vor allem: zu halten, ist heute schwieriger denn je. Dazu muß man ein Mobile aus Kommunikationskanälen und -formen ausbalancieren. Ein Blog eignet sich gut als Stellwerk für diese komplexe Logistik – und auch als Testgelände, auf dem sich neue Formen erproben lassen, mit denen sich die zerfallenden alten Medienstrukturen zu etwas Neuem zusammensetzen lassen. Im Netz werden keine Musik-Alben mehr gekauft, nur noch Tracks. Mehr und mehr werden auch die Bestandteile von Zeitungen zu Text-Tracks. Sie werden nicht mehr nur an der Quelle gelesen, sondern weitergereicht, via Facebook empfohlen, verteilt, gediggt, reblogged und atomisiert. Aber genau wie in der Chemie wollen solche herumfliegenden Atome nichts stärker, als sich wieder zu größeren Einheiten zu verbinden.

Erschienen in Ausgabe 04+05/2010 in der Rubrik „Essay“ auf Seite 44 bis 45. © Alle Rechte vorbehalten. De
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