Aufbruch in Bonn

Die „Millionenfalle“ hat sich ausgezahlt: Monatelang hat ein Reporterteam des Bonner „General-Anzeiger“ (GA) betrügerische Machenschaften um das geplante World Conference Center Bonn (WCCB) rechercheriert. Die Folge: Die Justiz ermittelt gegen mehrere Beteiligte, die Stadt hat ihren Aufreger – und die Zeitung ein neues Image und bundesweite Anerkennung. Im Mai gab es den Wächterpreis der deutschen Tagespresse, im August wird dem GA der deutsche Lokaljournalistenpreis in der Sparte „Investigativer Journalismus“ verliehen. „Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte“, sagt Andreas Tyrock mit unüberhörbarem Stolz.

2008 kam er als Chefredakteur nach Bonn: „Meine Aufgabe war die Neustrukturierung des ‚General-Anzeiger‘“, sagt er in seinem Büro im Bonner Norden. Das Blatt, einst Pflichtlektüre neben FAZ & Co für die Parlamentarier im „Raumschiff Bonn“, musste sich nach dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin neu positionieren.

Auf Gewinnkurs. Nach zwei Jahren zeigen sich nun Erfolge – auch in den Leserzahlen: „Wir haben die letzten drei Quartale zwar auch verloren, aber immer mit einer Null vor dem Komma. Das ist auch schon gut“, sagt Tyrock. Minus 0,83 Prozent verkaufte Auflage waren es im 1. Quartal 2010 zum Vorjahr, dagegen Minus 2,31 Prozent 1/2009 zu 1/2008 (ivw). Und gegen den allgemeinen Trend gelang dem GA im April eine Steigerung der Abo-Auflage: Ein Plus von 0,14 Prozent. Das ist nicht viel, aber eine Seltenheit in Zeiten, in denen Anzeigeneinbrüche und Leserschwund die deutsche Zeitungslandschaft prägen.

„Wir haben Stück für Stück umgebaut.“ Darin war der Mittvierziger bereits geübt: Bei der „Braunschweiger Zeitung“ hat er 2003, zusammen mit Paul-Josef Raue, einen der ersten Newsdesks in einer deutschen Regionalzeitung eingeführt.

Bald soll es auch in Bonn so weit sein: Im Herbst wird im Erdgeschoss des Verlags ein Newsroom bezogen, mit einem „Mantel-Desk“, einem „Regio-Desk“, einem „Bonn-Desk“ sowie einem „Servicedesk“ mit Terminexperten und Sekretärinnenpool. Alle Seiten sollen künftig in einem Raum, dem Newsroom, produziert werden.

Die Bedeutung, die Tyrock dem beimisst, zeigt sich auch in der Führungsstruktur: Der neue Mantel-Desk-Chef Alexander Marinos, bis zum 1. Mai Politik- und Nachrichtenchef der „Westdeutschen Zeitung“, ist zugleich designierter stellvertretender Chefredakteur – neben Andreas Mühl, der im November 2009 von der „Schwäbischen Zeitung“ zum GA kam und seit 1. Mai in der Chefredaktion für das Lokale zuständig ist.

Print und Online sollen enger verzahnt werden. Die Onliner, bisher in einer eigenen, externen Abteilung organisiert, werden nun in die Redaktion integriert und dem Chefredakteur unterstellt. Tyrock erhofft sich von der Integration einen schnelleren Informationsfluss am Online-Desk, der von 7 bis 23 Uhr besetzt ist.

Und künftig soll auch beim GA eine Arbeitsteilung zwischen Reporter und „Editoren“, also Blattmachern, gelten.

Zur Zeit laufen die Gespräche über die neue Redaktionsstruktur mit dem Betriebsrat – den Tyrock zu überzeugen sucht, dass die neue Redaktionsstruktur der Effizienz dienen soll und nicht dem Spardiktat geschuldet ist. Denn Einschnitte muss auch der GA hinnehmen: durch Vorruhestandsregelungen wurden Stellen abgebaut, der Anteil redaktioneller Eigenleistung im Blatt wurde erhöht, dadurch der Gesamtetat für Freie gekürzt (Zeilenhonorar zwischen 26 und 51 Cent laut mediafon).

Der Umbau begann im September 2008 mit einer neuen Ressortfolge, die eine klassische ist: Politik, Wirtschaft, Feuilleton, Lokales. Der Hintergrund: Zu Bonner Hauptstadtzeiten war das lokale Geschehen stark vermischt mit dem politischen, folglich auch die lokale Berichterstattung des GA im politischen Buch angesiedelt, der lokale Aufmacher so erst auf Seite 6 im ersten Buch zu finden.

Nun gibt es ein eigenes Lokalbuch, erweitert auf sieben Seiten und um eine neue regionale Seite, die regionalen links- und rechtsrheinischen Ausgaben erscheinen heute individualisiert mit tagesaktuellen Aufmachern.

Tyrock, der gerade von einem Vortrag zum Thema „Zukunft der Regionalzeitung“ an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg kommt, sagt, die Zukunft der Lokalzeitung liege vor allem in „lokaler und regionaler Kompetenz“. Von einem uneingeschränkten Vorrang fürs Lokale hält er jedoch nichts, dafür viel von einer „richtigen Mischung zwischen Mantelkompetenz und regionaler Kompetenz“. Zwar sollten in der Regel möglichst zwei lokale Themen über dem Bruch auf dem Titel platziert sein. Aber: „Entscheidend ist die Themenrelevanz, sonst wird es banal.“ Lokales konkurriere mit Mantelthemen deshalb genauso wie alle Mantelthemen untereinander.

Der GA sehe sich aufgrund seiner Historie als Hauptstadtblatt einer politischen Qualitätsberichterstattung verflichtet. Auch deshalb leistet er sich in Berlin ein Korrespondentenbüro mit drei Redakteuren (Leitung: Thomas Wittke, langjähriges Vorstandsmitglied der Bundespressekonferenz) – während die weitaus größere Ippen-Gruppe vor kurzem ihr Hauptstadtbüro geschlossen hat.

Der GA wiederum expandiert mit seiner Berlin-Berichterstattung: Seit 1. April beliefert er damit auch die „Westdeutsche Zeitung“ (Düsseldorf). Zudem hat er seit Jahresbeginn schrittweise die Mantelproduktion für die „Kölnische/Bonner Rundschau“ (derzeit noch ohne Sport) übernommen.

Anfang 2009 bereits wurde das Layout modernisiert (Design: Sibyll Jakobsen), seither druckt der GA komplett in Farbe. „Wir haben sehr viel umgebaut in der Optik, in der inhaltlichen Herangehensweise, aber auch im Marketing und im Vertrieb“, sagt der Chefredakteur zur Umstrukturierung, die von der Unternehmensberatung Saar und Scher begleitet wurde.

Zur neuen Strategie des GA gehört auch, „konzentrierter“ mit Themen umzugehen, wie Tyrock erklärt. So veröffentlichte der GA zum 60-jährigen Jubiläum der Bundesrepublik 2009 eine dreimonatigen Serie, die von zahlreichen Veranstaltungen begleitet wurde. Der Höhepunkt: Eine von und mit Schülern nachgestellte Bundestagsdebatte im „Wasserwerk“, dem ehemaligen Plenarsaal des Bundestages, an der 1.000 Personen teilnahmen, darunter allein 400 Schüler aus allen Schulformen im gesamten Verbreitungsgebiet. Aus der Serie wurde auch ein gebundenes GA-„Special 60 Jahre Bundesrepublik“, das in einer Auflage von 10.000 für 2,50 Euro verkauft wurde.

Serien spielen eine gewichtige Rolle im neuen Konzept – als Leser-Blatt-Bindeglied und Abo-Werbeplattform: Im vergangenen Sommer produzierte der GA beispielsweise sechs Wochen lang täglich eine Sonderseite als Ferienspecial und bot dafür ein spezielles Vier-Wochen-Ferienabo an, wahlweise am Anfang oder zum Ende der Ferien, je nach Reiseplänen. 1.000 bezahlte Kurz-Abos waren die Ernte, mehr als 25 Prozent wurden in Vollabos umgewandelt. Und gerade erst wurde eine vierwöchige Serie zum Thema „Kinder-Jugend-Internet“ beendet. Viel stärker als früher setzen auch GA-Vertrieb und -Marketing auf individualisierte Angebote, bieten spezielle Themen- und Serienabos zur Probe an.

„So lassen sich neue Leser gewinnen, die nach einiger Zeit ihre Zeitung nicht mehr abbestellen wollen. Dafür brauchen sie ein überzeugendes Produkt und eine gute Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen“, sagt Tyrock. Auch im Sublokalen soll das Prinzip Fuß fassen, sollen mit kleineren Lokal-Serien gezielt neue Leserschichten angesprochen werden.

„Anwalt der Leser“. Voraussetzung für die verstärkte Kooperation mit Vertrieb und Marketing seien unter anderem „journalistisch getriebene Projekte“, betont Tyrock und spricht von einer „Rückbesinnung auf journalistische Tugenden: „Wir wollen klassischen Lokaljournalismus machen. Ran an die Menschen, dort wo sie leben, wo sie ihr Um
feld, zum Beispiel ihre Vereine haben. Wenn man die Menschen mitnehmen will, muss man die Themen kennen und wissen, worüber bei Straßenfesten oder beim Kegelabend geredet wird.“ Der „General-Anzeiger“, so die Marschrichtung, müsse sich als „Anwalt der Leser“ verstehen.

Bei den Enthüllungen um die Unregelmäßigkeiten beim Bau des World Conference Center Bonn konnte der GA dies unter Beweis stellen. Für die Recherchen, die in mittlerweile 37 Folgen der Serie „Die Millionenfalle“ mündeten, wurde ein eigenes sechsköpfiges Reporterteam gebildet.

„Das Ganze ist auch deswegen ein Erfolg geworden, weil wir sechs aus dem ganzen Haus und aus den unterschiedlichen Redaktionen Rückhalt erfahren haben“, sagt Reporterin Lisa Inhoffen. Für ihren Chef ein Beispiel, das Schule machen soll: Die Leistung des WCCB-Teams sei „auch eine redaktionelle Gesamtleistung, wie eine Mannschaft, bei der es nicht nur ein paar Stürmer gibt, die die Tore schießen“.

Damit ist dem GA jetzt sogar das „Double“ gelungen: Noch nie hat eine Redaktion in einem Jahr den Deutschen Lokaljournalistenpreis und zugleich den Wächterpreis der deutschen Tagespresse gewonnen.

(Siehe auch Interview mit den Reportern aus dem „WCCB-Teams“, Seite 40 f.)

Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 38. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.