Besuch vom anderen Stern

„Das passt nicht ins Layout, dafür haben wir kein Personal.“ An diesen Sätzen scheitern die besten Ideen. Deshalb will Christian Lindner, Chefredakteur der Koblenzer „Rhein-Zeitung“ die Schablonen und Routinen der täglichen Produktion lockern. Für eine moderne Zeitung räumte Lindner sogar seinen Posten – zumindest für einen Tag. Am 18. Mai war Sascha Lobo „Chefredakteur für einen Tag“. Sascha Lobo, das ist dieser Blogger mit dem roten Irokesen, der auf Konferenzen und in Werbespots über die „digitale Bohème“ philosophiert und Neologismen wie „prokrastinieren“ schuf. Lobos schillernder Eigensinn nervt inzwischen viele, sichert ihm aber Aufmerksamkeit – und heute auch der „Rhein-Zeitung“. Was hat das Experiment gebracht?

Keine Termine. „Wir können die Informationsströme im Internet nicht kontrollieren“, sagt Lobo. Er, der Twitterer, findet es nicht schlimm, 99 Prozent aller Tweets zu verpassen. Stattdessen will er sich auf das eine Prozent konzentrieren, das er wahrnimmt. Für „seine“ Zeitung heißt das: „Heute gibt es keine Termine.“ Die Redakteure dürfen Termine verpassen und schreiben, was sie wollen. Mit diesem Auftrag gewinnt Lobo auch die Skeptiker in der Redaktion: „Da kommt dieser Typ aus dem Internet, den ich zunächst als randständig wahrnehme, und dann will er mein Herzensthema im Blatt haben“, bekennt sich der stellvertretende Nachrichtenchef Dietmar Brück zu seinen anfänglichen Zweifeln. So entstehen das Titelthema „vergessene Kriege“ und Geschichten über Nerds, schlampige Bewerbungen und vieles mehr. Lobo glaubt, dass ein Blatt, in dem die Redakteure schreiben, was sie interessiert, auch die Leser überzeugt. Er mischt sich nicht in die Themenfindung ein, manche Geschichten dreht er aber weiter: Zum Text über schlechte Ernährung sollen auch Tipps für eine bessere; und bei der Mehrwertsteuer wünscht er sich einen entspannten Ton – denn „Hysterie kann man morgen überall lesen“. Lobo macht sein Blatt für einen kritischen Leser, der wissen will, warum die Redakteure schreiben, was sie schreiben, und sich gerne auch an deren Meinung reibt – einen Blogleser, könnte man sagen.

Leseraktionen. Die „Rhein-Zeitung“ ist eine der dialogfreudigsten Lokalzeitungen Deutschlands. Das erleichtert Sascha Lobos Vorhaben, die Leser an seiner Ausgabe zu beteiligen: In Kurzgeschichten sollten sie sich überlegen, wie es am fünften Tag nach einem weltweiten Internetausfall aussehen würde. Und für die Fotostrecke „Um eins in Deutschland“ konnten sie Bilder einreichen, die das „Lebensgefühl der Region“ illustrieren. Lars Wienand, der Social-Media-Redakteur der „Rhein-Zeitung“, hat die gesamte Lobo-Aktion koordiniert und hält den Kontakt ins Netz. Er hat 18 Kurzgeschichten bekommen und rund 100 Leserfotos bei Twitter und Co. gesammelt. Die besten kamen ins Blatt. Die ausgewählte Geschichte ist inspirierend. Aber die Mehrzahl der eingesandten Bilder lassen zweifeln, ob Leser als Bildreporter taugen. Es sein denn, man bevorzugt Motive nach dem Motto „mein Hund, mein Kind, mein Garten“.

Keine „alten Männer vor Gebäuden“. Menschen lieben Bilder. „Als Facebook die Fotofunktionen aufgenommen hat, hat sich die Aktivität der Mitglieder vervielfacht“, stützt Lobo sein Plädoyer für eine visuellere Zeitung. In seiner Ausgabe will er keine „alten Männer vor Gebäuden“ sehen, sondern Fotos, die Geschichten erzählen und vielleicht auch provozieren. So streicht er das angedachte dpa-Foto vom Titel und lässt die Fotoredakteure das Portfolio des freien Fotografen Andy Spyra durchforsten. Das Ergebnis ist am 19. Mai eine Seite eins, die sofort zeigt, dass die Zeitung anders ist: Ein Mann mit Kopfverletzung blickt dem Leser am Dienstag mit bohrendem Blick vom Frühstückstisch entgegen und macht den Kashmirkonflikt unvergessen.

Der Druck des Druckens. Dietmar Brück ist überrascht, „dass ein Blogger so sehr auf originäre Inhalte setzt“. Sonst nährten sich Blogger vor allem an den Medien, sagt Brück. Lobo will sich vom Nachrichtenstrom lösen und eigene Themen setzen. Jeden Tag, so Brück, kann die Redaktion das aber nicht schaffen: „In Zukunft wollen wir eine Mischung aus eigenen Recherchen, Agenturmaterial und dem persönlichen Fokus des Redakteurs.“

Neben dem Rummel um seine Person schreibt Sascha Lobo drei Artikel und obwohl er schnell liest, spricht und schreibt, macht ihm das enge Zeitkorsett der Zeitungsproduktion zu schaffen. Andrucktermine kennt der Onliner nicht. Mit Deskchef Manfred Ruch hat er aber einen Routinier an seiner Seite, der manch wortreichen „Lobolog“ und ausufernde Diskussionen strafft. Mit gutem Grund:„Herr Lobo scheint noch nicht zu ahnen, in was für einer Zeitnot wir gleich stecken werden“, kommentiert Deskchef Manfred Ruch nach der 17-Uhr-Abnahme, als immer noch einige Seiten offen sind.

Lobo motiviert. Wer Lobo aus Videos kennt, könnte ihn für einen Roboter halten. Mechanisch beantwortet er immer wieder dieselben Fragen: Ist Twitter nicht irrelevant und wie hältst du es mit Google? In der Redaktion geht es heute aber nur am Rande um diese Fragen. Lobo und seine Redakteure machen eine Zeitung und die Teamarbeit scheint Lobo, der sonst allein an seinen Texten feilt, Spaß zu machen. Dass sich die Reporter und Redakteure so intensiv darauf vorbereitet haben, schmeichelt dem Einzelkämpfer. Dazu kommt der „Industrie-Charme der Druckpressen“, die im Keller auf seine Freigabe warten. Das geht selbst an Lobo nicht spurlos vorüber, dem Papier eigentlich nichts bedeutet. „Was kann uns Besseres passieren? Da kommt ein echter Online-Star und sagt uns: Es ist wichtig, was ihr macht“, freut sich Manfred Ruch. Er hofft, dass Lobos Respekt für Print ins Internet zurückschwappt.

Und die Website? Sascha Lobo ist gekommen, um die gedruckte „Rhein-Zeitung“ zu machen. Schade, dass er dabei die Online-Ausgabe vernachlässigt hat. Im Internet lief viel: Die Leseraktionen, ein Liveticker aus der Redaktion, der Leserchat, Videobeiträge der MoJane und, ausnahmsweise für diesen Tag, stehen auch alle Artikel der Zeitung und das E-Paper kostenlos online. Aber das Angebot fand nur, wer den Lobo-Teaser auf der Startseite spannend fand, oder per Link direkt auf die Lobo-Seite ( www.rhein-zeitung.de/lobo) kam.

Lobo hat kein Konzept, die Online-Leser an den Kiosk und Abonnenten aufs Webangebot zu leiten. Wie die Print-Geschichten angeteasert oder multimedial ergänzt werden, überlässt er Jochen Magnus, dem Online-Chef der „Rhein-Zeitung“. Magnus hatte jedoch mit dem Gast aus Berlin kaum Kontakt. Dabei hätten die beiden Onliner sicher einen Weg gefunden, mehr User auf die Seite zu ziehen. Magnus war schon lange vor Lobo im Internet aktiv und brachte die „Rhein-Zeitung“ 1995 als eine der ersten deutschen Zeitungen ins Netz. Eine Innovation wie Magnus’ viel kopierte Twitter-Landkarte, die die neuesten Tweets der „RZ“-Regionalbüros zeigt, hätte das Experiment abgerundet.

Das bleibt vom Experiment. Die „Rhein-Zeitung“ richtet sich gleichzeitig an konservative Koblenzer und an junge Twitterer. Eine Zeitung, die so eine breite Zielgruppe hat, kann nur ein Kompromiss sein. Während ältere Leser am Papier und dem klassischen Nachrichtenstil hängen, brauchen junge Leser nur dann eine gedruckte Zeitung, wenn sie das Internet sinnvoll ergänzt. Dafür sind Themen-Schwerpunkte und die Optik besonders wichtig. Die „Rhein-Zeitung“ hat schon viele Leser zum Twittern gebracht. Vielleicht kann sie ihre Leser auch behutsam an eine moderne Bildsprache heranführen.

Sascha Lobo hat in der Redaktion die Kernfragen für die Zukunft der „Rhein-Zeitung“ aufgeworfen: Welche Aufgabe hat die Zeitung? Hat die Zeitung Chronistenpflicht, oder sollten die Redakteure schreiben, was sie interessant finden? Soll d
ie Zeitung nur informieren oder auch provozieren, vielleicht sogar ihre Leser erziehen? Soll sie vor allem gefallen oder die Wirklichkeit in aller Härte abbilden? Sascha Lobo fragt zu Recht, ob die Leser denn nicht sehen wollen, wie die Welt wirklich ist.

Die Redaktion zu öffnen ist inspirierend, weil Gäste nicht in den Mustern und Strukturen der täglichen Produktion denken. Sascha Lobo hat die „Rhein-Zeitung“ am 18. Mai nicht neu erfunden, aber er hat die Redakteure auf neue Ideen gebracht. Nach innen hat das Experiment gewirkt und dem Social-Media-Image der „Rhein-Zeitung“ hat der Besuch auch gut getan.

Link:Tipps

Der Zeitungsmacher-Tag mit Sascha Lobo in Foto-Impressionen siehe www.mediummagazin.de, Rubrik Bilder

Das Lobo-online-Special der „Rhein-Zeitung“

www.rhein-zeitung.de/lobo

Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 42 bis 43. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.