Graubrot für Krisenzeiten

Anders als anlässlich der globalen Finanzmarktkrise 2008/09 treten in der Euro-Krise Unterschiede in der massenmedialen Öffentlichkeit zwischen Boulevard- und Qualitätsmedien markant hervor. Die Qualitätsmedien knüpfen an ihre Berichterstattung und Kommentierung in der Endphase der Finanzmarktkrise im Jahr 2009 an, in der viele von ihnen Sachkompetenz und kritische Distanz zu den Finanz- und Politikakteuren aufgebaut haben. Rekapitulieren wir kurz.

Bis in den Herbst 2008 hinein, bis uns die Trümmer der Krise buchstäblich um die Ohren flogen, hat jedenfalls der tagesaktuelle Qualitätsjournalismus als Beobachter, Berichterstatter und Kommentator des Finanzmarktes schlecht gearbeitet; was publiziert wurde, war mehr Öffentlichkeitsarbeit für die Finanzbranche als unabhängige, kontrollierende Darstellung. Dürftige Informationen, realitätsuntüchtige Deutungsmuster und Desorientierung gab es reichlich, unabhängige kompetente Darstellungen selten.

Das änderte sich nach und nach im Herbst 2008 und um die Jahreswende 2008/09 – Hintergründe, verständliche Erklärungen, intensive Recherchen, eine Vielfalt an Meinungen und Perspektiven, Warnungen vor neuen Krisenrisiken.

In der Griechenland- und Euro-Krise zeigt sich nun einerseits eine boulevardgetriebene Dachkommunikation, die den Bodensatz primitiver Interpretationsmuster aufwirbelt: Südländer, in der Sonne oder am Tresen und selten am Arbeitsplatz, leben über ihre Verhältnisse – und reichen die Rechnung an die deutschen Zahlmeister weiter. Andererseits finden sich in den meisten Leitmedien, Print wie Funk, vielfältige, sachliche, erklärungsstarke, politisch inspirierende Beiträge, die der demokratischen Öffentlichkeit Substanz und Stärke verleihen.

Die Kluft erscheint uns aktuell auffällig größer als üblich. Zugespitzt: Der Journalismus spaltet sich in tumbe Krakeeler hier, aufklärungs- und lösungsorientierte Analytiker und Debattierer dort; dazwischen eine breite Mitte, die im Guten mithalten will, es aber nicht oder nur leidlich kann, weil es an personellen Ressourcen mangelt. Die Krakeeler erscheinen stärker, weil sie das scheuen, was die anderen auszeichnet: das Differenzieren. Die Frage ist, wie dieser Zugewinn an Offenheit und Qualität stabilisiert und Resonanzboden für Qualitätsjournalismus bei Publikum und Politik gutgemacht werden kann. Dazu ein Plädoyer in sechs Punkten.

01. Öffentlich lernen

Was der Journalismus in der gestrigen Finanzmarktkrise gelernt, in der heutigen Euro-Krise zum Besseren geändert hat, das hat er in seinem redaktionellen Kämmerlein ausgeheckt und heimlich neu eingeführt. Auf eine öffentliche Debatte mit seinem Publikum über Defizite und Verbesserungen seiner Arbeit hat er verzichtet. So wurde die Chance auf einen öffentlichen Lernprozeß und einen Zuwachs an Vertrauen vertan. Aber: Die letzte Chance ist gerade weg, da kommt eine neue; auf die Krisenproduktion der Finanzindustrie ist Verlass. Es ist kein Naturgesetz, sondern nur antiquiertes Organisationsverhalten, dass Redaktionen die Öffentlichkeit, die sie herstellen, selbst scheuen wie der Papst die Pille.

02. Bitte mehr Graubrot

Dass „Bild“ und andere Medien Kampagnen der Ressentiments fahren, gehört zu deren Geschäftsmodell. Das ist keine Überraschung, eher dass sich das „Handelsblatt“ zu einer ‚Gegen-Kampagne‘ animiert fühlte. Das Graubrot der Information hilft, sich denen in den Weg zu stellen, die mit Ressentiments und kruden Vorurteilen Auflage und Quote machen. Klasse, wie das SZ-Jugendmagazin „jetzt“ die Griechenlandkrise von A bis Z erklärt hat (s. Linktipp).

Was verdient ein normaler griechischer Arbeiter? Wer bereichert sich dort an der Korruption? Was verdient die Deutsche Bank an dem Krisen-Management ihres Vorstandsvorsitzenden? Graubrot-Informationen, das sind die vielen Vergleiche: Beläuft sich das griechische Haushaltsdefizit auf zehn Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes oder auf weniger als zwei? Das sind die vielen Zusammenhänge: Was hat die Export-Nation Deutschland bisher an Griechenland und an den Handelsüberschüssen in die EU verdient? Das ist die Arbeit am Überblick: Was haben die Staaten bisher an neuer Regulierung beschlossen, was wirkt und wie? Über dieses Graubrot, das so vorzüglich Ressentiments aufsaugen kann, muss das Publikum überall stolpern, weil es im Mittelpunkt steht. Jedoch: Zu oft muss es noch gesucht werden, noch zu oft vergeblich.

03. Morgen ist nicht der erste Tag

Als beginne die Welt täglich von neuem. Die Arbeit der Erinnerung wird nicht geschätzt: Wir machen hier ein aktuelles Blatt und keinen Jahres-Almanach! Die Staaten haben sich enorm verschuldet. Wessen Schulden sind das zum großen Teil? Die der Banken, oder? Ja, schon richtig, aber das ist mehr als ein Jahr her. Heute sind es Schäubles Schulden.

Der Journalismus ist die einzige Kraft, die mit einer gewissen Unabhängigkeit das zeitlich nahe liegende kollektive Erinnerungs-Wissen sammeln und immer wieder bei guter Gelegenheit der Öffentlichkeit vorlegen kann.

04. Der neue wirtschafts-politische Journalismus

Die gestrige Krise lehrte es ebenso wie die heutige: In der Politik steckt so viel Wirtschaft und in der Wirtschaft so viel Politik, dass Medien nur dann auf der Höhe der Zeit informieren, analysieren und bewerten, wenn die Ressorts Wirtschaft und Politik inhaltlich so intensiv zusammenarbeiten, als gäbe es die Ressortgrenzen nicht. Aber bitte die Ressorts nicht auflösen. Warum? Es geht um beides, darum, das fachliche Ereignis zu berichten und andererseits über den Zusammenhang, über das einzelne Glied und über die Kette. Das solide Fachwissen kann nur in stabilen Ressorts gepflegt und gehortet werden. Die Zusammenhänge (zwischen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen) müssen Themen-Teams erarbeiten und darstellen. Die Stunde des – im Wortsinne – wirtschafts-politischen Journalismus hat geschlagen.

05. Das Krisen-Märchen

Die Bundeskanzlerin: „Die Politik muss das Primat über die Märkte wiedererlangen.“ Die Medien müssen akzeptieren, dass die Kanzlerin davon ausgeht, dass sie über den globalen Finanzmarkt keine Macht hat. Sie können dann fragen: Stimmt die Aussage? Wenn ja, warum hat die Politik die Macht verloren? Aus eigener Schuld? Wer besitzt diese Macht nun? Aber eines können die Medien nicht machen: weitermachen wie zuvor und die Bundeskanzlerin so in den Mittelpunkt ihrer kritischen Analyse und Kommentierung stellen, als hätte sie die Macht, alles gut oder alles falsch zu machen. Das ist Des-Orientierung.

06. Ungewohntes wagen

Krisen wie die gestrige und die heutige können einer demokratischen Gesellschaft viel Substanz kosten. Denn sie sind nicht gewöhnlich. Eine starke, gut unterrichtete und möglichst kundige Öffentlichkeit ist da Gold wert; zumal das oft überfallartige Krisen-Management selbst Demokratie kostet.

Ein Vorschlag: Die Medien, denen der Anspruch der Aufklärung noch ein Herzensanliegen ist, stellen für ein halbes Jahr fachkundige Journalisten für eine interdisziplinär zusammengesetzte Redaktion zusammen (Achtung: Es handelt sich nicht um eine ‚neue‘ Redaktionsgemeinschaft!). Dieses Team bearbeitet mit einem ganzheitlichen Ansatz das Thema der Euro-Krise, der Finanzindustrie, der Finanzmarkt-Politik. Die gesamte Arbeit (Grafiken, Analysen, Interviews, Erläuterungen etc.) wird via gemeinsamer Homepage der allgemeinen Öffentlichkeit und allen anderen Medien kostenlos zur Weiterverwendung zur Verfügung gestellt. Die Anstrengung wäre gemeinsam, der Lohn auch: mehr Vertrauen in besten Journalismus.

Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 26 bis 26 Autor/en: Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.