Herz und Verstand

Ja, ich gebe zu, auch ich hatte Gänsehaut, als dieses 19jährige „Fräulein Wunder“ (FAZ) namens Lena in Oslo auftrat. Hätte mir das jemand noch kurz vor ihrem Auftritt prognostiziert, ich hätte so etwas weit von mir gewiesen. Gänsehaut bei einem Schlagerwettbewerb? Wie albern. Aber: „Auch Presseleute sind nur Menschen und können sich einfach nur mal freuen“, schrieb http:// www.music-liveandmore.com.Und, so der taz-Redakteur Jan Feddersen in seinem Blog: „… man muss sich auch mal berühren lassen können.“ Doch mal abgesehen von allen persönlichen Glücksmomenten und soziokulturellen Betrachtungen des „Phänomens Lena“, sollten wir Journalisten drei wesentliche Merkmale des Lena-Zaubers auch mal auf die eigene Branche beziehen.

1. Mut. Anders zu sein, sich nicht dem Mainstream unterzuordnen, das Ungewohnte zu wagen. Wo sind z.B. die Nischen bei ARD und ZDF geblieben, die jungen Talenten Gelegenheit gaben, sich auszuprobieren, und ihr eigenes Profil zu entwicklen? Damit sind nicht nur Musikformate wie einst der „Talentschuppen“ oder „Live aus dem Schlachthof“ gemeint. Wer dauernd über den Schwund von jungen Zuschauern, Hörern und, ja, auch Lesern, klagt, jungen Leuten aber zugleich keine Möglichkeiten mehr bietet für Experimente, braucht sich nicht zu wundern.

2. Emotionen. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Das lehrt uns schon die Bibel. Leser wie Zuschauer und Hörer wollen nicht nur rational, sondern auch emotional angesprochen werden. Mit all den „Gute-Nachrichten-Specials“, die ein vordergründiges Bedürfnis nach heiler Welt bedienen, ist das nicht getan. Emotionen bei Medien- nutzern zu wecken schafft der, der in seinen Texten und Beiträgen Herz und Verstand nutzt.

3. Authentizität. Das war eines der meist gebrauchten Begriffe in den Versuchen, den Erfolg der jungen Gewinnerin zu erklären. Es ist zugleich der Schlüsselbegriff für die Medien selbst. Authentizität heißt schließlich nichts anderes als Glaubwürdigkeit.

Wer in Zeiten der wirtschaftlichen Not dieses hohe Pfand aufs Spiel setzt, indem er ethische Standards wie das Trennungsgebot von Redaktion und PR kippt, handelt mehr als fahrlässig. Er gefährdet damit die eigene Zukunft.

Das gilt im übrigen genauso für „die andere Seite“. PR-Fachmann Mirko Lange warnte schon im vergangenen Jahr in seinem Blog: „Authentizität“ könnte für die PR eines der wichtigsten Themen des Jahres 2010 werden. Die Vertrauenswerte von Unternehmen sind „im freien Fall“, Täuschungsmanöver werden immer aggressiver gegeißelt, Persönlichkeit zu zeigen gilt als Muss vor allem in den sozialen Netzwerken. (http://blog.talkabout.de)

Apropos soziale Netzwerke: Es lohnt sich bei Twitter unter dem Kürzel #esc die zahllosen Kommentare während der magischen Nacht von Oslo nachzulesen. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, welche Sogkraft soziale Netzwerke entwickeln, dann finden Sie ihn dort. Selbst Internetguru Jeff Jarvis fragte sich twitternd: „Why the hell am I watching this #esc thing? I should be writing.“

Wie Medien sich das zunutze machen können, zeigt das Beispiel von haz.de in jener magischen Nacht: Bei allem Lokalpatriotismus und der subjektiven Freude (siehe unten) war es vorbildlich, wie Markus Schwarze und sein Redaktionsteam alle Kanäle für ihre Berichterstattung nutzten. Mit Herz und Verstand.

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 4. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.