Die irreale Politik

Moskau. Es wird jetzt noch langweiliger, in Russland Fernsehen zu schauen. Anfang November wurde wieder mal eine halbwegs spannende Talkshow dichtgemacht – „Nerealnaja Politika“, ein 2008 im Internet gestartetes Projekt, das der landesweite Kanal NTW erst vor einem Jahr übernommen hatte. Die „Irreale Politik“ hatte ein eigenwilliges Format: Das Glamour-Girl Tina Kandelaki und der Kreml-Zeitungskorrespondent Andrej Kolesnikow befragten Boxer, Filmstars oder Milliardäre zu ihren politischen Einstellungen. Die Sendung hatte Erfolg, auch weil die beiden immer heißere Eisen anpackten. Für November planten sie ein Interview mit einer Studentin, die kürzlich mit Kommilitoninnen bei einem Besuch von Präsident Dmitri Medwedew festgenommen worden war – der Vorwurf: Sie wollten kritische Fragen stellen. NTW strich den Beitrag, ebenso einen Plausch mit der „GQ“-Reporterin Xenia Sobtschak; die war in einem der teuersten Moskauer Restaurants auf den staatlichen Jugendfunktionär Wassili Jakemenko gestoßen, hatte ihn zur Rede gestellt, wie er sich das bei seinem mageren Beamtensalär leisten könne. Die beiden Moderatoren schmissen hin. Kurz zuvor war auch eine NTW-Reportage gekippt worden, die darüber berichten sollte, wie die Sicherheitsorgane in Tschetschenien Menschen verschleppen. Man muss Optimist sein, um so viel Zensur auf die Nervosität der Apparatschiki angesichts der Duma- und Präsidentschaftswahlen zu schieben. Weniger optimistische Russen vermuten dahinter vorauseilenden Gehorsam – im Mai kehrt Wladimir Putin in den Kreml zurück. Und dann droht Russland politisch noch mehr Langeweile.

Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 15 bis 17. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.