Die Zeitungen der Welt

Auf dem Jahreskongress des Weltzeitungsverbands WAN in Wien im Herbst zeichnete sich schemenhaft die Struktur einer neuen Medienwelt ab. Der Trend lässt sich in drei Begriffen umreißen: neuer Realismus, breite Akzeptanz der Internetwelt samt allen ihren anstrengenden Aufgaben, ehrliche Auseinandersetzung mit Finanzierungsfragen. Hinzukamen noch methodische Probleme wie die „integrierten Redaktionen“. Die Haupttendenzen der internationalen Zeitungslandschaft lassen sich in sieben Punkten zusammenfassen:

1. Die Begeisterung übers iPad ist verblasst

Zum neuen Realismus gehört, dass kein vernünftiger Mensch mehr das iPad und seine sich vermehrenden Tablet-Geschwister als einmalige Revolution der Medienwelt verkündet. Seit der inzwischen verstorbene Apple-Chef Steve Jobs am 27. Januar 2010 das erste iPad vorgestellt hat, ist das Wunderding überraschend schnell und entgegen dem Börsenkurs Apples zu einem „Tool“ geschrumpft, also einem mit gescheiten Funktionen ausgestatteten Tablet-Gerät eben. Paula Salvaaro von Helsingin Sanomat merkte pointiert an, dass man das Gerät seiner Handlichkeit wegen am Abend gut ins Bett mitnehmen und damit einschlafen könne. Die Klickmessungen bestätigen solche Bosheiten.

2. Griff zum Smartphone

Die Wachstumskurve zeigt sich nicht bei Tablets, sondern bei der Mobile Communication. Deren Entwicklung ist zwar auch alles andere denn einheitlich, aber der „traffic“ verlagert sich immer stärker dorthin. Laut Christoph Riess, CEO von WAN-IFRA, beträgt die Marktdurchdringung mit mobilen Endgeräten in Russland bereits 130 Prozent, während das Internet mit 30 Prozent nachhinkt. Damit bieten die mobilen Dienste eindeutig bessere Möglichkeiten, Reichweiten zu verbessern. Ähnliche Trends sind auch in Westeuropa zu beobachten. Die Geschäftsführerin des österreichischen Erfolgsportals derstandard.at, Gerlinde Hinterleitner, die soeben zur „Medienmanagerin des Jahres“ ernannt wurde: „Nicht in erster Linie Tablets, sondern die Smartphones pushen den Vormarsch im digitalen Newsgeschäft. Dort verdoppeln sich die Zugriffe innerhalb eines Jahres. Die Menschen konsumieren auf ihren Mobilgeräten schon um fünf Uhr früh Nachrichten – und hören nicht mehr auf.“ Im Gegensatz dazu werde das iPad tagsüber nicht so intensiv genutzt, die Zahl der Zugriffe steige erst ab 19.30 Uhr deutlich: „Man nutzt es zu Hause auf dem Sofa.“

3. Das Problem, digitale Inhalte zu Geld zu machen

Nur wenige Zeitungshäuser machen im Internet Gewinn. Vielmehr schöpfen Telekommunikationsunternehmen und die großen Brüder wie Google und ähnliche Anbieter Erträge ab. Das scheint weltweit symptomatisch zu sein. Die traditionsreichen Zeitungen wagen die „Transformation“ in die digitale Ära, machen sich die modernsten Techniken zunutze – aber das Geld kommt bei ihnen nicht an. „Wenn wir in der Zeitungsindustrie nicht aufpassen, verlieren wir unser Geschäft an diese Anbieter“, warnt Riess. Die klassischen Werbeeinnahmen gehen kontinuierlich abwärts, auch bei den Auflagenentwicklungen gibt es für USA und Westeuropa nichts Erfreuliches zu sagen. Riess liebt blumige Bildhaftigkeit: „Die Zeitungsauflagen sind wie die Sonne. Sie steigen im Osten und sinken im Westen.”

4. Als Dauerbrennerthema: Bezahlschranken im Internet

Zur Generierung von Internet-Einnahmen empfiehlt der südkoreanische Verleger Jongdo Hong (JoongAng Media Network) Absprachen zwischen Verlagshäusern, die freilich auf dem individualisierten europäischen Markt nicht so leicht herzustellen wären. Die Unternehmen sollten sich darauf einigen, digitale Angebote ab einem gewissen Standard grundsätzlich nicht mehr gratis anzubieten, womit interessierte Zielgruppen gezwungen wären zu zahlen. Klingt fast nach Kartellabsprache.

Dirk Nolde, Managing Editor der „Berliner Morgenpost“, schilderte den Alleingang seiner Zeitung und machte Mut: Im Dezember 2009 wurde ein mildes Zahlsystem gestartet, heute hat die Zeitung 11.000 Abonnenten ihres digitalen Angebots, das für 4,90 Euro pro Monat zu konsumieren ist. „Man muss den Lesern begreiflich machen, wie wertvoll der Paid Content ist, und gleichzeitig darauf hinweisen, dass große Teile der Website frei sind.“

Assistant Managing Editor Jim Roberts von der „New York Times“ hält das Paywall-Experiment trotz mancher Anfangsschwierigkeiten für gelungen: „Es ist größtenteils in Ordnung, ich würde sogar sagen erfolgreich.“ Das neue Businessmodell sei erträglicher als das herkömmliche Anzeigengeschäft: „Wenn die Wirtschaft trudelt, flüchtet der Inserent eher in das digitale Umfeld.“ So hat es ja auch Riess verkündet: Das Anzeigengeschäft geht ins Internet, in vier oder fünf Jahren werde die digitale Aufwärtskurve die sinkende Printkurve kreuzen.

5. Im Aufbau:

Multimedia-Redaktionen

Was die Anpassung an Gesetzmäßigkeiten der digitalen Ära betrifft, so hat wohl noch kein Medienhaus das Ziel erreicht. Diese Tatsache ist nicht nur auf Langsamkeit des Umdenkens zurückzuführen, sondern sys-temimmanent – die Veränderung hat kein Ende und keinen Abschluss. Ob in einem Zeitungsverlag die Redaktionen für Print und Online separiert bleiben oder verschmelzen sollen, ist noch immer eine unentschiedene Frage und vielleicht auch gar nicht so wichtig. Sie wird aber heftig diskutiert, wobei sich beim Wiener Kongress eine erstaunliche Kreativität zeigte, neue zur Umstrukturierung passende Namen zu erfinden: Synergien, Konvergenz, integrierte Redaktion, Inhalteplattform, Onlinepool, Fusionierung (s. S. 46 ff.). Es scheint demnach Bewegung in die Theorie der digitalen Printzukunft zu kommen. Die Begriffe haben übrigens für die Medienmanager eine vorteilhafte Doppelbedeutung. Man kann mit ihrem Gebrauch einerseits die Innovationsfreude des eigenen Hauses belegen, zugleich aber im Stillen hoffen, damit einiges einzusparen.

6. Der ewige Kampf um

Reichweiten

„In Zukunft werden sich Chefredakteure unweigerlich weit stärker auf Multimedia und die übrige digitale Welt ausrichten müssen“, sagt Erik Bjerager, der neue Präsident des World Editors Forum und Chefredakteur und Geschäftsführender Direktor der überregionalen dänischen Tageszeitung „Kristeligt Dagblad“. „Das bedeutet, dass sie vor allem Innovationen und die geschäftliche Seite der Medien im Auge haben müssen. Das Internet ist, wahrscheinlich mehr noch als Print, sehr stark vom Ringen um Reichweite bestimmt. Um die Nutzerzahlen einer Website wesentlich zu steigern, muss man meines Erachtens kommerzieller denken, als wir es im Printbereich bislang gewohnt waren“, skizziert Bjerager seine Internetvisionen.

7. Und immer wieder: Rückbesinnung auf die Wurzeln des Geschäfts

Auf Sonnenuntergangsstimmungen wie diese folgen Beschwörungsformeln, von denen auch Riess einiges in seine trockenen Ausführungen einstreut: „An einem typischen Tag erreichen die Zeitungen um 20 Prozent weltweit mehr Menschen als das Internet.“ Mag sein, nützt aber den Europäern auch nicht viel. Johnny Hustler, Managing Director von Archant Regional in Großbritannien, hält den Ruf nach „Transformation“ überhaupt für eine Eselei: „Viele unserer Unternehmen sind mehr als 150 Jahre alt und weisen wachsende Auflagen aus. Zeigt mir eine Traditionsfirma irgendwo auf dem Markt, die nach 150 Jahren Geschichte noch immer wächst. Wir brauchen nicht Transformation, sondern mehr Evolution.“ Rundherum scharen sich erfahrene Praktiker, die vor einseitiger Sicht der Dinge warnen. So Rolv Erik Ryssdal, CEO des einflussreichen skandinavischen Medienkonzerns Schibsted: „Wir sind vorsichtig. Man muss das Geschäft neu aufbauen und bei den Wurzeln anfangen. Es gibt nicht nur einen Zugang, sondern mehrere. Man muss experimentieren.“

Link:Tipps

Weltzeitungskongress
2011: Das Programm etc. unter www.worldnewspaperweek.org

Weltzeitungsverband WAN-IFRA

www.wan-ifra.org

Twitter-Kanal des Verbands unter @NewspaperWorld

Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 42 bis 43 Autor/en: Engelbert Washietl. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.