„Ich trickse“

Herr Anti, im Herbst wurden Sie vom Potsdamer Medienforum für Ihr Engagement für Meinungs- und Pressefreiheit ausgezeichnet. Was bedeutet der Preis persönlich für Sie?

Michael Anti: Der Preis lenkt die Aufmerksamkeit der chinesischen Behörden auf mich, insofern stellt er ein Risiko dar. Kann sein, dass ich in Zukunft Probleme bekomme, frei ins Ausland zu reisen. Aber gerade in Zeiten wie diesen braucht es jemanden, der deutlich macht, dass wir Chinesen die Meinungs- und Pressefreiheit lieben. Ich habe gründlich über die Konsequenzen nachgedacht, lange mit meiner Frau diskutiert. Dann habe ich entschieden, dass ich in der Pflicht stehe, das Risiko einzugehen.

In der Begründung des Preises hieß es, er sei auch ein Signal an Peking, eine Mahnung für mehr Demokratie. Wirkt das wirklich?

Die Auszeichnung stärkt mir den Rücken, sie zeigt, dass meine Arbeit der vergangenen Jahre richtig war. Allein schon, um dem Preis gerecht zu werden, werde ich weiterhin für Freiheit in China kämpfen. Aber ich bin nur einer von vielen hier, die für Meinungs- und Pressefreiheit eintreten und die den Preis auch verdient hätten. Deshalb ist der Preis auch gut für China, denn er zeigt, dass die Welt uns nicht vergessen hat.

Gibt es tatsächlich viele chinesische Journalisten wie Sie, die sich für Meinungs- und Pressefreiheit aussprechen?

Der chinesische Journalismus hat sich durch die Kommerzialisierung (die Medien müssen sich mit Ausnahme von Parteizeitungen seit 1994 über Werbung und andere Geschäfte selbst finanzieren, Anm. d. Red.) verändert. Die Medien sind Teil der Marktwirschaft, sie teilen die gleichen Werte, glauben eher an eine liberale, bürgerliche Gesellschaft, an globalisierte Märkte. Das Entscheidende ist: Sie wollen die Auflage steigern. Und verkaufen können sie am besten, wenn sie Skandale aufdecken, aufregende Dinge schreiben, ihren Lesern gefallen. Propaganda aber verkauft sich nicht. Dementsprechend gibt es einen Konsens unter den meisten chinesischen Journalisten gegen Propaganda und Zensur.

Im Westen sehen sich Journalisten traditionell als die vierte Macht im Staat. Wie ist das Selbstbild von Journalisten in China?

Die meisten Journalisten kommen aus der Tradition der chinesischen Intellektuellen. Sie wollen den Schwachen in der Gesellschaft eine Stimme geben, sehen sich als anwaltschaftliche Journalisten. Aber es gibt auch eine Menge junger Journalisten, die objektiver sind, amerikanisierter, sie berichten professionell und setzen sich nicht für etwas ein. Ich selbst rechne mich zu dieser Gruppe. Das Ziel, für das ich kämpfe, verfolge ich ausschließlich als Blogger. Aber die schlechte Nachricht ist, dass die Zensur schlimmer und schlimmer wird.

Im Juli wurde das Team des investigativen Reporters Wang Keqin aufgelöst. Und zwei bisher liberale und einflussreiche Zeitungen, die „Beijing Times“ und die „Beijing News“, wurden Anfang September dem lokalen Pekinger Propagandabüro unterstellt.

Ja, statt der Zentralregierung ist jetzt die lokale Pekinger Regierung der Herausgeber – und die sind sehr konservativ. So etwas ist bisher eigentlich nicht vorgekommen.

Wie ist die verschärfte Zensur zu deuten?

Die chinesische Regierung will mit den Mitteln des „sozialen Managements“ um jeden Preis die Stabilität aufrechterhalten, spricht von einer „harmonischen Gesellschaft“. Da-für können sie Skandalreporter nicht gebrauchen. Wenn die Journalisten weiterhin Skandale aufdecken, schadet das dem Regime, das ist der grundlegende Konflikt.

Wird es noch schlimmer werden?

Ja, das wird weitergehen. Und das bedeutet auch, dass mehr Journalisten den Job auf-geben und stattdessen in Beratungsfirmen oder in die PR wechseln oder ihre eigene Internetfirma gründen. Eine Menge Journalisten verlassen gerade den Beruf, vor allem investigative Reporter.

Zuletzt konnte man den Eindruck bekommen, die Medien würden sich etwas öffnen. Warum zieht die Regierung jetzt die Zügel wieder an?

Weil traditionelle Medien und Internet so eng verbunden sind. Die meisten bekannten Journalisten sind sehr aktiv in Blogs oder Mikroblogs, der chinesischen Variante von Twitter. Allerdings hat der Arabische Frühling der Regierung gezeigt, dass sie ohne effektive Kontrolle des Internets Gefahr läuft, die Macht zu verlieren. Deshalb sind die Behörden jetzt auch strenger mit den Medien, dort sehen sie eher eine Handhabe als im Netz.

Welche Rolle spielt das Internet für den chinesischen Journalismus?

Das Internet wird zunehmend ein zweiter Kanal für die traditionellen Medien, denn sie haben dort mehr Freiheiten. Viele Printmedien veröffentlichen zum Beispiel Artikel, die in der Printausgabe zensiert wurden, auf ihrem Blog oder Mikroblog. Denn die chinesische Regierung weiß zwar, wie sie die Druckmedien kontrollieren kann. Das Internet aber ist immer noch vergleichsweise neu und vor allem schnell, man kann also nicht das gleiche Maß an Kontrolle erreichen wie in den gedruckten Medien. Die chinesischen Medien und das Internet sind daher wirklich verschmolzen, da gibt es keinen Konflikt wie in Europa.

Keine Konkurrenz um Leser und Auflagen?

Nein. In westlichen Medien ist das Internet wie ein Nachtisch, dort sind die traditionellen Medien immer noch das Hauptgericht. Aber in China war das Internet von Anfang an das Hauptgericht, weil die chinesischen Medien Zensur und Beschränkung unterliegen und man nur dort verlässliche Informationen bekam. Wir sind nicht übersättigt mit Informationen, uns fehlen sie! Deshalb können auch Zeitungen trotz der Online-Konkurrenz noch gut verkaufen, wenn sie gut genug sind. Das Internet ist ein Segen, kein Fluch für Journalisten: Es hilft ihnen, gute Themen zu finden. Und es hilft ihnen, sich gegenseitig zu helfen.

Wie das?

Wenn man beispielsweise als Reporter in einer Provinz einen Skandal aufdeckt, kann man den in der eigenen Zeitung oft nicht veröffentlichen. Aber man kann die Information an Reporter aus anderen Provinzen oder von nationalen Medien schicken, und dann berichten die darüber. Hier spricht niemand darüber, dass Blogger oder das Internet eine Bedrohung sind, wirklich niemand.

In China gibt es derzeit etwa 400 Millionen Mikroblog-Nutzer, fast so viele wie Internetnutzer. Wie verändern die „Weibo“ das Land?

In den Mikroblogs entsteht gerade zum ersten Mal eine nationale Öffentlichkeit. Über diesen Kanal kann jemand aus den entferntesten Provinzen Menschen im ganzen Land erreichen. So geben die Mikroblogs erstmals auch Bauern, Opfern sozialer Ungerechtigkeit die Möglichkeit, sich zu äußern, ihre Rechte einzufordern oder sich sogar direkt an die Zentralregierung zu wenden. Aber das Wichtigste ist sicher, dass sich so viele Prominente auf Weibo in öffentliche Belange einmischen, über Politik sprechen und ihren Einfluss dort geltend machen.

Sie werden also zu Meinungsführern?

Ja, das ist das wirklich Neue an den chinesischen Mikroblogs. Die Schauspielerin Yao Chen beispielsweise hat 14 Millionen Fans auf Weibo, und sie schreibt dort meistens über soziale Gerechtigkeit. Ich vermute mal, die chinesische Regierung sieht das gar nicht gerne. Vorher dachten sie, wenn Präsident Hu Jintao eine Rede hält, würden viele Menschen zuhören. Aber Yao Chen hören jetzt bei jedem Post 14 Millionen Leute zu – und es geht um Politik. Darin unterscheiden sich die Mikroblogs fundamental von Twitter.

Bei den Umstürzen im Nahen Osten spielten Facebook und Twitter mit eine Rolle. Beides ist im chinesischen Internet nicht zugänglich. Aber können die Mikroblogs eine ähnlich mobilisierende Wirkung entfalten?

Viele Beobachter hoffen, dass in China etwas Ähnliches passieren wird wie in den arabischen Ländern. Aber ich denke, dazu wird es nicht kommen. Denn die privaten Betreiberfirmen der Mikroblogs betreiben Selbstzensur. Man kann auf den Mikroblogs nicht über jedes Thema sprechen, die Firmen löschen alles, was der Regierung nicht passt. Und
was noch entscheidender ist: sie begrenzen die sozialen Verbindungen in den Netzwerken, wenn sich daraus Ansätze einer Bürgergesellschaft entwickeln.

Was bedeutet das?

Man kann über Weibo keine nationale Kampagne organisieren, eine NGO aufziehen oder nur ein Treffen mit mehreren Leuten verabreden. Der große Vorteil für die Opposition in Tunesien war, dass der Facebook-Server in den USA steht. Die Weibo-Server aber stehen in China, die Mikroblogs können von der Regierung kontrolliert werden. Und wenn die Regierung die Betreiberfirmen auffordert, ihre Daten auszuwerten, können sie herausfinden, wer mit wem Kontakt hält, welche Netzwerke es gibt. Das wird bereits heute gemacht. Web 2.0 kann nur eine Wirkung im wirklichen Leben haben, wenn die Regierung keinen Zugang zum zentralen Server hat.

Sie schreiben Kolumnen zu internationaler Politik – spüren Sie die Zensur in Ihrer Arbeit?

Immer mal wieder. Während des Arabischen Frühlings haben wir beispielsweise über-haupt nicht mehr über Nahost-Themen geschrieben. Aber ich habe in dieser Zeit etwas über einen Streik in Wisconsin geschrieben – auch das wurde nicht veröffentlicht, weil das Thema Streik zu heikel schien.

Das heißt, Sie zensieren sich mitunter auch selbst?

Ja, man fasst bestimmte Themen einfach nicht an, um Probleme zu vermeiden. Zum Beispiel während des Machtkampfes in Libyen: Hätte ich etwas geschrieben, hätte ich Gaddafi kritisiert – das aber geht in China nicht. Also habe ich das Thema gemieden. Allerdings mussten wir nach dem Sieg der Opposition in Libyen etwas bringen.

Wie haben Sie es gemacht?

Ich habe Deutschland als Sündenbock benutzt. Gemeinsam mit Russland und China hat Deutschland ja der UN-Resolution gegen Libyen nicht zugestimmt. Ich habe also in meinem Artikel die deutsche Regierung für ihre Dummheit kritisiert, die Sanktionen nicht zu unterstützen …

… und damit indirekt auch die chinesische Regierung kritisiert.

Ja, die Leser verstehen das natürlich, aber man braucht diese Art Tricks. Doch in den meisten Fällen kann ich meine Kolumnen genau so schreiben wie für englische Zeitun-gen. Zum Glück. Würde ich über nationale Politik schreiben, müsste ich in jedem Artikel solche Verrenkungen machen. Und nach ein paar Jahren hätte sich mein ganzes Denken völlig verändert. Ich hasse das! Ich möchte die Dinge direkt ansprechen, ohne drum herumzureden, ohne mich um eine spezielle Wortwahl zu kümmern.

Die deutsche China-Berichterstattung wurde 2010 in einer Heinrich-Böll-Studie als teils ideologisch kritisiert. Ist das gerechtfertigt?

Ich glaube, es gibt einfach zu wenige deutsche Korrespondenten hier. Dass die Berichte manchmal von Wunschdenken geprägt sind – das ist auch in der „New York Times“ so, die extrem korrekt über China schreibt. Aber die Redakteure hoffen eben, dass China sich wandeln wird. Das ist Teil ihres Wertesystems, ich kann das nicht verurteilen.

Ist der Potsdamer Preis nicht auch Ausdruck solchen Wunschdenkens?

Ja, aber das ermutigt uns. Was wir wirklich fürchten, ist, dass der Westen eines Tages wird wie China. Wenn ihr sagt, es ist doch alles okay in China, es ist doch nur Business, dann gebt ihr die Werte auf, die Europa ausmachen, die Menschenrechte. Schickt mehr Reporter nach China, damit ihr ein farbigeres Bild des Landes bekommt. Aber haltet an euren Werten fest.

Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 50 bis 50. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.