Die Intelligenz des Schwarms

Nein, Karl-Theodor zu Guttenberg ist nicht durch das Internet gestürzt worden. Gestürzt ist Guttenberg über seine plagiierte Doktorarbeit und über sein schwaches Krisenmanagement. Aber der Beweis dafür, dass seine Dissertation voller ganz oder teilweise abgeschriebenen Texten war, wurde im Internet geführt: Im „GuttenPlag Wiki“ lieferten tausende Nutzer eine beispiellose kollaborative Rechercheleistung ab. Das „Crowdsourcing“ erlebte seinen öffentlichen Durchbruch in Deutschland. Das Prinzip: Eine große Aufgabe wird von einer großen Zahl Internetnutzern gemeinsam erledigt, die Ergebnisse an einem zentralen, öffentlich einsehbaren Ort dokumentiert. Mitmachen kann, wer will. „Der Antrieb für Crowdsourcing besteht darin, dass man sich in einer Gruppe engagiert, in der man sich gut aufgehoben fühlt und für die gleiche Sache kämpft. Bei GuttenPlag war ganz klar, dass alle Guttenberg etwas nachweisen wollten. Ein Feindbild ist immer das beste Verbindungsglied“, erklärt Dirk von Gehlen, netzaffiner Redaktionsleiter von jetzt.de, den Zulauf für das Wiki.

Medien auf dem Wiki-Trip

Die Causa „GuttenPlag“ führte klar vor Augen, wie gut sich klassische Medien und das Internet ergänzen können: Printmedien und TV-Sender nahmen die Plagiats-Befunde aus dem Netz auf, versuchten das Crowdsourcing-Werk auf ihren eigenen Webseiten zu visualisieren. Sie fanden Ansatzpunkte für neue Drehs zu der Geschichte – etwa, dass Guttenberg auch Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages verwendete, seinen Doktortitel zu früh führte und mehrere Stationen seines Lebenslauf beschönigt hatte. All das verbreitete sich wieder im Netz und fachte die Diskussion um Guttenberg weiter an.

Nicolas Richter, stellvertretender Ressortleiter Investigative Recherche bei der „Süddeutschen Zeitung“, sieht im „GuttenPlag Wiki“ ein „Paradebeispiel, wie Schwarmintelligenz und klassische Medien zusammenarbeiten können. Einmalig an der Guttenberg-Affäre war, dass die Aufklärung noch nie so demokratisch war wie in diesem Fall, weil sie nicht mehr allein Journalisten vorbehalten war.“ Keine Redaktion hätte für sich alleine diese Leistung erbringen können, so zahlreich waren die Plagiate. Neben der Menge der Daten ist auch die Geschwindigkeit ein Vorteil des Crowdsourcings. Während bei Wikileaks die ausgewählten Redaktionen von „Spiegel“, „Guardian“ und „New York Times“ monatelang mit der Auswertung beschäftigt waren, geschah das im Fall Guttenberg binnen weniger Tage.

Deswegen hält auch Sebastian Heiser, Investigativ-Redakteur bei der taz, das Crowdsourcing für „eine tolle Möglichkeit, eine große Menge an Daten zu durchforsten, und als Chance, neue Sachen herauszufinden, zugänglich zu machen und aufzubereiten“.

Wolfgang Michal, seit Jahrzehnten Magazinautor und inzwischen auch Mit-Herausgeber des renommierten Politik-Blogs „Carta“, sieht darin einen positiven Wandel im Binnenverhältnis zwischen Offline- und Online-Welt: „Anhand dieses Falles kann man sehen, dass sich klassische Medien und die Netzwerköffentlichkeit aufeinander zubewegen. Nur die fruchtbare Zusammenarbeit beider führte zum Sturz Guttenbergs.“

Michal hält das „GuttenPlag Wiki“ für die „qualitative Fortsetzung von Wikileaks“. Wo es bei der Leaking-Plattform um die schiere Menge von Daten ging, stand bei „GuttenPlag“ die exakte Dokumentation von Plagiatsstellen im Vordergrund. Das geschah nicht nur auf Textebene, sondern auch visuell: Die Website „Interaktiver Guttenberg Report“ hat jede Seite von „Verfassung und Verfassungsvertrag“ aufgelistet und je nach Plagiatsgrad weiß, hellrot oder dunkelrot eingefärbt (siehe nebenstehende Grafik). Der Demaskierung der Dissertation im „GuttenPlag Wiki“ folgte im Netz eine Remix-Welle, die Guttenberg mit Spott übergoss: mit Etiketten wie „Baron zu Googleberg“, Foto-Collagen wie „Plagiator“ oder Songs wie „Copy Paste (Gutt-Version)“. Ein Fall von kreativem Crowdsourcing.

Die Crowd hilft Fakten prüfen

Auf der anderen Seite hatte Guttenberg auch im Netz eine starke Befürworter-Bewegung, die vor allem auf Facebook aktiv war: Die Seite „Gegen die Jagd auf Karl-Theodor zu Guttenberg“ hatte aus dem Nichts heraus binnen weniger Tage mehr als 400.000 Fans, die direkt nach Guttenbergs Rücktritt gegründete Seite „Wir wollen Guttenberg zurück“ kam in noch kürzerer Zeit auf mehr als 550.000 Anhänger.

Das sind außergewöhnlich hohe Zahlen, die Journalisten aller Mediengattungen zunächst ungeprüft übernahmen, bis sich im Netz Zweifler zu Wort meldeten. Während Alpha-Blogger Sascha Lobo die Zahlen mit einem Crowdsourcing-Experiment auf Plausibilität zu überprüfen versuchte – und urteilt: „weitgehend echt“ –, wählte Marcus Schwarze den klassischen Ansatz. Der Leiter Digitales der „Rhein Zeitung“ in Koblenz rief Tobias Huch an, der die Pro-Guttenberg-Seite ins Leben gerufen hatte und auch zu den Moderatoren der Seite „Wir wollen Guttenberg zurück“ gehört. Der gewährte Schwarze einen Admin-Zugang. Der Redakteur machte Screenshots der Zugriffsstatistiken und stellte sie auf sein „Rhein Zeitung“-Blog „Das Netz nutzen“. „Dass die Nutzer fast alle aus Deutschland und dort aus den großen Städten kommen, sehe ich als Indiz, dass hier keine Fans eingekauft wurden, denn dieser Markt wird von Russen und Amerikanern beherrscht“, sagt Schwarze. Auch im Internetzeitalter bedeutet journalistisches Handwerk: Fakten überprüfen und die andere Seite hören.

Das gilt auch dann, wenn Journalisten selbst die Schwarmintelligenz zu Hilfe rufen. Bekanntestes Beispiel ist das „Guardian“-Projekt „Investigate your MP’s Expenses“. Die britische Zeitung stellte im Sommer 2009 die zuvor vom Parlament veröffentlichten Spesenabrechnungen der britischen Unterhausabgeordneten auf eine eigene Website und rief die Nutzer auf, diese Dokumente auf Unstimmigkeiten zu überprüfen. Über Eingabe der Postleitzahl eines Abgeordneten kommt man auf eine Seite mit dessen Spesenabrechnungen der Jahre 2004 bis 2008. Man kann jede Seite mit „nicht interessant“, „interessant“, „interessant, aber bekannt“ bewerten oder die „Guardian“-Redaktion mit einem Klick auf „investigate this“ zur weiteren Recherche auffordern.

Nicolas Richter hält das „Guardian“-Vorgehen für einen der gezielten Fälle, in denen man Internetnutzer als journalistisches Kollektiv einsetzen könne: „Das ist ein Modell für die Zukunft.“

Taz-Redakteur Sebastian Heiser, der prinzipiell diese Sicht teil, mahnt allerdings auch zur Vorsicht: „Bei der Einschätzung, ob es sich um einen Skandal handelt, ist Vorsicht geboten. Wenn man als Journalist nochmals beim Abgeordneten nachfragt, gibt es vielleicht eine gute Erklärung dafür, dass eine Ausgabe doch in Verbindung mit der Mandatstätigkeit steht.“

Prinzip „Bildblog“

Noch gibt es in Deutschland wenige Beispiele, in denen sich Journalisten regelmäßig der Schwarmintelligenz bedienen. Eines ist das von Stefan Niggemeier gegründete „Bildblog“, das seine Leser an prominenter Stelle um „sachdienliche Hinweise“ zu medialen Fehlleistungen bittet. Anonym oder persönlich, ganz wie es dem User beliebt. „Unsere Leser wissen alles. Wir müssen sie nur fragen. (…) Ohne dieses kollektive Wissen unserer Leser wäre es nicht möglich, mit einem winzigen Grüppchen von Leuten täglich Fehler aufzuzeigen, die 1.000, Bild‘-Zeitungs-Mitarbeiter absichtlich oder versehentlich machen“, schreibt er im Buch „Web 2.0.
Konzepte, Anwendungen, Technologien“ von Tom Alby. Wenn ein „Bildblog“-Post durch einen Lesertipp entstanden ist, machen die Autoren das am Ende transparent: „Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.“

Auch wenn immer noch viele Journalisten mit dem Gedanken fremdeln, die Leser derart stark in das eigene Tun einzubinden: In Zukunft wird daran kein Weg mehr vorbeiführen. Das bedeutet: Mehr als je zuvor müssen Journalisten ihre Fähigkeit als aufmerksame Gesprächspartner beweisen. Darin sieht auch die Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel eine der Kernanforderungen für das journalistische Berufsbild im 21. Jahrhundert: „Sie müssen allein durch das überzeugen, was sie an Neuigkeiten und Geschichten zu liefern in der Lage sind und wie sie diese in die Gesprächsflüsse und Gesprächsräume im Netz einbringen“, schreibt sie in einem Text über „Journalisten an der Crowdsourcing-Front“ für „Focus Online“. Journalisten von heute müssen sich ihrer Meinung nach bewusst sein, dass sie „in Prozesse der kollaborativen Informations- und Geschichtenproduktion“ eingebettet sind sowie „in eine Vielzahl von Öffentlichkeiten, von denen die eigene nur eine unter vielen ist“.

Dass sich die Rahmenbedingungen des Informationsflusses im Informationszeitalter geändert haben, ist auch die Überzeugung von jetzt.de-Redaktionsleiter Dirk von Gehlen: „Man kann als Journalist über das Netz viele Themen generieren, das ist aber nur möglich, wenn man das Netz als Raum versteht, in dem der Journalist nicht mehr auf der Bühne steht, sondern mit den Zuschauern auf gleicher Augenhöhe ist. Wenn er seinen Lesern gut zuhört, wird ihm auch etwas zugesteckt und er ist Wikileaks-artig für Scoops ansprechbar.“

Anonyme Briefkästen

Wikileaks und Co. stellen Journalisten vor neue Herausforderungen, insbesondere was das Aufspüren von Geschichten im Datenwust betrifft. „Dokumente sind noch keine Geschichten“, sagt David Schraven, Leiter Ressort Recherche bei der WAZ, zu Recht. Die WAZ hat im Dezember ein eigenes Upload-Portal eingerichtet: www.derwesten-recherche.org. Obwohl man hier anonym Dateien hochladen kann, möchte Schraven nicht von einem Leaking-Portal sprechen. „Der Unterschied besteht darin, dass wir eine Zeitung sind, bei der nichts ungeprüft veröffentlicht wird. Bei uns gibt es eine eingehende journalistische Bearbeitung und Quellenprüfung, wir stellen Nachvollziehbarkeit her.“

Auch im Leaking-Sektor gibt es schon einen Crowdsourcing-Ansatz. Auf www.crowdleaks.org (s. Kasten) kann jeder Interessierte über Wikileaks-Cables schreiben. Schraven hält davon aber nicht besonders viel: „Da wird das Rad neu erfunden. Eine Geschichte wird erst dann zu einer Geschichte, wenn sie wahrgenommen wird, wenn sie in Massenmedien verbreitet wird.“ Positiver bewertet taz-Kollege Heiser den Crowdleaks-Ansatz: „Journalismus ist, wenn man guten Journalismus macht, und nicht, wenn man bei einer Zeitung fest angestellt ist. Jedem, der das probiert, sage ich: Willkommen, wir brauchen mehr Journalisten, die versuchen, Geschichten weiterzudrehen oder aufzubereiten.“

SZ-Rechercheur Nicolas Richter findet, dass das Schwarm-Modell bei sensiblen Daten, wie sie auf Wikileaks veröffentlicht wurden, nicht mehr funktioniert: „Bei Wikileaks können auch Geheimdienste mitlesen. Das kann Informanten in Lebensgefahr bringen, um so wichtiger ist hier der Quellenschutz.“ Wer sich im Netz bewege, hinterlasse nun mal Spuren. Wer das nicht wolle, könne aber immer noch den klassischen Weg wählen und anrufen oder einen Brief schicken. Der Trend in deutschen Redaktionen geht aber zum (anonymen) digitalen Briefkasten. Die Werkzeuge für journalistische Arbeit ändern sich also, das Publizieren im Internetzeitalter fordert so viel Kommunikationskompetenz wie nie zuvor. Eines aber bleibt: der Bedarf für gründliche Recherche.

Link:Tipps

Das GuttenPlag Wiki, auf dem die Dissertation Karl-Theodor zu Guttenbergs auf Plagiate untersucht wurde: http://de.guttenplag.wikia.com/

„Interaktiver Guttenberg Report“: Visualisierung der Plagiatsseiten von Karl-Theodor Freiherr zu Guttenbergs Dissertation „Verfassung und Verfassungsvertrag“: http://gut.greasingwheels.org/

Die britische Zeitung „The Guardian“ spannte ihre Leser ein, um die Spesenabrechnungen der Unterhausabgeordneten untersuchen zu lassen:

http://mps-expenses.guardian.co.uk/

Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckels Ausblick auf das sich ändernde journalistische Berufsbild: http://bit.ly/hLyBBt

Medium:Online

Das Interview mit Dirk von Gehlen von jetzt.de gibt es als Audio-Datei unter: www.mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 03/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 28 bis 29 Autor/en: Bernd Oswald. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.