Lasst die Spiele beginnen

Alle zwei Jahre, wenn Olympische Spiele und die großen Fußball-Turniere das Sportbusiness dominieren, geht es nie nur um Sport. Es geht um viel Geld, um Einschaltquoten, Marktanteile – und um Politik.

Das war 2010, als in Vancouver die Olympischen Winterspiele und in Südafrika die Fußball-WM stattfanden, nicht anders als es in diesem Jahr sein wird, wenn im Juni die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine sowie dann ab Ende Juli die Olympischen Sommerspiele in London ausgetragen werden. Polen will sich als modernes Land präsentieren, das angekommen ist in Europa. Wogegen ukrainische Despoten und Oligarchen gewissermaßen das Böse symbolisieren: Sie verdienen Milliarden an dem Fußballturnier, sie liquidieren quasi die politische Opposition und sie müssen in diesen Wochen, gerade wegen der skandalösen Behandlung der inhaftierten ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko, internationale Kritik und eine Boykottdiskussion ertragen.

Dagegen sind die Sommerspiele in London vergleichsweise unbelastet. In London fürchtet man vor allem einen Terroranschlag – wie einst im Juli 2005, am Tag, nachdem die Olympischen Spiele an die britische Metropole vergeben wurden. Zu den insgesamt mehr als 20.000 Medienvertretern, die über diese beiden Großereignisse berichten, zählen auch einige Hundertschaften aus Deutschland. Etwa 570 Reporter, Kameramänner, Fotografen und Techniker sind für die EM akkreditiert, rund 800 deutsche Medienschaffende sind im olympischen Einsatz in London (siehe Infokästen).

Nicht alles, was da wieder produziert wird, darf sich Journalismus nennen. Wie immer sind als Journalisten getarnte Jubelperser und Duz-Maschinen unterwegs, wahrlich nicht nur für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, sondern auch für Presse-Publikationen. Sollte die deutsche Fußballnationalmannschaft tatsächlich das EM-Turnier gewinnen, wird dies natürlich die Berichterstattung prägen und andere Aspekte in den Hintergrund drängen.

Ein schmaler Grat

Denn gerade die Inhaber der Fernsehrechte an diesen Mega-Events, ARD und ZDF, wollen einen Teil ihrer Akquisekosten (insgesamt rund 170 Millionen Euro) mit höheren Werbeeinnahmen einspielen. Beide Sender kämpfen zugleich um hohe Einschaltquoten, um sich in der Jahresbilanz, die 2011 eher desaströs ausfiel, wieder dem Marktführer RTL zu nähern. „Die Wichtigkeit eines so hochkarätigen Sportjahres ist unstrittig“, sagt ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz: „Es geht um die Quote und das Image des Hauses.“ Gleichzeitig verspricht Gruschwitz, die journalistische Verantwortung ernst zu nehmen. „Wir bieten eine umfassende Berichterstattung: Die politischen Geschehnisse werden den Sport begleiten.“

Es ist wie immer ein schmaler Grat zwischen geschäftlichem Interesse und journalistischem Auftrag. Zwischen Jubelberichterstattung und Recherche. Zwischen Bequemlichkeit und Aufrichtigkeit. In diesem Umfeld kommt Journalismus oft genug zu kurz, auch weil viele Hierarchen – ob nun Chefredakteure oder Intendanten – derlei Events traditionell vor allem dem Unterhaltungsbusiness zuschreiben. „Scheinheiligkeit und Heuchelei dominieren leider in den Medien“, sagt der freie Journalist Olaf Sundermeyer, ein exzellenter Osteuropa-Kenner.

Sundermeyer hat im Werkstatt-Verlag gerade sein Buch „Tor zum Osten“ vorgelegt und betreibt mit Kollegen auf der Internetseite des RBB das gleichnamige Blog, eine hochklassige Sammlung von politischen Hintergrundgeschichten zur Europameisterschaft. „Das werden zwei völlig unterschiedliche Turniere“, sagt Sundermeyer. „Die Polen treiben mit dem Fußball die Europäisierung voran. Dagegen ist die EM in der Ukraine eigentlich ein Verbrechen.“ Nicht nur die Funktionäre der Europäischen Fußball-Union (UEFA), die der Ukraine stets die Treue hielten, hätten es besser wissen müssen, auch die westeuropäischen Medien und Politiker. „Das läuft in der Ukraine schon immer so. Aber das hat bis jetzt kurz vor dem Turnier kaum jemanden interessiert.“ Nun wundert man sich darüber, dass die Mafia die Hotelpreise diktiert und dass Präsident Viktor Janukowitsch nur eine Marionette des Donezker Oligarchen und Fußball-Patrons Rinat Achmetow ist. „Man hat alles wissen und beschreiben können“, sagt Sundermeyer und kritisiert auch die vielen deutschen Fußballreporter, die in den vergangenen Jahren Europapokalspiele in Lemberg, Charkiw, Kiew oder Donetsk besucht haben, ohne die Hintergründe der neuen Pracht aufzuzeigen. „Das entsetzt mich“, sagt Sundermeyer, der seit langem in der Region recherchiert.

Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass als Teamchef der ARD für die Fußball-EM 2012 ein Mann mit exzellentem Ruf agiert: WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn. Er sagt, es handele sich um das politischste Fußballturnier aller Zeiten. Beim ZDF gehört mit Theo Koll, dem Leiter der ZDF-Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen, ein Nicht-Sportler zum Team und soll hintergründigen Journalismus garantieren. Das ist nötig. Eine taufrische Stellungnahme der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ für den Sportausschuss des Bundestages besagt: „Vorrangiges Ziel der EM in der Ukraine ist die persönliche Bereicherung der an der Vorbereitung Beteiligten. Andere Ziele sind höchstens zweitrangig.“

Unterwegs im Tross des DFB

Die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) von Bundestrainer Joachim Löw bezieht während der EM in Danzig Quartier und fliegt zu den drei Vorrundenspielen jeweils einen Tag vorher in die Ukraine – und unmittelbar nach den Partien wieder zurück. Im Tross dann auch die Hundertschaft von Reportern, die aus dem deutschen Lager berichtet. Die Kollegen haben sich nicht nur den Regularien der ausrichtenden Europäischen Fußball-Union zu unterwerfen, sondern zusätzlich den Regeln, die der DFB aufstellt. „Im Grunde läuft es auf eine Art Embedded Journalism hinaus“, sagt Markus Völker, der als Sportredakteur der „taz“ bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 über das DFB-Team schrieb und auch im Juni wieder dabei sein wird. „Bei derlei Terminen kann man sich als Journalist nie frei bewegen“, sagt Völker. „Beschränkungen sind immer da. Journalisten müssen damit umgehen und das Beste draus machen.“

Eines der größten Probleme ist stets der Zugang zu den Akteuren. Der DFB veranstaltet auch diesmal tägliche Pressekonferenzen, die im Fernsehen und im Internet übertragen werden. Durch diese Termine erlangte Pressesprecher Harald Stenger mit seinem schnoddrigen hessischen Charme während der WM 2006 in Deutschland einen gewissen Kultstatus. Die meisten Reporter sind um exklusiven Zugang und vermeintliche Exklusivinformationen bemüht, wofür sich Pressekonferenzen naturgemäß nicht eignen. Es ist aber schlichtweg unmöglich, alle Interviewwünsche zu erfüllen, weshalb Stenger & Co. für die schreibende Zunft seit langem sogenannte Pool-Lösungen anbieten: So sitzen dann also stets Kollegen mehrerer Medien mit Nationalspielern oder Trainern zusammen. Einzeltermine gibt es kaum, maximal für „Spiegel“, „Bild“, FAZ oder „Süddeutsche“. Wer wie bedient wird, das entscheidet Stenger.

„Im Grunde ist man auf den Goodwill des DFB angewiesen“, sagt Völker, „und weil die Redaktionen Druck machen und Interviews wollen, lassen sich viele Kollegen auf diesen Deal ein.“ Der „taz“-Sportredakteur hat den Nationalmannschafts-Sprecher jedoch stets als „sehr professionell“ erlebt, als einen PR-Mann, „der kritische Leute nicht ausgrenzt“ und nicht zu Abstrafungsaktionen neigt. Stengers Motto ist: Reden, reden, reden. Wie andere DFB-Sprecher vor ihm – „Kicker“-Herausgeber Rainer Holzschuh und der heutige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach – war Stenger lange Jahre selbst als Fußba
llreporter unterwegs. Er hatte seit der WM 1974 in Deutschland für die „Frankfurter Rundschau“ von sechs WMs und drei EMs berichtet. Seit 2002 ist er in den Diensten des DFB und organisiert nun die Medienarbeit seines sechsten großen Turniers. „Die Poolbildung führt anspruchsvollen Journalismus, wie ihn die Leser von uns erwarten, ad absurdum“, sagt Markus Völker. Die „taz“ gehört zu den ganz wenigen Medien, die ihren Lesern die Umstände von derlei Interviews erläutert. „Wir verkaufen unseren Lesern nichts Falsches, sie sollen erfahren, wie diese Termine ablaufen.“

Die meisten Medienvertreter aber halten nichts von dieser Art Transparenz. Interviews, die aus Einzelgesprächen resultieren, segnet Stenger jedoch ab. „Das ist für mich Autorisierung, nicht Zensur“, sagt er. „Was dagegen bei offiziellen Terminen in den Pressekonferenzen und in der sogenannten Mixed Zone gesagt wird, ist gesagt, fertig, ab.“

Ernsthafte Probleme sind vergleichsweise selten, weil sich alle dem DFB-Reglement beugen. Nur „Zeit Online“ machte bei der WM 2010 eine Ausnahme, als Redakteur Steffen Dobbert über sein Interview mit Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff berichtete, das Bierhoff und Stenger nicht mehr veröffentlicht haben wollten. Dobbert schrieb unter der treffenden Überschrift „Sympathisch, aber selbstzensierend“ eine Geschichte über Bierhoff, Stenger und die Medienmacht des DFB und führte als Interview nur noch alle Fragen auf – die Antworten fielen weg.

Eine andere spannende Frage dieses Sommers wird lauten, wie die Verbände mit den rasant anwachsenden Social-Media-Aktivitäten der Sportler umgehen. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hatte 2008 in Peking, als die Tibet-Krise und Menschenrechtsfragen weltweit debattiert wurden, in seinen „Social Media Guidelines“ vielkritisierte Verbote formuliert. Politische Äußerungen sind unerwünscht, so steht es schon in der Olympischen Charta. Sebastian Coe, Chef des Londoner Organisationskomitees, spricht nun von den „ersten olympischen Social-Media-Spielen“.

Twittern verboten

Auch die DFB-Verantwortlichen stellen sich diesem Thema, selbst wenn Stenger bekennt, „das wohl nicht mehr zu lernen“. Die Spieler aber tweeten munter drauflos und sorgen zunehmend für Irritationen, ob nun Mats Hummels eine Schwalbe eines Kollegen aus Mönchengladbach kritisiert oder Per Mertesacker ein Foto seines lädierten Knöchels veröffentlicht.

Oliver Bierhoff hat die Nationalspieler bereits über den neuen Verhaltenskodex informiert, Stenger fasst die Social-Media-Regeln so zusammen: „Spieler dürfen sich über alles äußern, aber keine Bilder von Verletzungen einstellen, keine Bilder aus offiziellen UEFA-Räumlichkeiten veröffentlichen und keine Informationen über Mannschaftsinterna weitergeben. Äußerungen über Gegner und Schiedsrichter sind tabu, wie Verlinkungen zu kommerziellen Partnern der Spieler.“ Politische Stellungnahmen, etwa zur Situation in der Ukraine, sind ebenso unerwünscht. Natürlich.

Die Boykott-Diskussion geht derweil weiter. Bundespräsident Gauck hat einen Besuch in der Ukraine kurz vor EM-Start abgesagt, Bundeskanzlerin Merkel lässt vieldeutig ausrichten, sie habe „noch keine Reisepläne“ für eine Reise zur EM, der Geschäftsführer von Meister Borussia Dortmund Hans-Joachim Watzke erklärt kategorisch, er fahre nicht.

Währenddessen bezieht einer klar gegen einen EM-Boykott Stellung: DFB-Präsident Wolfgang Niersbach. Denn offiziell gilt in der Branche ja das heuchlerische Motto, Politik und Sport hätten nichts miteinander zu tun. Viktor Janukowitsch und Rinat Achmetow, die Absahner aus der Ukraine, sehen das gewiss ebenso.

Jens Weinreich ist freier Journalist und Experte für Internationale Sportpolitik.

www.jensweinreich.de

Erschienen in Ausgabe 04+05/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 46 bis 47 Autor/en: Jens Weinreich. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.