„Das Medium ist die Botschaft“ – Rückblende1986

Sebastian Turner interviewte den Medienkritiker Professor Neil Postman für die erste Ausgabe von „medium magazin“ 1986 zur Zukunft der Medien. Nachfolgend der Originaltext von damals im Wortlaut:

„Natürlich, „wir amüsieren uns zu Tode“, wie sein jüngstes Buch in deutscher Sprache plakativ warnt, aber er schmunzelt, als er es wieder holt. Neil Posturan (55), Professor für „Medienökologie“ an der New York University, ist einer der schärfsten Kritiker des amerikanischen Fernsehsystems. „Echt“ sei nur noch, was auch vom Fernsehen übertragen werde, Empfindungen aus Realität und elektronischer Konserve vermischten sich, das Fernsehen beeinflusse nicht nur was, sondern auch wie wir denken. Das Medium verändere nicht nur die Form der Nachricht, sie verändere auch deren Inhalt: „Das Medium ist die Botschaft“. Im Exklusiv-Interview mit MediumMagazin prophezeit Neil Posturan Europa eine dunkle Zukunft, wenn das Privatfernsehen nicht aufgehalten wird. Möglicher Verbündeter der siechenden Lesekultur könne – so sieht es Postman – der Computer werden.

SEBASTIAN TURNER: Professor Postman, wann, haben Sie sich zuletzt amüsiert?

NEIL POSTMAN: Ich amüsiere mich immer. Ich bin ein humorvoller Mensch.

Und Sie sind immer noch am Leben?!
(lacht) – Mit „amüsiert‘ meine ich in meinem Buch et was anderes. Ich bin nicht gegen Fröhlichkeit, aber was dass Kommerzfernsehen mit sich bringt, ist eine neue Dimension.

Und die ist tödlich?
Wenn Sie so wollen, ja! Sie tötet den Geist und die Kultur.

Können Sie das erläutern
Sehen Sie sich Amerika an. Das amerikanische Fernsehen verpackt alles in Unterhaltung und Show. Alles wird „amüsant“ gemacht. Aber eine Kultur kann nicht blühen, wenn die Menschen nicht ernsthaft diskutieren können.

Und Ernsthaftigkeit wird durch die Unterhaltung im Fernsehen unmöglich?
Genau.

Aber in Ihren Vorträgen haschen Sie selbst mit Scherzen und rhetorischen Tricks nach Lacher und…
… dass ein Redner die Aufmerksamkeit seines Publikums auch durch Unterhaltung erwecken will, ist klar. Das war immer so.

Warum soll dann das Fernsehen darauf verzichten?
Das Fernsehen missbraucht die Unterhaltung. Es vergisst die Substanz, denn es geht gar nicht mehr um den Inhalt. Das sehen Sie daran, dass Nachrichten in Amerika fast nur noch nach ihrem Unterhaltungswert ausgesucht werden. Selbst die Nachrichtensprecher werden nach ihrem Aussehen beurteilt und ausgewählt. Ein Sprecher muss schön sein, um bestehen zu können. Er verbringt mehr Zeit unter dem Fön, als über seinen Skripten.

Einen Pantomimen wird man ja auch nicht als Radiosprecher beschäftigen, warum sollten die Moderatoren eines Bild-Mediums nicht attraktiv aussehen?
Fernsehen und Radio unterscheiden sich hier entscheidend. Natürlich muss der Radiosprecher eine deutliche Stimme haben, aber das Radio zwingt uns zuzuhören, aufmerksam zu sein. Beim Fernsehen jedoch, ist das Bild viel anziehender als die Sprache. Alles was nicht bildlich ist, wird nebensächlich.

Und das „bedroht die Fundamente jeder Nation in Europa“, wie Sie geschrieben haben?
Ja. Karl Marx schrieb im letzten Jahrhundert, „ein Gespenst geht um in Europa.“ Er meinte den Aufstand des Proletariats. Das Schreckgespenst, das ich meine, ist das kommerzielle Fernsehen. Überall in Europa, egal ob in Deutschland, Schweden, Frankreich, Holland, in der Schweiz, wird die gespenstische Gestalt des Kommerzfernsehens spürbar.

Ist das ein Mangel des Mediums Fernsehen oder der besonderen Spielart Kommerzfernsehen?
Es ist ein Mangelndes Fernsehens, der beim kommerziellen am offensichtlichsten und am gefährlichsten ist.

Aus welchen Gründen?
Die einschneidenste Veränderung in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ist der Niedergang des Buchdrucks und der Anbruch des Fernsehzeitalters. Das führt zu einer unwiderruflichen Verschiebung des Inhalts des öffentlichen Gedankenaustausches. Denn alles muss so geformt sein, dass es über das Fernsehen vermittelt werden kann: Politik, Religion, Bildung – alles! Diese Umformung verändert den Inhalt. Und das ist die Bedrohung. Das Medium ist die Botschaft.

Worin besteht die besondere Bedrohung durch das Kommerzfernsehen?
Beim werbefinanzierten Fernsehen wird der Bildschirminhalt ganz und gar zur Ware. Ein gebührenfinanzierter Sender muss sich nicht sklavisch an die Einschaltquoten und damit an den Massengeschmack halten. Er kann auch für Minderheiten Anspruchsvolles senden.

Mehr Programme, ist also Ihr Schluss, heißen nicht mehr Auswahl?
Ja und nein. Sie können aus immer mehr Kanälen immer Ähnlicheres auswählen.

Dalles als Alternative zu Denver?
So ist es. Das Hauptinteresse der Fernsehsender muss beim Kommerzfernsehen sein, dass den Werbetreibenden immer mehr Zuschauer – sprich Konsumenten – zugetrieben werden, um immer mehr Geld zu verdienen. Was die meisten Zuschauer anlockt, wird bleiben. Alles andere verschwindet. Sendungen, die in der USA weniger als zehn Millionen Zuschauer erreichen, wer den abgesetzt: wegen Unpopularität! Zehn Millionen! Nur ein Massengeschmack wird befriedigt. Zwar in vielen Variationen – aber doch immer gleich.

Bis schließlich auch diejenigen, denen dies nicht zusagt, Gefallen daran finden?
… durch Gewöhnung. Genau dies sagt Aldous Huxley in seinem Buch Schöne Neue Welt. – Orwell hatte unrecht. Er spricht in seinem Buch 1984 vom Großen Bruder, vom Vergewaltiger. Dem Vergewaltiger ist das Opfer egal. Der Verführer aber muss sich auf den Willen und den Charakter des begehrten Objekts einstellen, denn er will ja weniger ein Opfer, als vielmehr einen Komplizen.

Die schönen neuen Medien… – Warum glauben Sie, in Deutschland müsse es so kommen wie in den USA? Die seit Jahrzehnten bei uns bestehenden öffentlich-rechtlichen Sender haben Sehgewohnheiten geprägt, an denen sich auch neue Anbieter orientieren müssen.
Ein guter Gedanke. Aber ich glaube, dass er nicht wasserdicht ist. Wenn Sie an den enormen Erfolg amerikanischer Fernsehserien im Ausland denken: Denver und Dallas – wie schon gesagt – Bonanza und wie sie auch heißen, sie sind überall auf der Welt sehr populär, und die Menschen lieben sie mehr als alles andere im Fernsehen. Die staatlichen Sender fangen ja schon an, den Stil zu kopieren…

.. wie mit der Schwarzwaldklinik in Deutschland.
Ja. Überall auf der Welt setzt sich ein Stil durch, der mit Oberflächlichkeit besonders viele Menschen anspricht, die die Produzenten dann an die Werbewirtschaft „weiterverkaufen“ können.

Mit der Abhängigkeit von der Werbung ergibt sich aber Unabhängigkeit von der Politik. In Deutschland üben die Parteien großen Einfluss auf die Sender aus, weil sie in den Aufsichtsgremien vertreten sind, und die Parlamente die Gebühren bewilligen.
In den USA ist diese Partei die Firma Procter und Gamble.

Ihr geht es aber nicht um politischen Einfluss, sondern „nur“ um Profit.
O. K. Da haben die staatlichen Systeme einen Nachteil. Aber ich glaube nicht, dass er so schwerwiegend ist, wenn man ihn an den „politischen“ Nachteilen der Kommerziellen misst. In den Werbekanälen ist das Wichtigste das schnelle Verständnis. Diskussionspartner werden nicht nach ihrem politischen Standort ausgewählt, sondern nach ihrer Medientauglichkeit. Wer vereinfachen kann, setzt sich durch: Argumente, die zu erklärungsbedürftig sind, werden nicht gesendet.

Eine „Zensur“ für das Vielschichtige?
Ja, das Fernsehen vermittelt den Eindruck, weil nur einfache Lösungen angeboten werden können, dass alles einfach zu lösen ist. Eine schlimme Entwicklung. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass natürlich auch in privaten Sendern Politik eine Rolle spielt. In den USA ist es wichtig, als Politiker einen guten Beraterstab und viel Geld zu haben, um mit Werbespots die Wähler zu sammeln. Man sollte nicht glauben, der Staat sei der größte Feind der Freiheit. Sender, die keiner staatlichen Kontrolle unterliegen, sind so unpolitisch, dass sie jede Politik vertreten würden, nur um Zuschauer anzuziehen. Solche Sender können sich zu einem gefährlichen Forum für populäre Vorurteile entwickeln, die die Massen verführen.

Dennoch gibt es keine Diktatur, die ihr Rundfunkmonopol aufgibt, um die Bevölkerung mit einem Kommerzkanal zu manipulieren.
Richtig. Diktatoren sind Große Brüder, keine Verführer.

Professor Postmann, Ihr Gedanke, dass eine Kultur an der Unterhaltungsindustrie zugrunde gehen kann, fand international große Verbreitung, obwohl sie ihn „nur“ als Buch, nicht aber als Fernsehshow veröffentlicht haben. Ist das ein Widerspruch?
Nein. Wer liest denn mein Buch? Nur die Leute an den Schaltstellen der Macht, denn sie sind noch Leser. Ein Buch kann dort wohl eine gewisse Bekanntheit erlangen – für die gesamte Bevölkerung ist das ein Klacks, denn sie liest kaum noch.

Es werden Bücher in immer höheren Auflagen gedruckt, es erscheinen jährlich immer mehr Titel und niemand liest all‘ das?
In Deutschland mag das noch anders sein. Tatsache ist aber, dass die Zahl der Analphabeten und Aliteraten steigt.

Aliteraten?
Das sind Leute, die lesen können, es aber nicht tun. In den USA gehen wir von 60 Millionen Analphabeten und nochmals so vielen Aliteraten aus.

Über die Hälfte Ihres Volkes kann kein Buch bedienen?
Erkennen Sie jetzt die Gefahr? Das wird in Europa kaum anders werden.

Professor Posturan, wie ordnen Sie als Gesellschaftswissenschaftler die Computertechnologie in diesen Zusammenhang ein?
Ich bin mir nicht sicher. Es kann sein, das der Computer die am meisten überschätzte Technologie überhaupt ist. Bisher hat der Computer seine Wirkung nur in Riesenorganisationen entfalten können.

Wie bewerten Sie seine Wirkung dort?
Der Computer ist für die Menschheit von sehr positiver Bedeutung, das ist ganz offensichtlich.

Wird der Computer das Bewusstsein verändern, so wie Sie es dem Fernsehen zugeschrieben haben?
Eine interessante Frage. Es kann sein, dass sich der Computer zum großen Verbündeten der Schriftkultur entwickelt, vorausgesetzt, die Menschen lernen, wie man programmiert. Denn um programmieren zu können, müssen Sie über das Denken nachdenken.

Aber in einer Computersprache, nicht in English oder Deutsch.
Die Sprache ist gleichgültig, denn es ist immer ein analytischer Vorgang. Sequentiell. Logisch. Das macht Programmieren zum Verbündeten der literarischen Tradition. Alles hängt davon ab, ob das Programmieren unterrichtet wird, oder ob der Computer wie ein Taschenrechner benutzt wird. Was ist 8 x 7? Sie drücken die entsprechenden Tasten und haben das Ergebnis – nicht aber begriffen, wie es zustande gekommen ist.

Gibt es eine Wechselwirkung zwischen Computer und Fernsehen?
Wenn die Fernsehgesellschaft den Computer nur nutzt, um Pac-Man zu spielen, wird der Computer die negative Wirkung des Fernsehens noch verstärken. Der Computer ist der große Verbündete der Lesekultur. Wenn wir programmieren und nicht Pac-Man spielen.

Reden für die Kamera – Tipps von Neil Postman: „Fang Deine Rede erst mal an. Nach spätestens zwei bis drei Minuten mußt Du unterbrechen. – Für eine Werbeeinblendung. Stell Dich darauf ein, indem Du Deine Aussage scheinbar zuspitzt, bevor die Unterbrechung eintritt. Nach der Werbesendung musst Du Dir etwas Zeit nehmen, um mit dem Finger auf einige hübsche junge Frauen im Publikum zu zeigen. Sag, dass es Freunde von Dir sind und Du Dich freust, dass sie gekommen sind. Das macht alles sehr persönlich. Die Kamera macht von den Frauen „dose-up-shots“ (Nahaufnahmen). Das steigert das Interesse der Zuschauer. Jetzt kannst Du wieder für zwei, drei Minuten etwas „sagen. Rede nicht zu schnell und benützte viele Bilder, damit Dir alle Zuschauer folgen können. Jetzt solltest Du die Krawatte lockern. Die Leute werden neugierig, was jetzt kommt: Ein Werbespot.

Wieder setzt Du die Rede für einige Minuten fort. Bleibe immer ganz konkret und überanspruche die Zuschauer nicht mit abgehobenen Gedanken, die kompliziert sind. Öffne Dein Jackett und ziehe es mit einer Verzögerung aus. Schau dabei immer ganz intensiv in die Kamera, die Zuschauer dürfen nicht losgelassen werden. Krempel jetzt den rechten, dann den linken Ärmel hoch. Aber beeile Dich, damit bei der Ausblendung kein unsymmetrisches Bild bleibt. – Und wieder Werbung.

So geht es endlos weiter.“