Dominik Wichmann: „Wir provozieren noch zu wenig“

 „Stern“-Chefredakteur Dominik Wichmann über die Bilanz seiner ersten Monate an der Spitze des Gruner+Jahr-Flaggschiffs – und seine Pläne für 2014. Das Wortlaut-Interview zum Beitrag „Der Krach wird kommen“ in  „medium magazin“ Nr 12-2013

Heute ist Mittwoch, der neue „Stern“ liegt ab morgen an den Kiosken. Sind Sie immer noch aufgeregt in Bezug auf den Verkauf des nächsten Titels?

So  angespannt wie in den ersten Monaten als Chefredakteur bin ich nicht mehr. Aber natürlich bin ich sehr gespannt darauf, was ich am Freitag für eine Hochrechnung bekomme. Es dreht sich sehr viel um den Verkauf, und das ist die zentrale Botschaft vor jedem Wochenende.

Und auch am Sonntag wird beim „Stern“ viel gearbeitet?

Der Heftdienst hat eigentlich das ganze Wochenende zu tun. Der Sonntag ist auch ein „Stern“-Tag, weil es schlicht nur noch 48 Stunden vor Deadline sind. Die wichtigen Strukturentscheidungen fallen alle am Sonntag. Man hat die Ruhe, über Dinge nachzudenken, man liest die ganzen Manuskripte. Auf Grund der Entwicklungen und dessen, was die Konkurrenz macht, kann man einschätzen, wohin die Woche geht. Am Sonntag wird die Woche gemacht, auch mit den Talkshows zum Beispiel. Und es wird viel telefoniert mit Ressortleitern, mit Autoren, mit Fotografen.

Der Relaunch des „Stern“ ist jetzt acht Monate her. Was gab es im Rückblick betrachtet an wichtigen Reaktionen, was hat sich verändert?

Insgesamt war es in der Geschichte des „Stern“ ein sehr tiefgreifender Einschnitt. Dabei ging es nicht nur um das Heft, sondern um das Ziel: Wir machen eine Marke. Eine Marke, in der das Heft eine ganz entscheidende Stellung einnimmt, gleichwohl nicht die einzige. Aber man musste den Workflow so gestalten, dass man in verschiedenen Feldern unterwegs sein kann: Print, Digital, klassisches Analoggeschäft, Events. (Er spricht jetzt sehr schnell. Und auch wenn er diese Dinge wahrscheinlich schon oft gesagt hat, hat man den Eindruck, er spräche von einem gerade neuentdeckten Erdteil.) Und diese Umstellung war für die Redaktion eine deutlich größere Veränderung als nach außen hin sichtbar. Es war eine fundamentale Änderung, weil wir beim „Stern“ plötzlich in einer Matrixstruktur zusammenarbeiten. Dabei ging es nicht nur um das Printprodukt. Der Prozess „Nordwind“, wie er bei uns intern heißt, ist vielmehr die Metapher für eine Veränderung – nicht für ein Ergebnis. Es geht darum, eine Medienmarke wie den „Stern“ in einen permanenten Beta-Betrieb zu versetzen, auszuprobieren und zu optimieren. Nach der ersten Nordwind-Änderung hat es inzwischen vier weitere Nordwind-Phasen beim Printprodukt gegeben, die wir aber nicht groß kommuniziert haben. Und weitere Phasen folgen. Es gibt zahlreiche Slots, die mittlerweile gelaufen sind, unter der Oberfläche. Wir haben das Heft sukzessive verändert. Wichtig ist ein begleitender, behutsamer Wandel. Die strukturellen Veränderungen werden wahrgenommen: Abonnenten bewerten sie positiv. Wir haben zum ersten Mal seit vielen Jahren eine leicht positive Entwicklung im Verlagsabo-Bereich. Auch im Einzelverkauf stabilisieren sich die Zahlen. Das war uns besonders wichtig. Niemand hier wollte, dass es eine Geschichte wird, bei der wir uns alle freuen, aber die Leser das nicht gut finden.

Darüber ist man ja schon froh.

Klar. Weil es nicht nur darum geht, sich die Welt schön zu reden, sondern weil die Einzelverkaufsauflage eine wichtige, aber nicht die einzige Währung ist. Genauso wichtig sind für uns die Abonnenten. Und genauso wichtig ist für uns der Auflagenerfolg von „Viva“. Das heißt, dass die Gesamtmarke – kommend von „Neon“, „Nido“, „View“ und  „Stern“ – durch die gesamte Zielgruppe hindurch bis hin zu den digitalen Angeboten eine Gesamtreichweite hat, die nicht nur stabil ist, sondern wächst.

Gab es auch Veränderungen am Heft, die wieder zurückgenommen wurden?

Nein, im Gegenteil. Wir haben es forciert. Eigentlich war geplant, die zweite Nordwind-Welle der Heftveränderung erst im Januar 2014 umzusetzen, das haben wir jetzt schon im August getan. Die dritte Welle war gerade, die vierte kommt im Januar. Weil wir gemerkt haben, dass der Titel noch moderner sein kann. Sie sehen es ja auch an den Covern. Die Mechanik, wie die Cover sich entwickeln, hat sich total beschleunigt. Die Kollegen in der Titelgrafik leisten exzellente Arbeit.

Unsere eigene kleine Statistik besagt, dass sich im Zeitraum März bis Oktober 2013 die Titel „Die Tricks der Optiker“ (25. Juli, Einzelverkauf 277 000), „Mütter“ (27. März EV 276 000) und „Mallorca – Die dunkle Seite der Ferieninsel“ (8. August, EV 271 000) am besten verkauft haben, „Das große Zittern“ zu den Bundestagswahlen (19. September, EV 194 000) und „Angelina Jolie – Hoffen oder handeln?“ (23. Mai, EV 204 000) am schlechtesten. Woran liegt’s?

Wenn man über Cover redet, ist es ganz wichtig, sie nicht über einen Kamm zu scheren. Es gibt kaum Zusammenhänge zwischen gut verkauften und gut verkauften und kaum Zusammenhänge zwischen schlecht verkauften und schlecht verkauften.

Eine These hier wäre vielleicht „Service verkauft sich gut“.

Nein, das stimmt so pauschal nicht. Es spielen ganz viele Gründe eine Rolle. Das Wichtigste für den Betrachter ist nur: Gefällt’s mir oder gefällt’s mir nicht. Dahinter liegen aber dutzende Kriterien, die zusammenspielen:  Bildsprache, Licht, Ansprache, Headline, Typographie, Thema, Aktualität, Weitervermarktung, Fernsehwerbung und vieles mehr. Man kann nicht sagen Service funktioniert oder Storytelling. Wenn es so einfach wäre, gäbe es nicht solche Schwankungen bei allen im Markt. Bei den Bundestagswahlen haben alle, „Spiegel“, „Zeit“, „Focus“, schlecht verkauft.

Und trotzdem haben Sie sich entschieden, die Wahlen aufs Cover zu nehmen. Muss das der „Stern“?

Wir sind eine Marke. Und eine Marke, die über Jahre nur noch das macht, was angeblich am Kiosk funktioniert, verliert ihre Glaubwürdigkeit. Es ist wichtig, auch in Image und Positionierung zu investieren. Und wenn der „Stern“ zur Bundestagswahl kein politisches Thema macht, kann er für sich weniger in Anspruch nehmen, auch ein politisch-gesellschaftliches Magazin sein zu wollen. Klar verkauft sich Syrien auf dem Titel schlecht, das kann ich Ihnen vorher sagen. Trotzdem haben wir Syrien gemacht, und Syrien hat sich schlecht verkauft. Es geht um die Mischung und darum, dass wir in die Glaubwürdigkeit einer Marke investieren. Weil ich als Konsument einer Marke, die sich den gesellschaftlich relevanten Themen widmet, auch die Glaubwürdigkeit zuspreche, wenn es um Servicethemen geht. Es ist wichtig, die Marke nicht inhaltlich ausbluten zu lassen, so wie es andere Wochenmagazine in der Vergangenheit getan haben.

Haben Sie bei dem Angelina Jolie-Titel eine Idee, warum der so schlecht lief?

Ja, wir haben das analysiert. Unsere erste Vermutung war, es liegt daran, dass wir erst eine Woche nach dem Bekanntwerden dieses Falles herausgekommen sind. Das hat sich als Irrtum herausgestellt. Wir haben mit den Kollegen von den Boulevardzeitungen telefoniert und versucht, noch einmal Zahlen zu bekommen. Dabei wurde deutlich, dass Zeitungen, die am Tag danach herauskamen, auch minus 10 Prozent hatten. Meine Erklärung ist inzwischen folgende: Angelina Jolie teilt gewissermaßen die Zielgruppe. Für Männer ist sie ein Symbol für Weiblichkeit. Viele Männer wollen nichts dazu lesen, dass sie sich ihre Brüste hat amputieren lassen, weil sie das fast schon als Negation von Weiblichkeit empfinden, so hart das klingen mag. Das heißt, weniger Männer kaufen diesen Titel. Viele Frauen, hier in der Redaktion oder auch in der Marktforschung, sagen: Ich will mich mit dem Thema nicht konfrontieren. Das belastet mich zu sehr, ich möchte nicht, dass das auf meinem Wohnzimmertisch liegt. Im Grunde haben wir nicht nur die Zielgruppe halbiert, sondern wir kamen an einen Punkt, dass sowohl Männer als auch Frauen sehr individuelle Gründe hatten, diesen Titel nicht zu mögen. Ein Titel, der nicht gemocht wird, wird auch nicht gekauft. Wir haben sehr viele Untersuchungen dazu gemacht, auch um daraus zu lernen.

Und warum liefen die Optiker so gut?

Es war ein relativ modernes Cover. Es kam zu Beginn des dritten Quartals, das traditionell ein gutes Quartal für den „Stern“ ist, weil die Leute in Urlaub fahren und Zeit haben zu lesen. Weil es sehr starken Service verspricht bei einer individuellen Kaufentscheidung. Offenbar haben wir ein Bedürfnis abgedeckt, das bisher noch nicht abgedeckt worden war. Nämlich: Wie kaufe ich eine gute Brille, und wie kann ich darauf achten, dass ich dabei nicht übers Ohr gehauen werde. Der „Stern“ ist keine Servicemarke, aber er beinhaltet Service. Es geht um den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Service-, Politik-, Wirtschafts- und anderen Themen. Und es geht darum, diese Themen auf eine anspruchsvolle, unterhaltsame Weise zu präsentieren. Das ist die Positionierung, das ist das Alleinstellungsmerkmal des „Stern“. Das heißt, dieses ewige Prinzip Wundertüte existiert natürlich weiterhin für den gedruckten „Stern“. Der „Stern“ ist ein Heft, das im Idealfall jedes Thema, das die Deutschen bewegt, covern muss. Deswegen auch unser Claim „Was uns bewegt“.

Sie haben es als eines der ersten Magazine gewagt, in Sachen Titelgestaltung gewissermaßen die Hosen herunterzulassen, in dem sie im Editorial auch die anderen Entwürfe für das jeweilige Cover zeigen. Wie reagieren die Leser, und wie fließen diese Reaktionen in die Arbeit ein?

Ich habe das bei dem Mallorca-Titel als Spiel begonnen, weil ich gesehen habe, dass die Kollegen von „Bloomberg Businessweek“ das machen. Das fand ich gut und wollte es einmal ausprobieren. Ich habe die Leser aufgerufen, an meine persönliche E-Mail-Adresse zu schreiben, woraufhin mein E-Mail-Server platzte. Das stößt auf eine irre Resonanz. Es ist ein wunderbares Instrument, um mit Lesern in Kontakt zu treten. Wir machen die Tür auf und lassen die Leser in die Werkstatt reinschauen. Damit setzen wir uns auch ihrer Kritik aus. Das Interessante ist, dass wir mit den Lesern oft auf einer Wellenlänge liegen. Meistens wird knapp der Entwurf gewählt, den wir auch gemacht haben. Wobei ich nicht weiß, ob es auch daran liegt, dass es eben der Siegerentwurf ist und man zu den Siegern gehören möchte. Aber zwei Entwürfe kommen immer am stärksten an: der mutigste und der, der es am Ende geworden ist.  Das macht den Lesern irre Spaß. Und so habe ich beschlossen, das jetzt jede Woche zu machen.

Beim Relaunch im März zitierten Sie ein Ergebnis der Marktforschung, das besagte, dass der „Stern“ zuletzt kein Planet gewesen sei, auf dem man gerne leben würde. Es ging Ihnen dabei unter anderem um den negativen Ton. Können Sie ein Beispiel nennen, wo sich dieser Ton verändert hat?

Ich hatte ja versucht, das mit drei Adjektiven zu konkretisieren: empathisch, kritisch, zuversichtlich. Das was ich nicht mag, ist Häme. Vor allem nicht die Häme von Journalisten, weil das so besserwisserisch ist und uns von den Lesern entfremdet. Es ist meine große Sorge, dass es nicht nur eine Politikverdrossenheit, sondern irgendwann auch eine Journalismusverdrossenheit gibt. Andererseits wollten wir uns nicht in eine Belanglosigkeit oder eine ,Landlust‘-Welt flüchten, überhaupt nicht. Aber es geht darum, dass die Gläser nicht prinzipiell halb leer, sondern auch mal halb voll sind.

Haben Sie ein aktuelles Beispiel aus den letzten Heften für diesen anderen Ton?

Die Kolumne von Meike Winnemuth oder die von Rolf Dobelli. Beide sind nicht unkritisch. Bei Dobelli musst du dir eigentlich eine Flasche Wein aufmachen und dich mit deinem Partner abends hinsetzen und diese Seite durchgehen. Das regt zu Fragen über uns selber an. Das meine ich mit empathisch: eine Ernsthaftigkeit, eine Menschenliebe, eine Auseinandersetzung mit dem Thema, eine Nachhaltigkeit, eine Substanz. Das differenziert uns. Dafür kann man Geld verlangen. Meike Winnemuth ist immer erheiternd, aber nie banal. Das Gleiche gilt für Dobelli. Aber gleichzeitig haben wir auch Geschichten wie die über Hoeneß. Die ist nicht nur empathisch und zuversichtlich, sondern sehr kritisch. Aber da steht drunter:  „Wie konnte es so weit kommen? Porträt eines Getriebenen“. Da steht nicht: „Porträt eines Schwerverbrechers“. Es geht um ein tiefes Interesse für den Menschen, für Geschichten. Der „Stern“ ist ein Heft, das Geschichten erzählt. Wir sind nicht nur ein Heft, das Dokumente in die Höhe hält und jede Woche die Mega-Enthüllung präsentiert. Das sind wir auch, aber dennoch ein Heft, das Geschichten erzählt. Diese Balance zu halten, darum ging’s mir eigentlich. Und dafür braucht man Leute, Leser also, die zuhören wollen. Wenn einer immer alles besser weiß und immer hämisch und zynisch ist, dann will man ihm nicht zuhören. Dann sagt man, der oder die mag vielleicht recht haben, aber nächstes Mal setze ich mich woanders hin. Ich will, dass der „Stern“ ein Gesprächspartner ist, den man am Freitagabend bei Freunden trifft, neben dem man sitzt und denkt: ein unglaublich interessanter, kluger, unterhaltsamer Gesprächspartner. Den oder die lade ich mir auch mal nach Hause ein. Das ist der „Stern“. Im Idealfall. Es fehlt noch an einigen Ecken und Enden. Aber wir merken: Es wird. Es kommt Geschwindigkeit rein, es kommt mehr Lust rein, eine Freude. Das ist mir wichtig. Das ist auch für‘s Arbeiten wichtig.

Als Sie angetreten sind, sagte die Vorstandsvorsitzende Julia Jäkel: „Der ‚Stern‘ muss informieren, provozieren und unterhalten, er muss Krach machen und leise berühren.“  Wo bleibt der Krach?

Der „Stern“ provoziert noch zu wenig. Aber der Krach kommt. Und „Obama – der Spitzel“ ist kein Titel, wenn man leise berühren will. Ebenso der Hoeneß-Titel. Da passiert jetzt schon mehr. Das stellen Sie fest, wenn Sie aufmerksam die letzten sieben Titel anschauen. Da merken Sie eine zunehmende Intensität. Bushido Teil II war ein Mega-Kracher, hat super verkauft. „Amerika – der falsche Freund“ war sehr kritisch. Die Service-Titel gehen etwas runter. Wir müssen noch lauter werden, aber nicht zu laut. Ein Titel, der einfach nur Krach macht, bei dem aber nichts dahinter ist, verliert seine Glaubwürdigkeit. Leise berühren und laut sein muss inhaltlich gedeckt sein. Wir haben starke, emotional rührende Geschichten. Da sind wir sehr gut. In anderen Bereichen sind wir noch nicht so gut. Es ist eine Gratwanderung. Ich glaube, dass wir da noch Defizite haben. Aber wir sind auf einem sehr guten Weg, weil die Schlagzahl sich erhöht. Ich glaube, wir haben da in den letzten Wochen schon etwas geliefert, bei dem ich als Chefredakteur sagen kann: Ich bin zufrieden. Und ich bin selten zufrieden.

Wie sind Sie als Chef?

Kommt immer drauf an, wen Sie fragen. (Jetzt windet er sich etwas, hat aber offenbar Lust, darüber nachzudenken.) Es ist ganz schwer zu sagen. Ich bin sehr leidenschaftlich mit den Kollegen. Ich arbeite gerne. Ich bin jemand, der sehr viel verlangt. Ich weiß um meine Schwächen. Mehr müssen andere Leute beurteilen. Da tue ich mich schwer. Bei so einer großen Mannschaft wie beim „Stern“ werden Sie immer Leute finden, die sagen: Der Typ ist fürchterlich. Und andere, die sagen: Mit dem arbeite ich gerne zusammen. Mir geht es als Chef darum, gemeinsam mit Leuten, bei denen ich davon ausgehe, dass sie in ihren Feldern besser sind als ich, ein Produkt zu machen, auf das man stolz sein kann. Weil es klug ist, weil es schnell ist, weil es die Gegenwart abbildet, weil es Leute begeistert. Und bei Neueinstellungen achte ich darauf, dass ich etwas von den Leuten lernen kann, weil sie besser sind.

Welches Ressort jammert am meisten über zu wenig Platz?

Das klingt so negativ. Es ist ja aus einer Leidenschaft heraus geboren, das werfe ich den Ressorts nicht vor. Aber ich glaube, in dieser Hinsicht unterscheiden sich die Ressorts nicht sonderlich. Der „Stern“ ist bekannt für diesen Kampf um die Plätze. Es besteht keine Chronistenpflicht, durch die sich das Heft von alleine ordnet, es wird jede Woche neu gemischt. Und deswegen gibt es Schwerpunkte. In der Woche, in der der Taifun tobt, kann man das Heft nicht ohne Taifun machen. Da jammert das Auslandsressort natürlich weniger, weil die dieses Riesenstück im Heft haben. Aber die Zusammenarbeit zwischen den Ressorts hat sich sehr verbessert. Da werden nicht mehr über Bande andere Themen rauskegelt. Das ist für mich einer der ganz großen Gewinne der neuen Matrixstruktur, dass die Ressorts sehr gut zusammenspielen – weniger ideologisch, sondern sehr pragmatisch am Produkt orientiert. Es geht nicht mehr darum, Montagfrüh die letzten Themen ins Heft reinzuverhandeln. Ein Ressort mit einer Riesenbandbreite wie das Deutschland-Ressort hat natürlich immer Themenüberschuss. Gleichermaßen ist es natürlich so, dass es einen Wettbewerb gibt, um Plätze und um Aufmerksamkeit. Per se ist der ja nicht schlecht, weil er zu höherer Qualität führt. Ich will nicht, dass der „Stern“ zu einer wettbewerbsfreien Zone wird.

Wie läuft es mit der neuen Redaktionsstruktur der Managing Editors und der Textteams, die themen- und medienübergreifend arbeiten sollen?

Die Zusammenarbeit zwischen den Managing Editors läuft gut, sie haben die operative Verantwortung für das Blatt und die Marke. Die Zusammenarbeit zwischen den Ressorts läuft wie gesagt ebenso gut – und bei Digital und Print auch. Das sind die drei Bereiche, die sehr gut laufen.  Es gibt einen Bereich, der nicht so gut läuft und an dem wir noch arbeiten: das ist der zwischen den Ressorts und den Textteams. Da werden wir bis März ein paar Dinge ändern und nachjustieren.

Können Sie noch einmal erklären, wie dieses System gedacht ist?

Für die inhaltlichen Fragen sind die Ressorts zuständig. Sie decken die Themen ab und übernehmen stärker die klassischen Redakteursaufgaben, sie schreiben aber auch. In den Textteams wird klassischerweise geschrieben, und zwar ressort- und markenübergreifend. Das ist sehr viel Freiheit für die Leute, vielleicht manchmal auch zu viel. In dem Bereich funktioniert es noch nicht so, wie es funktionieren soll. Das Prinzip, in einer Matrix zusammenzuarbeiten, werden wir aber beibehalten. Die große Mehrheit unserer Reporter blüht darunter auf. Weil sie jetzt beispielsweise nicht nur für Kultur schreiben, sondern auch einmal für‘s Deutschlandressort, und das sowohl für Digital als auch für Print. Die Schwierigkeiten in dem Bereich werden im Moment mit den Beteiligten genau analysiert. Es gibt auch schon sehr konkrete Veränderungsideen. Das ist natürlich eine Herausforderung, außerdem die Art und Weise, wie wir die Zusammenarbeit mit Digital und Print systematisieren.

Sind die Kollegen von Digital und Print jetzt vom Status her gleich?

Die Onliner werden jetzt von uns Leistungen zum Presseversorgungswerk bekommen. Das zeigt die Wertschätzung, die das Haus dem Thema „Digital“ entgegenbringt. Das ist vollwertiger Journalismus, keiner zweiter Klasse. Wir reden auf Augenhöhe. Das war eine wichtige Voraussetzung, für die ich gekämpft habe. Jetzt reden wir darüber, wie wir die Arbeit vernetzen. Wie das genau aussehen wird, kann ich noch nicht sagen. Wir stellen gerade Leute ein bei Stern.de, die wir mit ganz neuen Stellenanzeigen suchen. Das hat nichts mehr mit den üblichen formalen Anforderungen zu tun. Das ist eine ganz neue Art der Personalsuche, eine viel frischere Art. Das sorgt in der Digitalszene gerade für Furore. Damit bereiten wir den großen Digital-Relaunch nächstes Jahr vor.

Wie sieht das Community-Building derzeit aus? Wie nutzen Sie die Daten ihrer Zielgruppe? 

Wir haben uns die Frage gestellt: Was ist Stern.de überhaupt? Einfach nur die digitale Variante vom „Stern“? Nein. Die zweite Frage ist: Wer ist die Zielgruppe, und wie bedienen wir die optimal? Und die dritte Frage: Wie spielen wir die unterschiedlichen digitalen Angebote aus? Die Fliehkräfte, die auf die Marke einwirken, sind ja erheblich gestiegen. Sie werden größer mit jedem neuen Device. Darum müssen wir die Bindungskräfte stärken, die diese Marke zusammenhalten. Was sind diese Bindungskräfte? Look and Feel. Der Wert eines Inhalts wird maßgeblich auch über seine Gestaltung definiert. Zweitens über die Tonalität, eine Haltung, wenn man so will. Wenn also die Marke „Stern“ in mein Leben tritt, über eine SMS oder einen Facebook-Post, dann muss ich sofort merken und fühlen, das ist „Stern“. Verlage, die Erfolg haben wollen, werden  in Zukunft nicht nur die Leistung verkaufen, Inhalte auf Papier oder digital zu transportieren. Unser großer Vorteil ist, dass wir sehr viel über unsere Leser und Nutzer wissen.

Und dieses Wissen wollen Sie verkaufen?

Nein, überhaupt nicht. Niemand kennt unsere Zielgruppe so gut wie wir. Verkaufen heißt hier nicht, jemanden zum Verkauf preisgeben, sondern das zu tun, was wir jetzt schon tun: Wir machen ein Heft für eine Zielgruppe, und deshalb schalten Unternehmen Anzeigen darin.  Chefredakteure und Verlagsmanager sind gefordert, dieses Wissen um unsere Leser in neue Print- und Digitalformate umzusetzen.

Was bedeutet das System der Communities of Interest inhaltlich für den „Stern“ oder ist es nur eine rein organisatorische Frage?

Das ist zu früh, das kann ich noch nicht sagen. Ich finde jedoch den inhaltlichen Ansatz dazu richtig und halte das für einen richtigen verlegerischen Weg. Grundsätzlich gilt: Die Redaktionen bleiben von dem organisatorischen Umbau unberührt und ebenso das G+J Chefredakteurs-Prinzip. Die neue Struktur hat für die Redaktionen in Hamburg keine direkten Auswirkungen. Wir arbeiten gerade an Plänen, welche Nebenprodukten wir im nächsten Jahr herausbringen werden. Das ist aber nichts Neues für den „Stern“: Extras, Editionen, neue Launches gibt es ja bereits seit einigen Jahren. Dieser journalistische Unternehmergeist im Print und im Digital, der Wunsch, neue Produkte zu kreieren, gelesen und konsumiert zu werden – das steckt doch in uns und gehört auch dazu.

Die Grenzen zwischen Redaktion und Verlag sind mittlerweile oft fließend. Henri Nannen hat sich immer vehement für eine klare Abgrenzung eingesetzt: Geld hier, Inhalte da. Wie problematisch ist diese Veränderung? 

Diese Grenze ist beim „Stern“ auch heute ganz klar. Ich bin der Meinung, dass die Glaubwürdigkeit eines Titels maßgeblich davon abhängt, dass es diese Grenze gibt. Dass beide Seiten wissen, wo sie verläuft. In der Zusammenarbeit mit unserer Anzeigenleitung sehe ich dafür ein großes Bewusstsein.

Weniger die Anzeigenabteilung, aber die Verlagsführung spricht heute doch viel mehr mit bei strategisch-inhaltlichen Fragen wie: Wie finden wir unsere Nutzer? Wie definieren wir Themen und Inhalte?

Bei Gruner + Jahr gilt das Chefredakteursprinzip. Hier entscheiden Chefredakteure über Inhalte,  nicht Verlagsmanager. Aber darüber hinaus erwarte ich von einem modernen Chefredakteur, dass er ein ökonomisches Bewusstsein für seinen Titel hat. (Er wird jetzt schärfer im Ton.) Chefredakteure, die im Elfenbeinturm sitzen und sagen, die Zahlen interessieren mich nicht, die waren 1950 genauso out wie 2013. Umgekehrt erwarte ich von Verlagsmanagern, dass sie ein journalistisches Gespür besitzen. Mit der Vorstandsvorsitzenden Julia Jäkel, dem Produkt-Vorstand Stephan Schäfer und dem Verlagsgeschäftsführer Frank Stahmer ist dies gegeben. Das ist ja gerade die Gruner + Jahr-Story, zu sagen: Es geht nicht um Verschmelzung. Aber es ist von Vorteil, wenn Chefredakteure ein ökonomisches, unternehmerisches Bewusstsein haben. Und es ist von großem Vorteil, wenn ich als Chefredakteur im Vorstand jemand habe, mit dem ich inhaltlich intensiv diskutieren kann. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Grenzen verschwinden, die sind sehr klar.

Dieses unternehmerische Denken bei Journalisten ist in den letzten Jahren so viel stärker geworden.

Aber das ist doch gut so! Ich will doch nicht in einer Behörde arbeiten, sondern in einem Verlagshaus.

Sie wollten mal Goldschmied werden, stimmt das?

Ja. Ich wollte immer Handwerker werden.

 Aber warum ist es unsere Aufgabe als Journalisten, den Job der Verleger zu machen?

Es ist unser beider Aufgabe, die des Chefredakteurs und die des Verlegers. Wer hat denn den „Stern“ erfunden?  Henri Nannen, er war ein Journalist, aber auch ein Unternehmer. Das kann man so nicht trennen. Ich verlange von keinem Redakteur, dass er sich neue Geschäftsmodelle überlegt oder Businesspläne aufstellt. Nur wenn ein Redakteur kommt – und was meinen Sie wie viele Leute hier tolle Ideen haben – muss man die aufgreifen. Dem  Ideenwettbewerb „Grüne Wiese“ von Gruner + Jahr sind zwei tolle Magazine zu verdanken, nämlich „Dogs“ und „Beef“. Das meine ich mit unternehmerischem Denken.

Der Frauenanteil in der Führungsebene des „Stern“ hat zugenommen. 

Ja, deutlich.

War die Zunahme ein Zufall?

Nein. Ich habe fast alle Führungspositionen neu besetzt. Dabei spielte neben anderen Faktoren auch der Faktor Frau eine entscheidende Rolle, weil ich die Vereinbarung, die wir mit den Frauen des „Stern“ getroffen haben, sehr gut finde und unterstütze. 50 Prozent unserer Leserschaft sind Frauen, und ich bin der Meinung, dass es nicht nur eine Frage der gesellschaftlichen Gerechtigkeit ist, sondern auch eine Frage der Professionalität. Ich unterstütze das, aber ich mache kein Riesenbohei daraus. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit. Und wir sind noch nicht am Ende. Es gibt mit den „Female Factor“-Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion regelmäßige Treffen, um zu überlegen, wo und wie man etwas verbessern kann. Das geht ja viel weiter als die verkürzte Quotendiskussion. Es geht um Fragen wie: Wann machen wir Konferenzen? Wie organisieren wir Teilzeitarbeit? Wir müssen ein Klima kreieren, in dem Frauen nicht allein dadurch benachteiligt sind, dass sie Frauen sind. Das geht in viele Kapillaren einer Redaktion hinein. Das ist Teil der Modernität eines Unternehmens und Teil der Modernität eines Heftes.

Info

Im November 2012 hatten die „Stern“-Chefredakteure und sieben Sprecherinnen der „Stern“-Frauen eine Zielvereinbarung zur Förderung von Frauen in der Redaktion unterzeichnet. In den kommenden Jahren sollen 50 Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt werden. Das Papier knüpft an die Initiative „Female Factor” des Gruner + Jahr Verlags an, die unter anderem Regeln für die Auswahl von Führungskräften aufgestellt hat.

Sie kamen ja von München nach Hamburg. Die beiden Metropolen gelten als die ewig rivalisierenden Medienstädte. Was fällt Ihnen zu dem Vergleich ein?

Nichts, worüber sich zu sprechen lohnte.

Interview: Simone Schellhammer. Foto: Jens Palme