Thema Datenjournalismus: Das Beispiel „Zeit online“

Sascha Venohr, Entwicklungsredakteur bei Zeit Online, über die Datenjournalismus-Strategie seiner Redaktion (s.a. Special Datenjournalismus in mm 1-2/2011, S.40-44).
Interview: Ulrike Langer

Sascha Venohr
Sascha Venohr

Medium Magazin: Wie kam es zu der redaktionellen Entscheidung, den investigativen Beitrag über rechtsradikale Gewalttaten mit einer interaktiven Grafik anzureichern? Warum gerade dieses Thema? Was ist der Gradmesser dafür ein Thema mit einer interaktiven Datenvisualisierung aufzubereiten?

Sascha Venohr: Uns war schnell klar, welche Brisanz in diesem Thema steckt und welch große Differenz zwischen den „offiziellen“ und den von uns recherchierten Todesopferzahlen lag. Daher war uns wichtig, dass wir diese Zahlen ganz konkret und nachvollziehbar benennen wollten. Jedes Einzelschicksal sollte dabei seine Erwähnung finden. Alle von uns recherchierten Detailinformationen zu den 137 Fällen gibt es als frei zugängliche Online-Tabelle und kann Grundlage für zukünftige Betrachtungen sein. Gerade weil es um den Zeitraum seit der Wiedervereinigung ging, lag es auf der Hand, die Daten chronologisch nachvollziehbar über eine Deutschlandkarte zu visualisieren. Hier kann der Leser zum Beispiel mit Hilfe des Tools schnell erkennen, dass diese Taten ein gesamtdeutsches Phänomen sind und nicht nur in erster Linie im Osten zur traurigen Wirklichkeit gehören.

War es das erste Mal mit diesem Aufwand?
Ja, in der Tat. Für die Recherchen wurden Hunderte Lokalzeitungsartikel und Gerichtsurteile gesichtet; zu jedem einzelnen Fall wurden Opferberater, Hinterbliebene, Anwälte und Strafverfolger interviewt. Wir sind also im Prinzip nicht in eine strukturiert vorliegende Datenbasis getaucht, sondern mussten diese erst durch Einzelrecherchen schaffen. Auch wenn es banal klingt, aber hier musste von vornherein darauf geachtet werden, dass keine „Zettelwirtschaft“ bei den Redakteuren entsteht, sondern die spätere strukturierte Verwendung bereits bei der Recherche im Blick war. Außerdem haben wir in die Konzeption der Datenvisualisierung sehr viel Detailarbeit investiert, die uns in zukünftigen Projekten zu Gute kommen wird. In der Programmierung haben wir zudem Wert auf eine reine HTML-Umsetzung gelegt, da wir uns von Flash-basierten Lösungen bei Zeit Online verabschieden. Grundsätzlich haben wir dabei im ganzen Team sehr viele neue Skills aufgebaut.

Wie kam das bei den Nutzern an?
Ein solches Projekt startet man nicht in erster Linie, weil man auf den großen Reichweiten-Erfolg schielt. Es zahlt in erster Linie in die redaktionelle Marke von Zeit Online ein und dokumentiert unsere redaktionelle Transparenz und Glaubwürdigkeit. Das wirkt langfristig. Wir sind glücklich über die große positive Resonanz, die wir erfahren haben. Besonders haben uns die viele Wortmeldungen fasziniert, in denen uns Leser ihre Einschätzungen und weitere Fakten zu einzelnen Fällen geschickt haben.

Kann dieser Aufwand nur in Einzelfällen betrieben werden?
Ob ein Thema datenjournalistisch angegangen wird, hängt konkret von den zur Verfügung stehenden Datenquellen ab. Daher macht es in unseren Augen keinen Sinn, sich für ein Kalenderjahr eine feste Zahl von Datenjournalismus-Projekten vorzunehmen, die man dann planmäßig abarbeitet. Die Gelegenheit muss passen.

Warum ist Datenjournalismus neuerdings vor allem international ein Trend?
Um es auf einen einfachen Nenner zu bringen: Weil die Daten und die Werkzeuge zur Auswertung und Visualisierung da sind! Gerade im angelsächsischen Raum haben Gesetzesinitiativen, die vom Gedanken des Open Government geprägt sind, neue spannende Quellen mit maschinenlesbaren Daten geöffnet. Auch die Enthüllungen durch Wikileaks haben seit 2007 journalistische Scoops ermöglicht, die auf Basis von Rohdaten erfolgte. Dies hat natürlich zu stärken Wahrnehmung dieser journalistischen Form beigetragen. Auch bei den Werkzeugen hat sich viel getan. Man denke nur an die rasante Entwicklung in den letzten Jahren im Bereich der Geodaten und frei verfügbaren Karten. Zudem sind die Auswertungstools heute einfacher zu handhaben. Auch die Publikation der Daten zur Weiterverwendung ist mittlerweile kinderleicht: Jeder Redakteur kann heute im einfachsten Fall ein Google-Speadsheet mit seinen Daten veröffentlichen.

Warum hinkt Deutschland hinterher?
Im Vergleich zur bereits erwähnten Entwicklung in England und den USA tut sich Deutschland von staatlicher Seite in der Tat sehr schwer. Mit großem Interesse verfolgen wir aber in Deutschland die Arbeit des OpenData Network und begleiten die Diskussion in unserem Open Data Blog. Ein Aspekt wird häufig übersehen: Es gibt auch in Deutschland bereits viele Themen, die auf eine datenjournalistische Darstellung warten. Es gehört aber auch der Mut in den Redaktionen dazu, diese Geschichten nicht wie bisher auf sechs Seiten Text, sondern mit den neuen Darstellungsformen zu erzählen. Vielleicht gehört da noch die überholte Sicht dazu, dass der Besuch eines mit Daten gefüllten Google-Spreadsheets das eigene IVW-Zählpixel unberührt lässt und somit kein eigener journalistischer „Erfolg“ zu verzeichnen wäre.

Was ist die Strategie bei Zeit Online in Bezug auf Datenjournalismus?
Wir sehen im Thema Datenjournalismus einen ganz wichtigen Baustein in den Darstellungsformen, die uns zur Verfügung stehen – keine Mode-Erscheinung. Wichtig ist, dass im Team dauerhaft die Expertise verankert ist und wir auf Zuruf – mit ein paar Tagen Vorlauf – loslegen können. Diese Skills werden wir durch immer wieder neue Projekte ausbauen und anwenden.

Würden Sie auch so weit gehen wie der „Guardian“ mit seinem Datastore und dem weitreichenden zur Verfügung stellen von Rohdaten?
Das ist schon bemerkenswert, was der „Guardian“ da aufbaut. Langfristig schließen wir eine solche Lösung für den deutschen Raum nicht aus. Momentan geben wir aber die ganze Kraft in unsere einzelnen Projekte. Dabei ist uns wichtig, dass unsere Leser immer Zugriff auf die von uns verwendeten Rohdaten haben.