„Journalisten brauchen einen belastbaren Anfangsverdacht.“

Die Sicht des Presserates: Manfred Protze  über Grenzen und Möglichkeiten der verdeckten Recherche (siehe auch special Medien & Moral in mediummagazin 3-2010)

Interview: DANIEL BOUHS

Wie definiert sich eigentlich das öffentliche Interesse, das heikle Recherchemethoden wie die nun ins Gerede gekommene verdeckte Recherche im Privatleben von Politikern rechtfertigen kann?

Hier reden wir ja nicht nur von einem öffentlichen Interesse, dem Journalisten immer verpflichtet sind, sondern vielmehr von einem „besonderen öffentlichen Interesse“ als rechtfertigender Grund – wie das der Pressekodex in Ziffer 4, Richtlinie  4.1  festhält. Diese Formulierung zeigt, dass in solchen Fällen ein persönliches Interesse als rechtfertigender Grund nicht ausreicht, nicht simpler Klatsch und Tratsch, sondern die Belange der Gesellschaft insgesamt tangiert sein müssen. Im Übrigen gilt in diesem Zusammenhang Ziffer 8 des Pressekodex, wonach das private Verhalten in der Presse im Einzelfall erörtert werden darf, wenn öffentliche Interessen  berührt sind. An die verdeckte Recherche legen wir also höhere Maßstäbe an als an die gewöhnliche Recherche, die grundsätzlich unter dem Identifizierungsgebot (Kodex-Richtlinie 4.1) steht. Da hat sich übrigens eine ganz neue wichtige Frage ergeben, die die Branche noch gar nicht zu Ende diskutiert hat, nämlich wie wir mit Recherchen in sozialen Netzwerken wie Facebook und Studi VZ umgehen…

…wo sich Kollegen immer wieder unter Pseudonymen einklinken?

Genau. Die einen definieren sie als geschlossene Benutzerkreise, in dem Journalisten nur dann personenbezogen recherchieren dürften, wenn sie sich identifizieren. Das Einschleichen unter falscher Identität, um dort unerkannt zu recherchieren, wäre im Grunde verdeckte Recherche. Andere sagen, soziale Netzwerke seien de facto öffentlich, hätten keine wirksame Zugangskontrolle. Deswegen könne man sich da wie im öffentlichen Raum bewegen und  bei berechtigten Anliegen zur Tarnung greifen. Da hat auch der Presserat noch keine abschließende Position zu gefunden.

Ob nun virtuell oder auf der Straße: Haben Journalisten nicht das Problem, dass sie umstrittene Methoden erst rechtfertigen können, wenn ihre Recherche aufgeht – also klar ist, wie schwer ihr Ergebnis tatsächlich im Verhältnis zu ihren Methoden wiegt?

Jeder Journalist hat doch, bevor er mit seiner Recherche anfängt, eine Arbeitshypothese – und kann darauf aufbauend die jeweils adäquaten Mittel suchen. Geht er dabei zur verdeckten Recherche über, muss er sich sicher sein, dass die Frage, die er so klären will, von herausragender öffentlicher Bedeutung ist und dass er die notwendigen Informationen nicht auf anderem Wege beschaffen kann.

Im Kern geht es also um Staatstragendes?

Es geht um gesellschaftliches Interesse und das ist ja in aller Regel ein politisches. Ob das aber unbedingt staatstragend sein muss? Diesen Begriff würde ich nur ungern einsetzen, denn wenn etwa eine mächtige Persönlichkeit mit ihrem persönlichen Handeln diametral dem widerspricht, was sie öffentlich als eigene Leitlinie ausgibt, bedroht das nicht gleich die nationale Sicherheit oder die Funktionsfähigkeit des demokratischen  Systems. Unter den Gesichtspunkten Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit  mandatierter und anderer Autoritäten kann  aber sehr wohl ein besonderes öffentliches Interesse gegeben sein.

Zum Beispiel?

Träte ein Politiker für die Wiedereinführung des Paragraphen 175 ein, der schwule Handlungen unter Strafe stellte, frönte dabei aber selbst im Verborgenen der Homosexualität, könnten ihn entlarvende verdeckte Recherchen der Presse selbst in der Intimsphäre des Betroffenen gerechtfertigt sein. Forderte ein Politiker eine Amnestie für Steuersünder, stünde aber selbst im Verdacht, Reisen in die Schweiz für illegale Bargeldtransfers zu nutzen, gäbe es Raum für verdeckte Recherchen.

Was fällt denn unter das Schlagwort „verdeckte Recherche“ – das Vorspiegeln falscher Tatsachen?

Das in jedem Fall, aber auch wenn ich aus dem Geheimen heraus recherchiere, also für den Beobachteten verborgen bleibe. Dazu gehören für mich grundsätzlich auch Paparazzi, die mit ihrer langen Brennweite außerhalb des Sichtfeldes ihrer Zielobjekte diese beobachten und naturgemäß ihrer Identifizierungspflicht nicht nachkommen. Das ist im Übrigen ein klassisches Mittel der Spionage. Dazu gehören auch Observationen und die Installation von Bewegungsmeldern. Mit all diesen Mitteln versuchen Reporter Informationen zu gewinnen, die bei persönlicher Annäherung sehr wahrscheinlich nicht zustande kämen oder gar Abwehrreaktionen auslösen würden.

Von welchem Zeitpunkt an sind diese Methoden gedeckt?

Wann immer die Recherche nicht einfach ins Blaue hinein passiert, sondern einem konkreten Anlass folgt. Journalisten brauchen dafür so etwas wie einen belastbaren Anfangsverdacht.

Wie einen anonymen Brief?

Zum Beispiel. Der müsste aber schon von sehr genauer Kenntnis zeugen.

Warum gilt eigentlich unter investigativen Journalisten der Gleichheitsgrundsatz nicht?

Wie bitte?!

Dem Boulevard sprechen wir die verdeckte Recherche gemeinhin ab, Journalisten aus Politik und Wirtschaft aber nicht.

Natürlich haben alle Journalisten das gleiche Recht. Der Boulevard hat es von der Themenauswahl her möglicherweise schwerer, für verdecktes Arbeiten stets  in die im Pressekodex geforderte Berechtigung zu finden. Ausgeschlossen ist das deswegen aber nicht.

Sind Liebschaften von Spitzenpolitikern, die vom Boulevard ebenso beobachtet werden wie von den sogenannten Qualitätsmedien, von besonderem Interesse?

Das hängt immer vom Fall ab. Hat ein Politiker neben seiner Ehe eine Affäre, geht das niemanden etwas an – außer vielleicht seinen Ehepartner. Dabei gibt es aber eine ganze Reihe möglicher Ausnahmen. Die Mittel rechtfertigen sich eben immer auch ein Stück weit durch ihren Ertrag, der auch darin bestehen könnte, dass die Liebschaft die Sicherheit des Landes bedroht, wenn sich ein hoher Beamter mit einer Spionin einlässt oder ähnliches.

Reicht nicht auch der Umstand, dass der einer Liebschaft überführte Politiker einer Partei angehört, die ein konservatives, christliches und damit von Treue geprägtes Moralverständnis propagiert?

Kann sein, muss aber nicht. Allein die Parteimitgliedschaft reicht dafür nicht aus. Stellt ein Politiker diese Wertevorstellung aber in seinem Wahlkampf oder seiner alltäglichen politischen Arbeit ständig heraus, würde es rechtfertigen, einem Anfangsverdacht mit verdeckter Recherche nachzugehen, die auch in die Privatsphäre im Blick hat. Aber wie gesagt nur, wenn der Verdacht einem starken persönlichen Profil entgegensteht, das von der betreffenden Person öffentlich thematisiert wird. Wer sein privates Leben selbst in die politische Auseinandersetzung einbringt oder zu anderen  Zwecken  öffentlich inszeniert, der muss sich auch gefallen lassen, dass die Öffentlichkeit die Glaubwürdigkeit der Selbstdarstellung mit einem Blick hinter die Kulissen gegebenenfalls mit Hilfe der Medien überprüft. Und anzunehmen, dass Journalisten hier stets mit offener Recherche weiterkommen, ist natürlich absurd. In allen anderen Fällen aber gilt auch bei Top-Politikern: Ihr Privatleben ist für die Presse tabu.

Was raten Sie denn Redaktionen, die Dienstleister mit heiklen Recherchen beauftragen?

Ich würde natürlich den Pressekodex stets zum Bestandteil des Auftrags machen. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wer letztlich haftet, wenn Grenzen überschritten werden. Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass alles, was auch im Zuge der Recherche passiert, dem zurechenbar sein muss, der den publizistischen Akt vollzieht. Die Sorgfaltspflicht liegt eben stets beim Auftraggeber, der die Spielräume der Pressefreiheit für sich in Anspruch nehmen darf. Ich würde das publizistische Unternehmen ausdrücklich nicht aus der Haftung entlassen. Der Auftraggeber ist es, der darauf achten muss, dass sich seine Dienstleister an Spielregeln halten und sich ordentlich benehmen.

Abwiegeln bringt nichts?

Nein. Das hat ja auch bei der Bespitzelung des Personals bei  Discountern, bei der Telekom und bei den PR-Praktiken der Bahn nichts gebracht. All diese Fälle haben gezeigt: Verantwortungs-Waschanlagen, die bei Fehltritten die Schuld an beauftragte Dritte abschieben sollen, akzeptiert die Öffentlichkeit nicht.

Halten Sie es denn grundsätzlich für legitim, dass Redaktionen auch heikle Recherchen outsourcen, diese aber bei Erfolg unter eigener Flagge verkaufen wollen?

Damit haben wir doch eine lange Tradition, man blicke allein auf die Aufträge, die von vielen freien Journalisten ausgeführt werden. Wenn bei der Auftragsvergabe auf eine vernünftige Qualifikation des Dienstleisters geachtet wird und die ethischen Spielregeln eingehalten werden, sehe ich dabei kein Problem. Am Ende zählt ohnehin das redaktionell-journalistische Resultat.

Der Gesprächspartner:

Manfred Protze, 64, ist  dpa-Redakteur und für die DJU Mitglied des Presserates. Er leitet die erste von insgesamt zwei Beschwerdekammern. Kammer zwei wird sich mit dem Komplex „Bunte“ und Franz Müntefering beschäftigen.