Mission Leserbindung

Auf die „Text-Bild-Kombination“ kommt es an. Michael Ohne-wald (42), Redakteur der „Stuttgarter Zeitung“, verwendet dieses Ungetüm von Wort äußerst gerne, wenn er über sein Baby spricht. Sein Baby ist die regionale Reportageseite der „Stuttgarter Zeitung“, die er leitet. Seit dem 22. Januar 2002 erscheint sie täglich. Ohnewald ist es wichtig, dass sich Schreiber, Fotografen und Layouter abstimmen und nicht jeder vor sich hinwurstelt. Dabei pflegt er einen Hang zum Perfektionismus. Zahlen zum Beispiel werden ausgeschrieben. „Das ist eine Marotte von mir“, sagt er, „Zahlen machen alles so unrund.“ Zwanghafte Synonyme werden rausgestrichen, verfehlte Verben auch. Für manchen mögen es Kleinigkeiten sein, für Ohnewald machen bei aller Freiheit des Schreibers gewisse Regeln eine Reportage zu einer guten Reportage. „Ich bin überzeugt, dass auch lange Texte gelesen werden“, sagt er. „Sie müssen nur gut sein.“

Fesseln für die Leser. Alles an seiner Feinarbeit ist einem höheren Ziel untergeordnet: Die Texte sollen den Leser nicht mehr aussteigen lassen, so gefesselt, so hineingerissen soll er werden. Ein Beispiel: Eine Reportage über einen Blinden, geschrieben von Michael Ohnewald. Die Überschrift: „Das Ende des Lichts“. Sie beginnt so: „Als Erstes fällt einem an Wolfgang Müssig auf, dass seine blauen Augen voller Leben sind. Ihnen scheint nichts zu entgehen. Sie wirken durchdringend und geheimnisvoll. Als Zweites fällt das Fenster unter dem Dach auf, vor dem sein Schreibtisch steht. Von hier aus kann man über die Dächer der Stadt sehen, die sonnenverwöhnten Rebhänge von Besigheim, die blühenden Bäume in den Gärten und die Balkone der Nachbarn, die schon den Grill hinausgestellt haben. Wolfgang Müssig steht stumm vor dem Fenster. Sein Blick geht hinaus, irgendwohin, an einen Ort, zu dem ihm keiner folgen kann.“

Der Stolz des Reportageteams, das neben Ohnewald aus zwei festen Redakteuren, der Layouterin Stefanie Schönfeld, vielen freien Autoren und Fotografen besteht, sind die vielen positiven Leserreaktionen auf die Reportagen sowie die zahlreichen Preise, die die Seite gewonnen hat (siehe Kasten Seite 60). „Es gibt vermutlich keine Tageszeitung in Deutschland, die sich jeden Tag eine regionale Reportageseite in dieser Qualität leistet“, sagt Ohnewald. Und gleich noch mal, auf Schwäbisch hinterher: „Des gibt’s nedde.“

Aushängeschild. Die Seite, die anfangs keine klassische Reportageseite war, ist zu einem Aushängeschild geworden. Entstanden ist sie, als das Blatt das regionale Engagement ausgeweitet und die Redaktionen in den Kreisstädten rund um Stuttgart verstärkt hat. Hintergrund war die anhaltende Stadtflucht, durch die der Verlag Leser verloren hat, die in Städte rund um Stuttgart zogen, wo das Bauland billiger ist. Also sind Michael Ohnewald und seine Kollegen Achim Wörner und Holger Gayer für die Mission, Leser zurückzuholen, drei Monate lang freigestellt worden. Dabei wurde unter anderem die Reportageseite konzipiert. „Unsere Idee war es, den Lesern eine Seite zu bieten, die frei ist von Tagesaktualität“, sagt Ohnewald.

Anfangs sei die Seite mit Geschichten und Meldungen von regionaler Bedeutung bestückt worden, wie der Erhöhung der Fahrpreise für die S-Bahn. Die Artikel hatten sich in Umfang und Layout kaum vom übrigen Blatt unterschieden. Um der neuen Seite für Hintergrundstücke einen Wiedererkennungswert zu geben, wurde eine kleine Kolumne geschaffen, in der regionale Fakten mit selbst gedichteten Zeilen gepaart sind. Mit der Zeit ist die Redaktion mutiger geworden, setzte die Kolumne ab und konzentrierte sich stärker darauf, für sich stehende Seiten zu produzieren. Die Bilder wurden größer, die Bildschnitte mutiger, was auch ein Werk des neuen Art-Direktors Dirk Steininger war.

Es wurden Geschichten auf einer ganzen Seite gedruckt, was bis dahin praktisch nie vorkam. Die ersten Preise kamen. „Das hat uns ermutigt, weiterzumachen.“ Dann kam der zweite Schritt: Die lokalen Reportagen bekamen 2005 einen festen Platz auf der letzten Seite des lokalen Buchs, wo sie jeder Leser mit einem Handgriff findet. So wurde das Projekt Schritt für Schritt weiterentwickelt. Ohnewald: „Die Seite, anfangs in der Redaktion umstritten, ist inzwischen nicht mehr wegzudenken.“

Die Themen sind im Raum Stuttgart einfach „unerschöpflich“: Jeder Mensch erzählt eine Geschichte, wenn man nur lange genug mit ihm redet – so sehen es jedenfalls die Blattmacher. Das zeigen auch die Serien auf der Seite, um die sich Ohnewald kümmert. Mal beschäftigt er sich mit Wendepunkten im Leben von Menschen, mal beschreibt er das Dasein eines Bauers, mit dem er sich jeden Monat zusammensetzt und eine Folgegeschichte schreibt. Ohnewald schreibt gerne über Soziales, über Schicksale, über das eben, was die Menschen am meisten bewegt. Auch Geschichten aus dem Alltag finden sich immer wieder auf der Seite. So ist einer seiner Kollegen neulich einen Tag lang mit einem Zeugen Jehovas von Klingel zu Klingel gezogen und hat aufgezeigt, wie es sich anfühlt, abgewimmelt zu werden. „Der unerwünschte Missionar“, so lautete die Überschrift. Eine naheliegende Reportage und doch spannend. Man muss nur drauf kommen.

Eine vage Idee reicht nicht. Schreiben darf jeder, der es kann. Ob freier Mitarbeiter oder Chefreporter. Es soll sogar ausdrücklich jeder schreiben, aber, so Ohnewald, es werde auch jeder mit der gleichen Sorgfalt redigiert. Wer schreibt, spielt keine Rolle. Was geschrieben wird, dagegen schon. Eine vage Idee reicht dem Team nicht aus. Ein guter Schreiber, so Ohnewalds Überzeugung, „muss eine Vorstellung davon haben, wie er seine Geschichte erzählen will“. Was die Aufmachung anbelangt, machen sich Layouterin Stefanie Schönfeld und Art-Direktor Dirk Steiniger ihre Gedanken. Fotografen und Schreiber werden einbezogen. „Keiner soll sich abgehängt fühlen“, sagt Ohnewald. „Kurze Wege, klare Absprachen, schnelle Umsetzung“, das sind für ihn entscheidende Merkmale für ein funktionierendes Team. Unüberschaubare Newsrooms mag er nicht, lange Konferenzen sind ihm fremd. Er schreibt in der Woche lieber ein bis zwei Geschichten für die Seite. Auch fürs Redigieren, für Absprachen und für die Pflege seiner Kontakte zu den Autoren nimmt er sich Zeit. Wenn alles vollbracht ist, am Ende des Arbeitstages sozusagen, legt er die Seite nochmals einem Kollegen vor, meistens Ressortleiter Thomas Durchdenwald. „Der findet immer noch was, das verbessert werden kann“, sagt Ohnewald. „Und das ist auch gut so.“

Tipp:

Die regionale Reportageseite der „Stuttgarter Zeitung“ ist für Themenvorschläge von freien Autoren offen. Mehr Infos und Kontakt: Michael Ohnewald, eMail: m.ohnewald@stz.zgs.de

Die PDFs einiger der hier genannten preisgekrönten Reportagen sind abrufbar zum Nachlesen unter www.mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 63 bis 65 Autor/en: Adrian Hoffmann. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.