„Abgehängt – Leben in der Unterschicht“

Der Aufbau

Die Reportage wurde an verschiedenen Schauplätzen in Wattenscheid gedreht. Der ehemals selbstständige 75.000-Einwohner-Ort im Ruhrgebiet gehört seit 1975 zu Bochum und ist durch einen hohen Anteil sozial schwacher Einwohner geprägt. Das TV-Team begleitete die Familien Hensel, Pietsch und Kamelski im Oktober und November 2006 über eine Zeit von zehn Tagen beim Alltag in ihren Wohnungen und bei Terminen außer Haus. Die Außenszenen wurden ebenfalls in Wattenscheid gedreht: Bei der Arbeitsagentur, in den Räumen eines Projekts für Arbeitslose, im Sozialen Kaufhaus, bei einem Ein-Euro-Job in der Essensausgabe einer Förderschule, bei den Sozialstunden auf einem Friedhof und in einem Kindergarten.

Der Film beginnt mit aneinander geschnittenen Kernaussagen der Protagonisten und zieht die Zuschauer damit sofort in das Thema. Anschließend werden die Familien Hensel und Pietsch in mehreren längeren und in sich abgeschlossenen Szenen eingeführt. Erst später wird als dritte Familie das Ehepaar Kamelski vorgestellt. Sie bilden einen Kontrapunkt: Hier werden in der Mitte des Films erstmals Protagonisten gefilmt, die zwar in ebenso prekären Verhältnissen leben wie die beiden anderen Familien, aber dennoch die Kernfrage des Films verneinen: Sie fühlen sich nicht als zur Unterschicht gehörig. Die Handlungsstränge bei den drei Familien werden verschränkt erzählt. Die einzelnen Szenen sind zwar in sich abgeschlossen, es wird aber mehrfach zu vorigen Schauplätzen zurückgekehrt.

Im gesamten Film wird sparsam und zurückhaltend kommentiert. Vor allem die Schlussszenen lassen dem Zuschauer viel Spielraum für eigene Beobachtungen und Überlegungen: Frank Kamelski hat mit einem Ein-Euro-Job eine neue Aufgabe gefunden, aber wird er auch eine feste Arbeit finden? Nicole Hensel hat einen Kindergartenplatz für ihre kleine Tochter gefunden und glaubt, ihr eine bessere Zukunft bieten zu können, aber ist das realistisch? Marcel Hensel hat mit dem Abbruch seiner Sozialstunden auf dem Friedhof gegen Bewährungsauflagen verstoßen und muss erneut ins Gefängnis. Sonja Pietsch, die mit viel Energie ihren Alltag mit wenig Geld meistert, will sich noch lange Zeit lassen mit der Arbeitssuche. Mit diesen ungewissen Zukunftsperspektiven der Protagonisten endet der Film.

Die Schlüsselszenen

Die Schüsselszenen zeichnen sich nicht durch optische oder technische Effekte, sondern durch ihre inhaltliche Stärke aus. Die Kamera befindet sich bei allen Schlüsselszenen in Augenhöhe und filmt frontal oder seitlich aus der Nähe.

1.Küche von Familie Pietsch

(Timecode 01:57)

Sonja Pietsch sitzt gegenüber der Kamera an ihrem Küchentisch und erzählt, dass sie und ihre Familie schon immer Unterschicht gewesen sind.

2.Familie Hensel auf dem Sofa

(Timecode 05:04)

Die Drei-Generationen-Familie Hensel wird vorgestellt. Marcel (26), Harald (52, Vater von Marcel) und Melina (11 Monate, Tochter von Marcel und Nicole) sitzen auf dem Sofa. Nicole (22) setzt sich dazu. Die Familie ist komplett. Hensels schauen fern. Alle sind sie arbeitslos und wollen heute zur Arbeitsagentur gehen.

3.Auf dem Flur der Arbeitsagentur

(Timecode 14:39)

„Wer will mich denn noch?“ sagt Harald Hensel, nachdem er seinen Vermittler besucht hat. Aus seiner Perspektive ist seine Lage aussichtslos.

4.Familie Kamelski auf dem Sofa

(Timecode 20:04)

„Unterschicht sind die, die sich darauf ausruhen“, sagt Annette, die Frau von Frank Kamelski. Sie und ihr Mann sind auch finanziell ganz unten, aber sie tun alles, um aus ihrer Situation herauszukommen.

5.Nicole Hensel im Kindergarten

(Timecode 41:21)

Die Kamera begleitet Nicole Hensel bei ihrem Rundgang durch den Kindergarten. Sie will, dass es ihre Tochter später einmal besser hat. Das Kind ist im Kinderwagen in den Innenräumen geblieben. Deshalb hat Nicole Hensel Zeit, über ihre Situation zu reflektieren. Der Kindergarten ist eine Perspektive für sie.

6.Bei Familie Pietsch in der Küche

(Timecode 41:47)

Sonja Pietsch sagt, es werde wohl noch vier bis fünf Jahre dauern, bis sie sich zutraut, wieder erwerbstätig zu sein.

7.Frank Kamelski bei der Essensausgabe

(Timecode 41:54)

Frank Kamelski hat einen Ein-Euro-Job. Er teilt in der Förderschule das Mittagessen an die Kinder aus. Er sagt, dass es für ihn endlich wieder Sinn macht, morgens aufzustehen.

Zusammengestellt von Ulrike Langer, Fotos: WDR

Die Technik

Die Autorinnen Juliane Fliegenschmidt, Julia Friedrichs und Eva Müller, die Kameramänner Jörg Fenske und Hans-Peter Wietbrock, die Tontechniker Jens Buttke und Moritz Jägel brauchten für die Reportage zehn Drehtage, wobei an einigen Tagen zwei Teams gleichzeitig an unterschiedlichen Drehorten unterwegs waren. Es wurde ausschließlich ohne Stativ von der Schulter gedreht. Ein festes Drehbuch gab es nicht, der Aufbau des Films entstand erst beim Schnitt, der circa eine Woche dauerte. Bei dieser Form der beobachtenden Reportage läuft die Kamera praktisch immer mit, daher erklärt sich der ungewöhnliche hohe Anteil von etwa zwei Drittel O-Ton gegenüber nur einem Drittel Kommentar. Das Verhältnis von gesendetem zu gedrehtem Material betrug ca. 1:40, aus rund 1800 Minuten Rohmaterial wurde mit Platon Kiriazidis und Jörg Stahnke als Cutter ein 43:30 Minuten langer Film geschnitten. Die Kamera war eine Sony XD Cam.

Erschienen in Ausgabe 6/2007 in der Rubrik „Best of Axel-Springer-Preis für junge Journalisten“ auf Seite 10 bis 10. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.