Unheimliche Mächte

Die Schüler knien nieder. Sie starren zu Boden, dann heben sie ihre Köpfe und schauen auf eine Gedenktafel. Sie sind gekommen, um vor der Albertville-Realschule zu trauern. So steht es zumindest auf dem Drehplan. Ein Fernsehteam bereitet einen Monat vor dem Jahrestag des Amoklaufs von Winnenden seinen Bericht vor. Es fällt den Jungen sichtlich schwer, mehrere Sekunden nachdenklich in Richtung der Albertville-Realschule zu gucken und dann drehplankonform eine Kerze anzuzünden. Die jungen Trauergäste kommen, wie sie hinterher sagen, gar nicht von der Albertville-Realschule und haben mit dem Amoklauf eigentlich nichts zu tun, aber traurig wären sie schon irgendwie. Und außerdem zahlen die Leute vom Fernsehen gut. Dafür bekommen die Jungen dann auch ein paar Sätze heraus, wenn sie vor laufender Kamera gefragt werden, wie sie sich fühlen.

Wie sie sich fühlt, diese Frage muss auch Gisela Mayer seit Wochen immer wieder beantworten. Mayer ist Pressesprecherin des „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“ und Mutter der Referendarin Nina, die am 11. März dem Amoktäter zum Opfer fiel. Sie hat im vergangenen Jahr immer wieder versucht, den Journalisten ihre Verantwortung zu verdeutlichen – dass es nicht reicht, das Leid der Hinterbliebenen in Nahaufnahme zu zeigen und dann mit der Medienkarawane weiterzuziehen. Wenn die 52-jährige studierte Psychologin die vielen Interviewtermine zum Jahrestag des Amoklaufs in ihrem Kalender sieht, kommt auch bei ihr die Angst zurück. Es ist die Angst vor einer unheimlichen Macht, die ihr vor einem Jahr oft die Kraft zum Trauern nahm.

Kurz nach dem Amoklauf bringt „Bild“ auf einer halben „Bild“-Zeitungsseite ein Foto ihrer toten Tochter neben fetten Schlagzeilen und vielen Details aus ihrem Leben. Vieles davon stimmt nicht, sagt die Mutter. Doch die Menschen auf der Straße glauben, was sie in der Zeitung lesen: „Was Sie mit Ihrem Kind verbunden hat, das Wissen über die Vorlieben eines Familienmitglieds, das wird ihnen entrissen, denn die anderen wissen es besser“, sagt Gisela Mayer. Mehr noch: Das Bild der Mutter von der eigenen Tochter wird angezweifelt, wenn es nicht mit den vermeintlichen Fakten aus der Zeitung übereinstimmte. Die Trauer verzerre halt den klaren Blick, und überhaupt, vielleicht habe sie ihre Tochter nicht so gut gekannt, musste sich Gisela Mayer anhören. „Da wird eine Figur aufgebaut, die es niemals gab. Und den Hinterbliebenen wird so ganz nebenbei die eigene Erinnerung an die eigene Tochter genommen“, klagt die Mutter.

Der andere Weg. Dass die Leser durchaus auf Opferfotos und emotionalisierte Berichte von Beerdigungen verzichten können, bewies in den Tagen nach dem Amoklauf ausgerechnet eine kleine Regionalzeitung: „So viel Zuspruch hat unsere Zeitung noch nie bekommen“, berichtet Frank Nipkau, Chefredakteur des Zeitungsverlages Waiblingen, über die Reaktionen aus der Bevölkerung. Sofort nach dem Amoklauf hatte er drei Regeln festgelegt: „1. Wir sprechen von uns aus keine Opferfamilien an. 2. Wir zeigen keine Opferfotos. 3. Wir berichten nicht über Beerdigungen.“ Und musste sich daraufhin von Kollegen auf der Durchreise anhören: „Ja, wie wollt ihr dann eure Seiten füllen, über was wollt ihr denn berichten?“ Es gab genug Stoff – zum Beispiel die politischen Fragen nach einem Waffenverbot oder dem Umgang mit Killerspielen. 130 Extraseiten hat die „Winnender Zeitung“ allein im Zeitraum 11. bis 31. März zu dem Amoklauf und seinen Folgen gebracht (abrufbar im Internet: http://zvw.zvw.de/amoklauf). Nipkau sagt auch heute: „Wir müssen nicht alles schreiben, wir müssen nicht alles zeigen und können trotzdem eine gute Zeitung machen.“ Es gab und gibt genug Stoff – jenseits der intimen Fragen nach Gefühlen und Verlusten. Zum Beispiel die nach den politischen Dimensionen, nach dem Umgang mit Waffen und Killerspielen. Aber ein Jahr nach der aufgeregten Debatte sind diese Themen aus der überregionalen Berichterstattung weitgehend verschwunden, kritisiert Nipkau, der damals wie heute offen Kritik an der Berichterstattung von Kollegen übt. Damit macht er sich nicht nur Freunde. Nicolaus Fest, Mitglied der „Bild“-Chefredaktion, warf ihm gar „standeswidrige Verlogenheit“ vor, so geschehen bei einer Podiumsdiskussion bei der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche 200. Doch das ficht Nipkau nicht an, er tritt weiter, nicht nur im eigenen Blatt, für mehr Sorgfalt und Sorgsamkeit in der Berichterstattung ein – auch im Hinblick auf die Folgen der Veröffentlichungen.

Um so mehr begrüßt er den Verhaltenskodex, den das Nachsorgeteam der Pschylologen in Winnenden im Vorfeld des Jahrestages veröffentlicht hat (s. „Acht Regeln für Amokberichte“ unter www.mediummagazin.de). Denn „Fragen nach dem Motto ‚Wie fühlst du dich?‘ grenzen bei vielen Betroffenen an Körperverletzung und können ganze Therapien gefährden“, sagt Psychologe Thomas Weber, der die Verhaltensregeln für Journalisten initiiert hat.

Journalistische Folgen. Auch Hinterbliebene wie Gisela Mayer, die ihr Leben inzwischen in den Dienst der Amokprävention gestellt haben, kämpfen ein Jahr nach dem Schulmassaker immer noch dafür, dass sich die Medien endlich ihrer Verantwortung stellen: „Gäbe es keine mediale Plattform, würde sich der Amokläufer still und leise im Wald umbringen“, sagt Gisela Mayer.

„Wenn der Mörder zum Mythos gemacht wird, entsteht ein Anreiz für Nachahmer“, sagt auch die Gießener Rechtsprofessorin Britta Bannenberg und appelliert: „Man darf die Täter nie mit Waffen und Verkleidung zeigen.“ Die Kriminologin untersucht seit Jahren die Psychologie von Amokläufern – und die Rolle der Medien. Sie verweist auf eine Absprache zwischen dem Nahverkehrsbetreiber „Wiener Linien“ und den Lokalmedien, dass über Suizide auf den Schienen nicht mehr berichtet wird. Die Folge: Die Zahl der Selbstmörder ging um mehr als die Hälfte zurück. Doch nur wenige Medien haben diesen Nachahmer-Aspekt im vergangenen November berücksichtigt, wie Christoph Cadenbach im „SZ-Magazin“ (7/2010) berichtete: „Als sich der Torwart Robert Enke im November 2009 vor einen Zug warf, berichteten die Medien ausführlich darüber – obwohl jeder wusste, dass das die Gefahr von Nachahmungstaten erhöht. Vier Monate später ist klar: Die Zahl der Menschen, die sich mit einem Sprung vor den Zug ums Leben bringen, ist massiv gestiegen. Darüber aber spricht niemand.“

Und doch haben die medialen Tiefpunkte etwas bewirkt – nicht zuletzt, da die nicht-journalistischen Kritiker heute dank Blogs, Twitter und Social Media selbst über wirksame öffentliche Foren verfügen, in denen sie die Berichterstattung der Profis an den Pranger stellen, oft genug zu Recht. „Für uns gibt es zwei Lehren aus dem Fall Winnenden“, sagt beispielsweise Alfons Kaiser, Redakteur „Deutschland und die Welt“ der „FAZ“: „Die Vor-Ort-Recherche, also das Befragen von Nachbarn, Freunden oder Verwandten des Täters, ist höchst problematisch, weil es kaum Möglichkeiten gibt, solche Angaben zu verifizieren und weil jeder glaubt, er könne zur Aufklärung etwas beitragen. Im Zweifel ist es sogar besser, als vorläufig gekennzeichnete Beobachtungen niederzuschreiben, als erste Spekulationen vermeintlicher Kenner wiederzugeben. Es ist zudem sehr wichtig, die Familien der Opfer zu schützen und Fotos von getöteten Schülern nicht zu zeigen. Auch ist es aus unserer Sicht besser, Bilder von dem Täter sparsam einzusetzen, um Heldenmythen und einer Identifikation mit dem Täter so gut wie möglich vorzubeugen.“

Auch beim SWR hat der Amoklauf für konkrete Änderungen in der journalistischen Arbeit gesorgt, gleichwohl Uschi Strautmann, Leiterin der Fernsehabteilung Baden-Württemberg Information betont, dass der SWR bereits damals Jugendliche nur mit dem Einverständnis der Eltern befragt, nur ein stark verfremdetes Foto
vom Täter und keine Bilder von der Beerdigung vom Friedhof, sondern nur aus großer Distanz eine Totale gezeigt habe. Dennoch: „Nach dem Amoklauf haben wir den Leitfaden für unsere Reporter noch einmal überarbeitet und darin festgelegt, dass unsere Kollegen zum Beispiel erkennbar traumatisierte Menschen nicht befragen dürfen. Zudem haben wir uns im SWR darauf verständigt, über (solche) Drohungen gar nicht zu berichten. Einzige Ausnahme – wenn wir von der Polizei ausdrücklich darum gebeten werden“, sagt Strautmann. Um die Mitarbeiter zu schulen, hat der SWR zudem ein Seminar zum Thema „Trauma und Journalismus“ angeboten (s. Kasten Verhaltensregeln).

Vertrauensfragen. Denn auch die Reporter müssen die Eindrücke und Bilder selbst erst einmal verarbeiten, die meisten waren auf einen Amoklauf nicht vorbereitet – und haben so ungewollt ihre ganze Hilflosigkeit offenbart. Noch auf dem Schulhof stellen sie die Frage nach dem „Warum“, sie verrennen sich in Erklärungsversuchen, ziehen Vergleiche mit anderen Amokläufen. „Der krampfhafte Versuch, dieses unerklärbare Unglück zu erklären, wirkt auf die Betroffenen abstoßend“, sagt Gisela Mayer. Hinzu kommt die Erwartungshaltung, wie Trauer medienwirksam auszusehen habe: „Mir haben Medienvertreter immer wieder vorgeworfen, dass ich vor der Kamera nicht schluchzen und weinen würde. Die Verletzung nach dem Verlust der eigenen Tochter ist zu groß, um zu erlauben, dass sie von der Öffentlichkeit gesehen wird. Wer das zulässt, ist der Öffentlichkeit schutzlos ausgeliefert“, sagt Gisela Mayer. Mit fatalen Konsequenzen: Hinterbliebene, die sich dem Druck von Mikrofon und Kamera gebeugt und öffentlich geweint haben, sind in ein tiefes Loch gefallen, sobald die gewünschten Szenen im Kasten waren und sich die Journalisten von ihrem Leid abgewandt haben.

Die Pressesprecherin des Aktionsbündnisses versucht seit einem Jahr, den schwierigen Spagat zwischen öffentlichem und eigenem Interesse zu meistern: Sie weiß, wenn ihr Kampf um Präventionsmaßnahmen öffentliches Gehör finden soll, muss sie sich auch immer der Frage stellen, wie sie sich fühlt nach dem Verlust der Tochter. Doch: „Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die meisten Journalisten über ein klägliches Repertoire von drei Fragen verfügen“, sagt Mayer. „Ich habe erlebt, dass es ausschließlich auf die Person des Journalisten ankommt, wie er sich bei der Recherche verhält.“

Denn es waren eben nicht nur die Boulevard-Reporter, die mit taktlosen Fragen und dem Wunsch nach mehr Tränen das Vertrauen in ihren Berufsstand aufs Spiel gesetzt haben, sondern auch Vertreter öffentlich-rechtlicher Anstalten sowie renommierter Blätter – und die Hinterbliebenen wissen nicht mehr, welchen Medien sie überhaupt noch vertrauen können. „Die Angenehmsten waren diejenigen, die keinen vorgebauten Fragenkatalog abgespult haben“, erinnert sich Gisela Mayer. Die offen zugegeben haben, dass sie nicht wissen, was sie sagen sollen, sondern hören wollten, was die Hinterbliebenen wirklich zu sagen haben.

Erschienen in Ausgabe 03/2010 in der Rubrik „Special“ auf Seite 24 bis 24 Autor/en: Sebastian Wieschowski. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.