Freie Widrigkeiten

Wenn andere Menschen Feierabend haben, fängt der Arbeitstag von Annette Bopp oft erst richtig an. Für kreatives Schreiben braucht sie Ruhe, und die findet die allein erziehende Mutter meist erst am Abend. Kurz nach 20.00 Uhr setzt sie sich in ihrem Arbeitszimmer im ersten Stock des kleinen Einfamilienhauses in Hamburg-Tonndorf wieder vor den Bildschirm und bastelt weiter an ihren Texten, bis spät in die Nacht.

Vor ein oder zwei Uhr morgens schaltet sie ihre Schreibtischlampe meist nicht aus. An manchen Tagen, wenn es gerade richtig gut „fließt“, arbeitet sie sogar noch länger. „Das ist dann fast manisch“, erzählt sie. „Dann kann ich einfach nicht aufhören zu schreiben.“

Seit 22 Jahren arbeitet Annette Bopp jetzt als freiberuflich tätige Journalistin für Medizin und Kultur. 22 Jahre, in denen sie eine ziemlich gnadenlose Ausbeutung mit sich selbst betrieben hat. Denn für sie als Freie kostet jeder Urlaub doppelt, Fehltage durch Krankheit sind schwierig, weil sie dann ebenfalls nichts verdient. Und dann sind da noch ihre beiden Kinder, die 18 Jahre alte Isabella und der 12 Jahre alte Max, für die sie sorgen muss.

Im Durchschnitt bleiben ihr nur vier bis fünf Stunden Schlaf, bis sie wieder aufstehen muss, um den Kindern das Frühstück zu machen. So geht das jeden Tag. Sieben Tage die Woche. Auch am Wochenende. Zeit zum Entspannen bleibt der 58-Jährigen nur, wenn sie sich selbst dazu zwingt. Oder zwischendurch, wenn sie – Luxus der Freiberuflichkeit – die Sonne auf der Terrasse nutzen kann, für die Kinder das Essen kocht oder im Garten werkelt. Dinge, die sie vorzugsweise dann erledigt, wenn die eigenen Gedanken blockiert sind und die passenden Formulierungen nicht einfallen wollen.

Trotz dieses aufreibenden beruflichen Alltags ist Annette Bopp zufrieden. Zufrieden mit ihrem Leben und vor allem: zufrieden mit ihrer Arbeit als Freie. Ihre Schaffensbilanz kann sich sehen lassen: Über 20 Bücher weist ihre Homepage aus ( www.annettebopp.de). Sie hat für die „Süddeutsche“ geschrieben, für „Bild der Frau“, die „Zeit“, „Brigitte“, „Geo“ und andere große Magazine. Der „Wechsel zwischen Telegrammstil und anspruchsvollem Feuilleton“ sei „das Salz in der Suppe des Journalismus“, meint sie. Erst dann macht ihr das Schreiben so richtig Spaß. Nicht ein einziges Mal sei sie in der Situation gewesen, dass sie sich mit ihrer journalistischen Arbeit nicht mehr hätte über Wasser halten können. Ergebnis eines Höchstmaßes an Disziplin und Fleiß, denn selten arbeitet sie weniger als 80 Stunden in der Woche. „Viele sagen mir immer wieder: Du spinnst, dreh mal runter“, erzählt Annette Bopp. Doch damit tut sich die 58-Jährige schwer: „Die Angebote und Themen sind meist so verlockend, dass ich nicht Nein sagen kann. Und ich liebe nun mal meine Arbeit!“

Magere Ausbeute. So wie Annette Bopp geht es vielen ihrer freien Kollegen. Die Online-Umfrage unter den Mitgliedern der Interessenvertretung „Freischreiber – Berufsverband freier Journalistinnen und Journalisten“ (s. Kasten) zeigt, dass rund 60 Prozent der Befragten aus freien Stücken die Freiberuflichkeit gewählt haben. Doch die Mehrheit hat mit einer schlechten Auftragslage und Honoraren zu kämpfen, die weit unter denen ihrer festangestellten Kollegen liegen. Durchschnittlich 2.147 Euro verdient ein freier Journalist monatlich, schätzt der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) in seiner letzten repräsentativen Freien-Befragung aus dem Jahr 2008. Eigentlich ein Betrag, von dem es sich leben lässt. Eigentlich. Wären da nicht die Steuern und die Beiträge für Versicherungen und die Künstlersozialkasse, die ein Freier jeden Monat abdrücken muss. Ganz zu schweigen von Rücklagen für schwierige Zeiten oder Krankheitsphasen. Unterm Strich bleiben dem durchschnittlichen, freien Journalisten nach Angaben des DJV nur 1.600 Euro monatlich zum Leben – mehr als die Hälfte weniger als festangestellten Redakteuren zur Verfügung steht. Die Befragung der „Freischreiber“ kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Rund 2.000 Euro brutto verdienen die Mitglieder der Freischreiber durchschnittlich im Monat. Gut jeder zweite Befragte muss sogar mit noch weniger Geld auskommen.

Dass vor allem Freie, die für die Tagespresse arbeiten, Schwierigkeiten haben, finanziell über die Runden zu kommen, ist nicht überraschend. Die neuen Vergütungsregeln für freie Journalisten an Tageszeitungen, die der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e. V. (BDVZ) gemeinsam mit dem Deutschen Journalisten-Verband und dju/Verdi ausgehandelt hat, sollten hier Abhilfe schaffen. Ab 1. Februar dieses Jahres gebe es mehr Geld – das wurde den hauptberuflich freien Tageszeitungsjournalisten versprochen. Zwischen 94 bis 102 Cent pro Zeile sollte ein freier Journalist demnach etwa für eine Reportage bekommen. Für jemanden, der von seiner journalistischen Arbeit einigermaßen leben will oder gar eine Familie zu ernähren hat, ist das ein Witz.

Zudem sieht die Realität eher noch anders aus. „Auf den Abrechnungsbelegen ist in der Regel nicht zu erkennen, dass die Verlage die neuen Honorare auch zahlen“, kritisiert der Verband Freischreiber ( www.freischreiber.de). Das Problem: Die neuen Vergütungsregeln sind ein Regelwerk. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Jeder freie Journalist muss sich selbst darum kümmern, dass die neuen Spielregeln bei der Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber auch gelten. Doch danach zu fragen, traut sich fast niemand. Und diejenigen, die den Mund aufmachen, stoßen vielfach auf Zynismus und taube Ohren.

Kürzungen um die Hälfte. Die finanzielle Unsicherheit setzt auch Annette Bopp immer wieder unter extremen Druck. Einer der großen Verlage, für den sie seit 1992 arbeitet, hat in den vergangenen fünf Jahren ihre Honorare um fast 50 Prozent gekürzt – bei steigenden Ansprüchen an Recherche und Text und drastisch gestiegenen Kosten; allein bei der technischen Ausstattung wird heute viel vorausgesetzt. Wählerisch sein und Forderungen stellen – das kann ein freier Journalist heute nicht mehr. Wer auf höheren Honoraren oder Übernahme von Reisekosten besteht, geht das Risiko ein, den Auftrag zu verlieren. „Es stehen genug andere freie Journalisten auf der Schwelle, die für noch weniger Geld schreiben“, erzählt Annette Bopp. „Das wissen die Verlage und spielen uns oft gegeneinander aus.“

Und obwohl in den Führungsetagen der Verlage und Redaktion allenthalben hohe Qualitätsansprüche betont werden, spreche die Realität doch eine andere Sprache. „Wichtiger ist heute, ob eine Schlagzeile die Auflage steigert oder sich ein Buch gut verkauft – Qualität und Wahrheitsgehalt des Textes sind demgegenüber meist zweitrangig“, schildert Annette Bopp ihre Erfahrungen. „Manche KollegInnen machen es den Chefs allerdings leicht, diesen Kurs zu steuern, wenn sie nicht mehr bereit sind, sich in ein Thema richtig reinzuknien und selbst zu niedrige Ansprüche an ihre Arbeit stellen.“ Auf Medizin-Pressekonferenzen melde sich kaum noch jemand mit kritischen Fragen zu Wort. Sprachlich wie orthografisch ließen viele Texte zu wünschen übrig. Masse zähle in der Praxis offenbar mehr als Klasse, beobachtet sie.

Gefährlicher Mix. Kommunikationswissenschaftler wie der Hamburger Journalistikprofessor Siegfried Weischenberg sehen die journalistische Qualität noch aus einer ganz anderen Richtung bedroht: Für sie ist die viel kritisierte Vermischung von Journalismus und PR zum größten Problem geworden. Nach dem Ergebnisbericht des DJV übt jeder vierte freie Journalist nebenbei noch andere Tätigkeiten aus, um den eigenen Lebensunterhalt überhaupt finanzieren zu können. In der Online-Befragung der Freischreiber gab sogar jedes dritte Mitglied an, vom Journalismus allein nicht mehr leben zu können. Vor allem Freie, die hauptsächlich für Tagespresse und Fachzeitschriften schreiben, müssen sich ein Zubr
ot in anderen Bereichen verdienen, da die journalistischen Honorare nicht mehr den Lebenunterhalt decken.

Die meisten der Freischreiber-Mitglieder arbeiten daher auch in den benachbarten Sparten Werbung und Public Relations: Die Honorare liegen dort deutlich höher und werden regelmäßiger gezahlt, Anforderungen und Arbeitsweise ähneln denen des Journalismus. Solche Ergebnisse rufen Sittenhüter wie die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche auf den Plan, die die Identität und Profession des Journalismus durch die Tätigkeit in beiden Bereichen bedroht sehen. In den Augen des Vorsitzenden Thomas Leif verhalten sich Journalismus und PR gar „wie der Teufel und das Weihwasser“zueinander. Entsprechend fordert der Verband in seinem Medienkodex: „Journalisten machen keine PR.“ Eine ebenso hehre wie umstrittene Regel, denn viele Freie sind angesichts der katastrophalen Honorarsituation im Journalismus darauf angewiesen, auch PR-Artikel zu schreiben. Das geht aus der Online-Befragung der „Freischreiber“ deutlich hervor. Mehr als ein Drittel der Befragten könnte ohne Zusatzeinkommen aus PR-Tätigkeiten in den Bereichen Public Relations, Öffentlichkeitsarbeit, Unternehmenskommunikation und Co. gar nicht überleben. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. „Ich kenne keinen Freien, der nicht PR macht“, erzählt Annette Bopp. „Die meisten sagen es nur nicht.“ Vorwerfen will sie das niemandem. Denn: Was bliebe diesen Journalisten, wenn sie auf die PR-Arbeit verzichten müssten? Eine Freie schrieb in ihrer Antwort auf die Online-Umfrage, dass sie ohne PR auch ihren Beruf als Journalistin nicht mehr ausüben könnte, da die Verlage zu schlecht bezahlen würden.

Notwendige Mischkalkulation. Entsprechend pragmatisch stehen die meisten Mitglieder der „Freischreiber“ dem Thema Journalismus und PR gegenüber – ein Zeichen dafür, dass die Kombination von Journalismus und PR in der freiberuflichen Praxis längst nicht so kritisch gesehen wird wie in der akademischen und medienpolitischen Diskussion. Rund 80 Prozent der befragten „Freischreiber“ vertreten die Ansicht, dass sich Journalismus und PR durchaus kombinieren lassen, solange dies transparent gemacht und die PR-Arbeit von der journalistischen Tätigkeit deutlich getrennt wird. Zwar halten viele Befragte die Forderung von Netzwerk Recherche nach einem PR-Verbot grundsätzlich für erstrebenswert. Doch haben sie Verständnis dafür, dass PR-Arbeit für viele Freie in der heutigen Zeit ein unerlässlicher Bestandteil des Einkommens geworden ist. „Wenn Redakteure und Verleger das anders sehen, sollen sie mehr zahlen. Viele von uns würden sofort mit PR aufhören“, gab eine Journalistin an, die für die Tagespresse schreibt und nebenbei für Kundenmagazine tätig ist.

So wie diese Journalistin beurteilt auch Annette Bopp das schwierige Verhältnis zwischen Journalismus und PR-Arbeit. „Man muss als Freie immer eine Mischkalkulation machen“, sagt sie. Sich ohne PR über Wasser zu halten, ist aus ihrer Sicht heute kaum noch möglich. „So lange die finanzielle Situation der Freien so bleibt und sich die Honorare – wie es heute sowohl bei Buch- als auch bei Zeitschriftenverlagen gängige Praxis ist – auf dem Niveau von 1989 bewegen, kann man diese Forderung nicht erfüllen“, meint sie.

Schwierige Trennung. Der Verband Freischreiber sieht in einer transparenten und vom Journalismus klar abgegrenzten PR einen akzeptablen Kompromiss. Mitglieder, die sowohl in Journalismus und PR tätig sind, sollten auf eine strikte Trennung beider Bereiche achten. Das hört sich zunächst einmal vernünftig an. Doch wie soll eine solche Trennung in der Praxis aussehen? Verhaltensregeln, wie die Vermischung von Journalismus und PR vermieden werden kann, bietet der Verband seinen Mitgliedern bislang nicht an. „Die Trennung von Journalismus und PR ist schwierig zu definieren“, räumt Annette Bopp ein. Denn wo fängt PR an und wo hört PR auf? Fest steht: Ein Freier sollte nicht über Themen schreiben, die er auch journalistisch bearbeitet. Darin sind sich die Befragten einig.

So sieht das auch Annette Bopp. Für sie ist zudem die Suche nach der Wahrheit stets das wichtigste Kriterium, um die eigene Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten. „Ich muss später noch in den Spiegel schauen können“, sagt sie. Wer sich korrumpieren lässt, hat aus ihrer Sicht den Anspruch an sich selbst und seine Arbeit längst verloren.

Der „durchschnittliche“ Freischreiber ist den Ergebnissen der Umfrage zufolge:

1. 40 Jahre alt und

2. weiblich.

3. Er ist ein „echter“ Freier, der sich freiwillig für die Freiberuflichkeit entschieden hat.

4. Er hat einen Hochschulabschluss und eine feste Beziehung, aber

5. oft keine Kinder.

6. Er arbeitet für Printmedien (v. a. Publikumszeitschriften) und

7. verdient etwas mehr als 2.000 Euro brutto im Monat.

Erschienen in Ausgabe 04+05/2010 in der Rubrik „Beruf“ auf Seite 34 bis 34. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.