Luft nach Oben

Interview: Simone Schellhammer

 

Herr Schröm, Herr Grill, als der Vorsitzende vom Netzwerk Recherche (NR) Thomas Leif im Sommer wegen fälschlich erhaltener Förderungen zurücktreten musste, schlugen die Wellen hoch. Wie haben Sie die Kritik erlebt?

Markus Grill: Wir haben von Anfang an mit einer kritischen Berichterstattung gerechnet. Manches war allerdings überzogen, manches auch falsch. Aber uns war klar, dass ein Verein wie das Netzwerk, der immer wieder Leute attackiert und besonders hohe Maßstäbe einfordert, die eigenen Fehler auch mit besonderer Schärfe um die Ohren geschlagen bekommen würde. Für Journalisten ist das übrigens auch mal eine ganz lehrreiche Situation, auf der anderen Seite der Barrikade zu stehen, also nicht andere anzugreifen, sondern selbst angegriffen zu werden. Seit September sind die Vorgänge aber aufgearbeitet und erledigt, das Geld ist zurückgezahlt, und seit Mitte November ist ein neuer Vorstand im Amt, der mit großer Mehrheit gewählt worden ist. Das Ganze war eine blöde Situation für alle, aber jetzt kümmern wir uns wieder um die Inhalte.

Oliver Schröm: Ich bin nur wenige Tage, bevor die Bombe platzte, dem Verein beigetreten und habe einen Moment überlegt: Muss ich jetzt gleich wieder austreten? Aber die Transparenz, mit der die Sache dargestellt und vor allem aufgearbeitet wurde, war vorbildlich. Darum bin ich geblieben, weil ich finde, die haben bei der Aufarbeitung alles richtig gemacht. Zudem hat mich die Atmosphäre beim Jahrestreffen überzeugt und begeistert. Da saßen in den Workshops junge Journalisten mit ihrem Laptop auf den Knien und waren gierig nach Handwerkszeug zum Thema Recherche. Dieser Spirit zeichnet das Netzwerk aus.


Herr Schröm, Sie waren ja 2001 Gründungsmitglied und schon einmal im Vorstand.

Schröm: Ich war mal kooptiertes Mitglied im Vorstand, bin dann aber wieder ausgetreten.


Warum?

Schröm: Ich hatte nicht den Eindruck, dass das Netzwerk, so wie es damals agierte und aufgestellt war, ein Verein war, der junge Journalisten bei ihren ersten investigativen Gehversuchen an die Hand nimmt. Es war damit nicht mein Verein. Ich bin dann ausgetreten, still und leise. Vor zwei Jahren kam ich wieder in Kontakt mit dem Netzwerk. Ich war als Vertreter des „stern“ eingeladen zu dem Panel „Was machen die investigativen Ressorts?“. Bei der Gelegenheit schaute ich bei dem einen oder anderen Workshop vorbei und stellte fest, dass das ein ganz anderer Verein geworden war. Es ist heute ein Verein, der mit seinen Veranstaltungen auch viele junge Leute, Volontäre, Journalistikstudenten und Jungredakteure, anzieht.


Wieso ließen Sie sich denn in den Vorstand wählen – um so gewissermaßen den Verein zu retten?

Schröm: Ich habe niemanden oder irgendetwas gerettet. Sondern Markus Grill und federführend David Schraven, mittlerweile unser Kassierer, haben sich die Mühe gemacht und die Affäre aufgearbeitet. Das sind die Retter des Vereins. Und als ich gefragt wurde, war für mich die Voraussetzung, dass die beiden mitmachen.


Und was war Ihre Motivation?

Schröm: Der institutionalisierte Recherche-Journalismus ist hierzulande ja noch eine sehr junge Disziplin. Als ich vor mehr als 20 Jahren Hospitant bei Zeitungen in Amerika war, da hatte fast jede Zeitung schon ein investigatives Ressort. Als ich zurückkam und bei einem Ressortleiter – ich sage jetzt nicht, von welcher Zeitung – kundtat, dass man solche Ressorts auch in Deutschland gründen müsste, da wurde ich angeschaut, als hätte ich vorgeschlagen, auf dem Mond ein Außenbüro zu eröffnen. Das war völlig außerhalb der Vorstellung. Und da hat das NR seit seinem Bestehen unglaubliche Pionierarbeit geleistet.

Grill: In Deutschland ist traditionellerweise ja der Meinungsjournalismus wichtig, das heißt, Reportage und Kommentar sind die angesehenen Textformen, weniger der aufdeckende Journalismus. Die Königsdisziplin war hierzulande immer die Reportage mit literarischen Ambitionen. Und da hat Netzwerk Recherche es geschafft, vielleicht eine Gleichwertigkeit herzustellen, oder zumindest doch, die investigative Arbeit aufzuwerten. Ein Ausdruck dafür ist auch, dass es heute zum Beispiel nicht mehr nur den Kisch-Preis gibt, sondern auch den Henri-Nannen-Preis für investigative Leistungen oder den Otto-Brenner-Preis, der oft bedeutende Recherchen auszeichnet.


Wie werden Sie die Strukturen des Vereins verändern?

Grill: Wir werden viel mehr delegieren als früher. Das können wir aber auch gut machen, weil wir hervorragende neue Vorstandskollegen an Bord haben. Das sind alles Praktiker, etwa Renate Daum, eine der besten Finanzjournalistinnen, oder Bernd Kastner von der „Süddeutschen Zeitung“. Es wird nicht mehr einer der oberste Zampano sein. Wir wollen zu einer klaren Aufgabenverteilung kommen. Einer soll für die „Verschlossene Auster“, unseren jährlichen Negativpreis, zuständig sein, einer für den Leuchtturm-Preis, einer für die Stipendien, ein Team für die Jahrestagung, einer für die Fachkonferenzen, einer für Publikationen und so weiter. Wir müssen den Verein auf mehr Schultern verteilen. Ich war angenehm überrascht, zu erleben, wie Mitglieder jetzt auf uns zukommen und sagen: „Wenn ihr noch Aufgaben zu verteilen habt, ich mach mit.“ Es gibt derzeit eine richtige Aufbruchsstimmung.

Schröm: Es ist tatsächlich ein sehr homogener Vorstand, alles ausgewiesene Recherchejournalisten und dadurch ist eine Begegnung, auf Augenhöhe möglich. Das macht Spaß.

Grill: Dass etwa so jemand wie der renommierte Filmemacher und Buchautor Egmont R. Koch künftig die Stipendien betreut, ist für uns ein schönes Zeichen.


Mitmachen heißt dann ja auch mitbestimmen, also mehr Demokratie?

Grill: Ja, absolut. Denn wir sind nicht klüger als die anderen. Ich bin erst seit zwei Jahren dabei. Aber nach dem, was ich gehört habe, galt bei Netzwerk Recherche schon immer die Devise: Nur so viel Verein wie nötig. Wir sind ja alle keine Vereinsmeier. Wir wollen den investigativen Journalismus fördern und ein wenig institutionalisieren. Das heißt aber nicht, dass die beiden Vorsitzenden alles bestimmen wollen.

Das Problem bei NR war ja, dass die Mitglieder nicht wirklich vernetzt waren. Was wird sich in dieser Hinsicht ändern?

Grill: Wir planen einen Mitgliederbereich auf der Homepage, ein Tool, mit dem Mitglieder miteinander in Kontakt treten können, wenn sie das wollen. Das kann eine Hilfe sein, wenn etwa jemand in Gelsenkirchen zum Thema Korruption in der Baubranche recherchiert und nicht weiterkommt. Der kann dann eventuell im Netzwerk jemanden finden, der in der Nähe ist oder sich auch mit dem Thema auskennt.

Schröm: Das Netzwerk soll ein Ort der Begegnung sein, wo Journalisten zusammenkommen, die eine spezielle Art des Journalismus betreiben. Deshalb sind auch die Fachtagungen sehr wichtig. Mir geht es nicht so sehr darum, dass ältere Herren von vergangenen Heldentaten berichten. Sondern junge Journalisten sollen lernen, die neuen Möglichkeiten der Recherche zu nutzen, etwa bei Social Media.


Waren die Fachtagungen Ihnen denn bisher zu lau?

Grill: Nein. Mitte November kamen zu unserer Konferenz über „Gescheiterte Recherchen“ über 100 Journalisten nach Köln.

Schröm: Bei mir fiel im Frühjahr bei der Fachtagung „Recherche reloaded“ der Groschen, dass ich mich bei Netzwerk Recherche wieder stärker engagieren werde. Da habe ich eine Datenjournalistin kennengelernt und sie gleich nach Ende ihres Workshops gefragt, ob sie zum „stern“ wechseln möchte. Das Netzwerk ist also auch ein Podium für junge Talente.

Grill: Auf der Fachtagung in Köln hat Uwe Ritzer von der „Süddeutschen Zeitung“ einen wichtigen Punkt angesprochen. Er schlug vor, dass die Leute, die investigativ arbeiten, solidarischer miteinander umgehen sollten. Wir erleben ja gelegentlich, dass eine Zeitung einen Skandal exklusiv aufdeckt, die Schurken in Deckung gehen und hoffen, in zw
ei Wochen ist der Fall vergessen. Dieser Trick funktioniert sogar häufig, weil andere Zeitungen aus Konkurrenzgründen nicht auf die Geschichte einsteigen. Damit tappt man aber genau in die Falle, die die PR-Agenturen einem stellen, indem sie auf das Kurzzeitgedächtnis der Medien spekulieren und den Betroffenen raten, sich lange genug wegzuducken.


Wobei man den Medien doch auch oft vorwirft, sie schrieben nur ab, was andere ausgebuddelt haben, um die Geschichte dann weiterzudrehen.

Grill: Bei großen, harten Enthüllungsgeschichten, wo nur ein Medium die Quellen hat, trifft das meist nicht zu. Konkurrenz ist ja schon gut und wichtig, aber sie sollte im Journalismus nicht der einzige Maßstab sein.


Konkurrenz ist ein sehr interessantes Stichwort. Denn bei NR bewegt man sich ja in einem hoch konkurrenten Umfeld.

Grill: Ja klar, aber man ist doch nicht nur Konkurrent. Natürlich freue ich mich, wenn ich einen schönen Pharmaskandal habe. Aber trotzdem freue ich mich auch, wenn die SZ oder die FAZ eine kritische Berichterstattung über dieses Themenfeld hat. Und ich freue mich nicht, wenn andere Medien irgendwelchen PR-Fuzzis auf den Leim gehen. Netzwerk Recherche will den Qualitätsstandard insgesamt erhöhen.

Schröm: Also ich freue mich nicht, dass ihr beim „Spiegel“ am Anfang der Berichterstattung über den braunen Terror die Nase vorn und exklusiv das Bekenner-Video hattet. Aber ich erkenne das voller Respekt an und kann da nur sagen: Chapeau!


Sie beide kennen sich ja schon länger, waren auch mal gemeinsam beim „Stern“. Kann man sagen, Sie sind befreundet?

Grill: Wir kennen uns über einen gemeinsamen Freund, mit dem ich vor zehn Jahren als freier Journalist in Stuttgart mal ein Büro gegründet habe, Oliver kannte diesen Freund schon vorher aus seiner Volontärszeit. Außerdem kommen wir beide von der Ostalb, einer ziemlich rauen Gegend in Schwaben.


Wie werden Sie nach der Erfahrung der Finanzaffäre bei NR in Zukunft für mehr Selbstkontrolle sorgen?

Grill: Wir sind ständig im Gespräch, jeder weiß, was der andere tut. Es ist immer ein Vier-Augen-Prinzip. Das ist schon mal eine Verdoppelung im Vergleich zu früher. Wir würden auch gerne ein Sechs-Augen-Prinzip anstreben, dazu müsste man aber die Satzung ändern. Wir müssen im Vorstand überlegen, ob unsere Strukturen verbesserungsfähig sind. Das Entscheidende ist aber nicht eine Satzungsänderung, sondern der Spirit, mit dem man den Verein führt.

Schröm: Zum Stichwort Transparenz: Ein Blick ins Vereinsgesetz genügt, um zu wissen, dass die beiden Vorsitzenden haften. Also ist es in aller Interesse, dass die Sache transparent abläuft, dass man auch Warnsysteme hat.


NR hat sehr hohe Rücklagen. Vereine haben oft das Problem, dass in diesem Fall irgendwann das Finanzamt kommt und droht: Wenn ihr das Geld nicht bald investiert, geht womöglich eure Gemeinnützigkeit flöten.

Grill: Das ist bei uns nicht der Fall. Weil wir Rücklagen für den normalen Betrieb und die Konferenzen brauchen. Was glauben Sie, was die Jahreskonferenz kostet, zu der 100 Referenten anreisen und ein- bis zweimal übernachten müssen? Es wäre Harakiri, wenn wir nur Rücklagen von 50.000 Euro hätten. Außerdem ist eine Stiftung geplant, aber das hatte in den letzten Monaten nicht die oberste Priorität, darum gibt es auch noch keinen Mitgliederbeschluss dazu. Die Stiftung soll uns ermöglichen, durch Erträge, die dort erwirtschaftet werden, ein paar Einnahmen zu verstetigen, so dass wir etwa einen Teil der Geschäftsstelle darüber finanzieren können.

Schröm: Ich fände eine Stiftung auch deshalb gut, weil man sich damit unabhängiger von Sponsoren machen kann. Wenn ein Sponsor mal wegen wirtschaftlicher Flaute ausfällt, dann muss man nicht gleich den Geschäftsführer abschaffen. Schwaben wirtschaften halt vernünftig.


Wollen Sie sich weiter sponsern lassen?

Schröm: Wir brauchen Sponsoren, keine Frage.

Grill: Es hat uns auch noch niemand vorgeworfen, dass wir durch Sponsoring inhaltliche Rücksichten genommen hätten.

Schröm: Es ist wie bei jeder Zeitung oder Zeitschrift, die Anzeigen enthält. Schlimmstenfalls zieht ein Kunde eine Anzeige zurück, weil ihm eine Berichterstattung stinkt, aber so ist das Leben, so funktioniert Journalismus und so funktioniert Netzwerk Recherche. Es muss nur transparent sein. Und was wäre die Alternative? Würden Sie einen Teilnehmerbeitrag von 300 oder 400 Euro für die Jahrestagung zahlen wollen?


100 Euro für Nichtmitglieder sind ja auch schon nicht ganz wenig.

Schröm: Wir nehmen den Gedanken gerne auf. Wenn wir das ganze verschlanken, wird’s vielleicht auch günstiger.


Werden denn zum Beispiel RWE und IngDiBa weiter als Sponsoren tätig sein?

Grill: Wir haben letztes Jahr die „Verschlossene Auster“ unter anderem an RWE verliehen. Gibt es einen größeren Beweis für unsere Unabhängigkeit? Wo ist das Problem?


Es ist kein Problem, nur die Frage, ob Sie es wieder machen?

Grill: Keine Ahnung. Wir sind, glaube ich, nicht im Gespräch mit RWE. Aber wenn diese Firma eine Organisation investigativer Journalisten sponsern will, dann können sie das tun. Das verhindert aber nicht, dass sie von uns, wenn es mal wieder nötig ist, in die Pfanne gehauen werden.


Thomas Leif war eine Art Galionsfigur. Als was sehen Sie sich?

Schröm: Wir sind eine Doppelspitze. Man muss den Verein als Verein verstehen, und nicht als Bühne. Wir sind beide keine Super-Promi-Nasen und Stammgäste in Talkshows. Wir sind eine andere Generation, wir haben eine andere Haltung dazu. Eines von Thomas Leifs Verdiensten war unbestritten, dass ihm vor zehn Jahren gelungen war, 40 oder 50 oft zerstrittene, auf jeden Fall stark konkurrierende Journalisten in die rheinland-pfälzische Wallachei zu locken, um gemeinsam einen Verein namens Netzwerk Recherche zu gründen. Daraus wurde schließlich ein Verein mit heute 570 Mitgliedern. Das war natürlich eine Leistung, aber es bedarf hier keiner Galionsfigur. Ich will jedenfalls keine sein. Du?

Grill: Nein. Wir sind allenfalls durch unser Amt ein Stück weit Galionsfigur. Aber ich bin froh, wenn auch andere den Verein repräsentieren.


Wie wird die Jahrestagung in Zukunft aussehen? Ist daran gedacht, sie etwas abzuspecken?

Schröm: Im Dezember haben wir unsere erste Vorstandssitzung. Ein paar Ideen sind schon eingebracht. Die Jahreskonferenz ist inzwischen die beste Journalistenkonferenz in Deutschland. Aber meine Erfahrung war auch, dass da häufig sechs Veranstaltungen parallel laufen. Das heißt, man kommt mit einer Unzufriedenheit raus, weil man denkt, man hat so viel verpasst. Es wäre vermutlich nicht schlimm, wenn da nur drei oder vier Veranstaltungen nebeneinander laufen. Bei der Fachtagung „Recherche reloaded“ im Frühjahr war das so und selbst da dachte man: „Ach, das hätte ich auch noch machen können.“ Wenn man es verschlankt, dann würden die Teilnehmer vielleicht sagen: „Okay, jetzt habe ich den Workshop zu Computer Assisted Reporting nicht geschafft, aber das wird nächstes Jahr bestimmt wieder angeboten.“ Der Workshop-Charakter ist mir da sehr wichtig.


Vieles wiederholt sich ja auch.

Schröm: Manches muss ein festes Angebot sein. Und es tut sich so wahnsinnig viel auf dem Gebiet der Recherche. Es gibt Recherche-Methodiken, die ich selbst nicht beherrsche. Zum Glück habe ich beim „stern“ sechs Mitarbeiter in meinem Team. Da sind drei unter 30-Jährige, die sind fit in Methoden, die ich nicht kann. Die werde ich in diesem Journalistenleben auch nicht mehr lernen, zum Glück auch nicht müssen. Aber all das muss das Netzwerk aufzeigen und auch anbieten. Klingt vielleicht langweilig und sehr sachbezogen, aber das wäre mir wichtiger als hehre Reden zu medienpolitischen Themen. Ich bin nun mal Journalist mit dem Schwerpunkt Recherche und kein Politiker.

Grill: Das Geißeln der Untugenden im Medienbetrieb kann man vielleicht auch ein bisschen zurückfahren.

Schröm: Stimmt.


Welche Themen müssten von investigativen Journalisten denn stärker beackert werden?

Schröm: Investigativer Journalismus definiert sich ja nicht über ein Thema. Investigativer Journalismus ist eine spezielle Art der Recherche, auch der Herangehensweise an Themen, unter Anwendung bestimmter Methodiken. Und diese speziellen Recherche-Methodiken werden heute an Journalistenschulen gelehrt, zum Beispiel an der Henri-Nannen-Schule. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern legt dort Schulleiter Andreas Wolfers bewusst den Schwerpunkt auf Recherche. Ich beneide die Nachwuchsjournalisten dort um ihre Möglichkeiten. Bei uns war das Learning-by-Doing. Auch bei Zeitungsvolontariaten ist in Sachen Rechercheausbildung ein positiver Trend zu sehen. Aber da ist genügend Luft nach oben, wir sind noch weit, weit weg vom Idealzustand. Deshalb ist auch NR so wichtig.

Grill: Ich glaube, dass der investigative Journalismus noch stärker auf die veränderte Wirklichkeit reagieren muss. Für den Bereich Politik heißt das für mich zum Beispiel, dass Journalisten nicht nur versuchen sollten, möglichst früh an irgendwelche Gesetzesvorhaben zu kommen, sondern dass sie die Lobbymechanismen in Berlin viel klarer beschreiben müssen, also wer da mit welchen Methoden Agendasetting macht. Statt einfühlsamer Porträts über Annette Schavan würde ich gerne mal was über die Kontakte des Krisen-PR-Strategen Axel Wallrabenstein lesen, und für welche Kunden er was plant. Das wäre für mich moderner Politikjournalismus. Das wäre Aufklärung anno 2011.

Schröm: Investigative Geschichten müssen auch nicht immer ein Scoop sein. Für einen Scoop reicht es mitunter, wenn mir ein brisantes Papier zugesteckt wird. Das ist toll, aber wahrlich keine investigative Leistung. Vielmehr sind es oft die stillen, leisen Geschichten, die durch eine investigative Recherche entstanden sind. Investigativ arbeitende Journalisten müssen oft lang und tief graben, um an die Informationsbausteinchen zu kommen, die dann im Idealfall ein Gesamtbild, eine Geschichte ergeben. Das ist meist sehr, sehr mühsam und dem ist nicht immer Erfolg beschieden. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb sich nicht sonderlich viele dieser Art von Journalismus verschrieben haben. Es gibt schönere, angenehmere Jobs im Journalismus.

 

DIE NEUEN BEI NETZWERK RECHERCHE:
Am 11. November 2011 wählte die Mitgliederversammlung in Köln einen neuen Vorstand, nachdem auch der langjährige 2. Vorsitzende Hans Leyendecker (SZ) nicht mehr antrat. 1. Vorsitzender wurde Oliver Schröm, Leiter des Ressorts Investigative Recherche beim „Stern“, 2. Vorsitzender Markus Grill, von 2003 bis 2008 ebenfalls als Investigativjournalist beim „Stern“ und seit 2009 beim „Spiegel“, zuvor Beisitzer im Verein. Schatzmeister ist David Schraven, Ressortleiter Recherche bei der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“, ebenfalls zuvor Beisitzer. Kassenprüfer sind Frank Brendel (Lehrbeauftragter für Recherche) und Andreas Kolbe (Deutschlandfunk), Schriftführer ist Alexander Richter (ARD-aktuell). Neue Beisitzer sind Renate Daum (G+J-Wirtschaftsmedien), Markus Frenzel („Fakt“), Bernd Kastner (SZ) und Gert Monheim (freier Autor). Geschäftsführer (mit von der Augstein-Stiftung finanzierten Halbtagsstelle) ist Günther Bartsch.

HINTERGRUND:
2001 gründete der SWR-Journalist Thomas Leif mit 40 Journalisten den gemeinnützigen Verein „Netzwerk Recherche“ (NR). Zum zehnjährigen Jubiläum wurde im Rahmen der Jahrestagung 2011 offenbar, dass der Verein Veranstaltungszuschüsse von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) in Höhe von 75.000 Euro erhalten hatte, die rechtlich nicht zulässig waren. Dies führte zu einer Führungskrise, bei der Thomas Leif zum Rücktritt gedrängt wurde. NR beauftragte daraufhin zwei Wirtschaftsprüfer mit der Untersuchung. Inklusive Zinsen hat der Verein mittlerweile 85.000 Euro an die BpB zurückgezahlt.

Abschlussbericht der Wirtschaftsprüfer: http://bit.ly/sxksT3
Negativpreis „Verschlossene Auster“: www.netzwerkrecherche.de/projekte/verschlossene-auster

 

Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 18 bis 19 Autor/en: Interview: Simone Schellhammer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.