Der Weg zum „Gatewatching“

Was sind die Grundtechniken, die ein Journalist heute beherrschen muss, um mitzukriegen, welche neuen Geschichten im Netz lauern?

Marcus Bösch: Als fundamentales Werkzeug sehe ich derzeit immer noch einen Feed-Reader, mit dem man RSS-Feeds aller Quellen, die für die eigene Arbeit wichtig sind, gut in Ordnern strukturiert, automatisiert sortieren kann. Dazu empfehle ich natürlich dringend Twitter und Facebook. Wenn man einen Info-Vorsprung haben will, geht es nicht ohne Twitter. Ich habe am 15. Februar abends erstmals von der Guttenberg-Affäre gehört, weil jemand auf Englisch getwittert hat, dass die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Ausgabe vom 16. Februar berichtet, dass Guttenberg ein Plagiat vorgeworfen wird.

Ihnen ging es also wie dem bekannten unbekannten Amerikaner, der gesagt hat: „Wenn eine Nachricht wichtig ist, wird sie mich finden.“

Sie wird mich aber nur finden, wenn ich einen sogenannten Social Circle habe, sprich mit anderen Personen vernetzt bin. Im normalen Leben hat man ja auch Freunde, die einem einen Friseur oder eine KfZ-Werkstatt empfehlen. So eine Struktur muss man auch im Netz haben, um sicherzustellen, dass man nichts verpasst. Social-Media-Monitoring-Tools alleine bringen nichts. Es ist nicht damit getan, einmal zu zahlen, sich einmal irgendwo anzumelden und sich dann zurückzulehnen. Das ist im realen Leben auch so: Ich kann nicht Leute kennenlernen, mich dann nie wieder melden und dann auf einmal erwarten, dass sie mir helfen. Ich muss meinen Twitter-Account pflegen, ich muss Leute identifizieren, denen es sich zu folgen lohnt, das ist ein stetiger Prozess.

Das Internet hat aus dem Konsumenten den Prosumenten gemacht, der sich selbst artikulieren kann. Werden Journalisten künftig auch diesen Teil der Öffentlichkeit abbilden müssen, indem sie die relevantesten Inhalte durch Aggregieren zusammenfassen?

Aggregieren ist auf jeden Fall ein zentraler Bestandteil zukünftiger journalistischer Arbeit. Journalisten haben kein Monopol mehr auf Nachrichten, Informationen sind für jedermann fast in Echtzeit verfügbar. Wir erleben gerade einen Übergang vom Gatekeeping zum Gatewatching. Ich empfehle da jedem den Text „Vom Gatekeeping zum Gatewatching“ von Axel Bruns (PDF: http://bit.ly/_gate). Die Herausforderung für den Journalisten ist, dass er trotzdem einen Mehrwert bieten muss. Er muss Texte, Töne, Bilder von Menschen, die zum Beispiel auf dem Tahrir-Platz in Kairo sind, sichten und kompetent auswählen. Frei nach dem Motto: „Do what you do best and link to the rest.“

Das haben Sie vom amerikanischen Journalismus-Professor Jeff Jarvis.

Richtig, und ich schiebe gleich noch ein Zitat von Clay Shirky hinterher, der sagt: „Wenn ich heute ein Medienunternehmen gründen würde, würde ich keine Inhalte selbst erstellen, sondern sie aggregieren und kompilieren.“ Natürlich muss man Quellen nennen, aber in Zukunft wird es noch mehr als jetzt darum gehen, dass man Dinge zusammenbringt, kompiliert, remixt und damit neue Bedeutung schafft, die einen Mehrwert bietet.

Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang das Aggregations-Tool Storify, mit dem man Tweets, Facebook-Posts, Youtube-Videos, Flickr-Bilder, RSS-Feeds oder normale Webseiten in einem Dokument zusammenfassen kann?

Storify ist sehr interessant, es ist Aggregation in Reinkultur, die immer auf die Ursprungsquelle verweist. Für Journalisten ist es sehr interessant, weil man jeden Content, den man einbindet, kommentieren kann. Das wäre zum Beispiel bei der Revolution in Ägypten sinnvoll gewesen. Hier gab es viele über Twitter und Youtube versendete Bilder und Videos, von denen man nicht wusste, ob sie authentisch sind. Auf der Textebene müsste man hier ergänzen: „Wir können derzeit nicht garantieren, ob diese Bilder echt sind.“ Ich denke, dass sich Storify noch weiterentwickeln wird. Derzeit testen die Macher, wie mehrere Leute kollaborativ eine Story bestücken können. Meiner Ansicht nach muss auch an der „User Experience“ gearbeitet werden. Storify müsste noch ein bisschen schicker und angenehmer lesbar werden.

Erschienen in Ausgabe 03/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 31 bis 31 Autor/en: Interview: Bernd Oswald. Foto: Sandra Stein © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.