Die Bezahlschranke senkt sich

Was haben das Neckarwiesenfest in Esslingen, das Konzert des Göttinger Symphonieorchesters, Autodiebstähle in Dresden und die Sicherheit im Hamburger Nahverkehr gemeinsam? Das Euro-Zeichen. Wer diese lokalen Nachrichten und Berichte im Internet lesen will, muss zuerst die Bezahlschranke überwinden. Was Springer bei seinen Lokalblättern seit Jahren vorgibt, wird nun auch in immer mehr Regionalverlagen ausprobiert: Paid-Content-Modelle könnten der Zeitungstrend des Jahres werden.

Kaum ein Verlag in Deutschland, in dem nicht über neue elektronische Erlösmodelle nachgedacht und konferiert wird. Nun bringt die Verlagsgruppe Madsack Schwung in die Sache. Anfang März wurden die Internetauftritte für neun Lokal- und Regionalzeitungen zum Großteil kostenpflichtig. Seither schauen die Verlagsmanager- und Chefredakteure mit höchstem Interesse auf die Aktionen der Konkurrenz.

Modell Madsack

Seit März hat die Verlagsgruppe Madsack die Bezahlschranke für folgende Blätter eingeführt: „Hannoversche Allgemeine Zeitung“, „Neue Presse“, „Göttinger Tageblatt“, „Oberhessische Presse“, „Wolfsburger Allgemeine“, „Peiner Allgemeine“, „Aller Zeitung“, „Schaumburger Nachrichten“, „Waldeckische Landeszeitung“. Noch in diesem Jahr sollen alle weiteren Zeitungen der Gruppe folgen, sagt Martina Lenk, Geschäftsführerin von Madsack Online. Das sind: „Lübecker Nachrichten“, „Ostsee Zeitung“, „Kieler Nachrichten“, „Leipziger Volkszeitung“, „Märkische Allgemeine Zeitung“. Das Modell: Ein Teil der Inhalte wird weiterhin frei zur Verfügung stehen, für exklusive Inhalte müssen die Nutzer bezahlen. Abonnenten der Zeitung oder des E-Papers müssen sich lediglich online registieren und haben kostenfreien Vollzugriff. Alle anderen können wählen zwischen einem Tagespass (99 Cent), Monats-Abo (8,99 Euro), Jahresabo (monatlich 6,99), 24-Monats-Abo (monatlich 5,99 Euro); bei der „Neuen Presse“ sind die Abos jeweils einen Euro billiger. Zusätzlich gibt es verschiedene Apps für Tablets und mobile Anwendungen. Auch diese mobilen Angebote sollen für alle Madsack-Titel entwickelt werden.

Lenk wird derzeit häufig von Kollegen um Rat gefragt. Dabei ist die Zeit noch zu kurz für gesicherte Erfahrungen. „Wir sind noch in der Feinjustierung“, sagt sie. Die Frage, was hat das Blatt exklusiv und was kommt hinter die Paywall, muss jeden Tag neu beantwortet werden. Die Antwort sehe auch für jede Zeitung anders aus (s. a. Kasten). So stießen die Leser einiger Madsack-Zeitungen anfangs noch voll gegen die Bezahlmauer, während die Kollegen anderer Zeitungen der Mediengruppe „exklusiv“ für sich anders definierten. „Es ist klasse, dass wir so starten können, denn wir können innerhalb der eigenen Häuser nun die beste Vorgehensweise erkennen und weitergeben“, so Lenk.

Insgesamt gab es die erwartete Delle bei den Seitenaufrufen. „Im Vergleich zum Februar haben wir im März bei den Visits acht Prozent verloren, bei den PI’s (Page Impressions, wichtig für werbefinanzierte Seiten, Anm.d. Red.) 16 Prozent.“ Dennoch seien die Zahlen – trotz Paywall – höher als im Vorjahr.

Martina Lenk ist jedoch ganz zuversichtlich, dass die Abrufzahlen in wenigen Monaten zum Vormonat wieder steigen werden. „Andere Vorreiter in dieser Sache haben die Erfahrung so machen können“, so Lenk. Auch bei den Abos setzt sie auf die Erfahrungen anderer Verlage (wie z. B. bei Springer oder der „Sächsischen Zeitung“). Die Erzählungen der Kollegen fasst sie so zusammen: „Nach der Trotzphase kam das Einsehen“. Sie berichtet, dass andere Verlage ein halbes Jahr nach Einführung der Paywall Kunden befragt hätten. Viele Nutzer hätten eingesehen, dass die Nachrichten und Berichte kostenpflichtig werden und Online-Abos abgeschlossen. Wie viele das sind, das sei vertraulich.

Auch was die eigenen Online-Abozahlen angeht, nennt Martina Lenk keine konkreten Zahlen. Nur so viel: Die langfristigen Abos sind der Renner unter den Bezahl-Varianten. Ein Effekt, den die Hannoveraner bereits von anderen Zeitungshäusern gehört hatten. Lenk: „Wir haben drei Mal so viele Jahres- und Zweijahres-Abos wie Monats-Abos.“ Allerdings könne man erst im Herbst genauere Aussagen darüber machen, wie sich das Bezahlmodell auswirkt.

Zugleich betont die Online-Geschäftsführerin: „Es geht nicht in erster Linie ums große Geldverdienen, sondern um ein taktisches Manöver.“ Der Verlag bietet mittlerweile eine Reihe mobiler Anwendungen, unter anderem das Wochenmagazin „Sonntag“ fürs Tablet oder die multimediale Tablet-App HAZ 24. „Wenn wir mit diesen Apps auf dem Markt wirtschaftlich erfolgreich sein wollen“, so Lenk, „können wir nicht einen Klick entfernt alles frei anbieten. Das wäre ungerecht und für die Verbraucher nicht verständlich.“

Schranken-Vielfalt in Esslingen

Ähnlich sieht das Nicole Rabus. Sie leitet die Online-Redaktion der „Eßlinger Zeitung“. Dort ist seit Juni 2011 eine mehrstufige Bezahlschranke im Einsatz. „Der Umsatz ist in etwa so hoch wie die Summe, die wir in die Technik investieren müssen“, sagt Rabus. „Unser Hauptziel war aber nicht das Geld, sondern die Marke ‚Eßlinger Zeitung‘ zu stärken.“

Das heißt, Bezahlschranke ja, aber mit vielen Varianten. Die billigste ist, sich einfach zu registrieren. Wer sich mit E-Mail-Adresse anmeldet, darf zehn Artikel kostenlos lesen. Wer mehr will, kann ein prepaid-Guthaben erwerben oder gleich das Onlineabo für 7,90 Euro. Die Abonnenten der Printausgabe bekommen – nach Anmeldung – alle Webinhalte kostenfrei. Derzeit gibt es rund 8.000 registrierte User, davon seien etwa ein Drittel Abonnenten.

Rabus gibt zu, dass die Zahl der reinen Online-Abos „sehr überschaubar“ sei. Auch das Prepaid-Angebot wird nicht sehr häufig genutzt. Dass die Nutzungszahlen trotzdem nicht eingebrochen sind, erklärt Rabus damit, dass die User auf den frei zugänglichen Angeboten surfen. Bilderstrecken und Videos zum Beispiel sind nach wie vor frei und auch die kostenpflichtigen Geschichten sind in einer gekürzten Version verfügbar.

Nicole Rabus sieht das Modell durchaus positiv: „Das Wichtigste ist, aus anonymen Usern adressierbare zu machen, die man gezielt ansprechen kann und an die Marke bindet.“ Die Hoffnung ist, dass aus flüchtigen Usern irgendwann zahlende Gäste des Portals werden. „Vorher waren es Klicks, jetzt stehen Menschen dahinter“.

Andere Liga, ähnliches Modell:

Auch das „Hamburger Abendblatt“ setzt auf Freemium. Das heißt, es gibt einen kostenlosen Basisdienst und dazu kostenpflichtige Premium-Angebote. Wer von außen auf abendblatt.de kommt, zum Beispiel über Google oder Facebook, hat mehrere Klicks pro Tag frei. Damit hofft man, auch flüchtige User zu halten. Doch sind sie nicht die Hauptzielgruppe. Jochen Herrlich, General Manager Digital für das „Hamburger Abendblatt“ und die „Berliner Morgenpost“, formuliert es so: „Wir müssen unsere digitalen Produkte so aufstellen, dass sie auch für die Zeitungsabonnenten immer interessanter werden.“ Das ist die eine Seite des Spagats. Die andere heißt: den Traffic auf den Seiten steigern und viele Interessenten für das Bezahlmodell gewinnen. Bisher, so Herrlich, sei dies gelungen.Heute zählt das Portal elf Millionen Visits. Das sind knapp doppelt so viele Seitenbesuche im Monat wie bei der Einführung der Paywall im Dezember 2009.

Zahlen zu den Verkäufen wurden zuletzt Zahlen im August vergangenen Jahres veröffentlicht. Damals wurden für das „Abendblatt“ 3.100 digitale Verkäufe pro Ausgabe genannt. Darunter zähl
en E-Paper-Ausgaben ebenso wie mobile Dienste und Online-Abos. Hinzu kamen fast 45.000 Print-Abonnenten, die sich ihr Abo auch digital freischalten ließen.

Wer das „Abendblatt“ im Abo hat, bekommt die Online- und App-Nutzung im Rahmen eines sogenannten Marken-Abos frei. Herrlich: „Wir schaffen damit eine höhere Bindung zu den Kunden.“ Es geht darum, die Abonnenten dort zu erreichen, wo sie den Tag über sind. Zusätzlich sollen neue Zielgruppen gelockt werden, etwa mit Kombi-Angeboten und Apps. „Wir erreichen durch die Apps und die Online-Angebote Menschen, die das ‚Abendblatt‘ als gedruckte Zeitung sonst gar nicht lesen.“

Letztlich ist das keine Frage des Kanals, sondern der Inhalte. Herrlich betont: „Mehr Lokalisierung und Sublokalisierung ist für uns in allen Bereichen das treibende Element.“ Dazu zählen nicht nur exklusive Geschichten, sondern auch umfangreicher lokaler und regionaler Service, mehr Grafiken und Datenjournalismus. „Es geht darum, mit Qualitätsinhalten und besonderen Angeboten Werte und Vertrauen zu schaffen, damit die Besucher wiederkommen, und nicht einfach nur Klickraten.“

Doch reicht das aus? Schaffen es die Verlage, ihr Geschäftsmodell so ins Internet zu übertragen, dass es sich rechnet? Darüber wird nicht nur in Esslingen, Hannover oder Hamburg nachgedacht. So hat Harald Wahls, Geschäftsführer der „Braunschweiger Zeitung“, im Februar angekündigt, ein „Metered Freemium Modell“ einzuführen. Einen Zeitpunkt konnte man in dem zum WAZ-Konzern gehörenden Haus aber noch nicht nennen. Mit einem Relaunch und neuen digitalen Angeboten wollen die Titel der WAZ-Gruppe im ersten Halbjahr 2012 auch in NRW den Übergang zu Paid Content bereiten. Und Joachim Braun, Chefredakteur im „Nordbayerischen Kurier“, kündigt an, sein Haus werde noch in diesem Jahr das in Esslingen praktizierte Paywall-Modell einführen.

Markt & Möglichkeiten

Allerdings haben sich die deutschen Zeitungsverlage nicht durch innovative Modelle hervorgetan. „Bei uns ist das E-Paper immer noch die Haupteinnahmequelle im Digitalen“, sagt Katja Riefler. Sie berät seit Jahren Verlage zum Thema Neue Medien und ist Mitautorin der großen Studie „Paid Content“ des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) 2010. Vor zwei Jahren gab es in 55 Prozent der Zeitungsverlage Bezahl-Inhalte. Dazu zählten E-Paper-Ausgaben ebenso wie kostenpflichtige Archive. Mittlerweile ist diese Zahl mit Sicherheit gestiegen (aktuelle Daten dazu gibt es nicht), dennoch ist die Unsicherheit groß. Vor allem herrscht die Angst vor Reichweitenverlust. Kostenpflichtige Angebote könnten User abschrecken und damit die Zeitungsseiten im Netz auch für Werbekunden weniger interessant machen.

Das Ende der Platzhirsche

„Das zentrale Problem ist die Denke in den Verlagen“, sagt André Hellmann, Geschäftsführer der Firma Netzstrategen. Sie berät Unternehmen und Verlage auf der Suche nach digitalen Erlösmodellen. Und diese Dienste sind gefragt wie nie. Allerdings werde meistens zu zögerlich und ohne klares Ziel agiert. Häufig sei die Grundeinstellung gegenüber dem Internet skeptisch und zynisch. „Man kann das Internet als notwendiges Übel sehen, das man halt machen muss, oder als Chance“, so Hellmann. „Bei uns in Deutschland überwiegt leider der erste Teil.“ Die wichtigsten Fragen seien: Welches Angebot will ich schaffen? Wofür soll der Kunde bezahlen? Und: Welche Kunden will ich erreichen? In vielen Verlagen herrschten jedoch überkommene Vorstellungen. „Oft gibt es das Wunschdenken, dass man nur die Kelle in den Fluss der Online-Erlöse steckt und es fließt Geld aufs Konto.“ Dabei werde übersehen, dass zunächst die Grundlagen aufgebaut werden müssen. Hellmann sieht das nüchtern: „Viele Zeitungsverlage haben jahrelang ihre Marke und ihre Märkte vernachlässigt.“

Nun werde versucht, die alten Strukturen im Internet fortzuführen. Das führe zu Paywalls, die keine Umsätze bringen, oder zu iPad-Apps, die keiner kauft. Deshalb sei es entscheidend, an der Marke, dem Markt und der Kultur im Verlag zu arbeiten. „Einen neuen Markt zu erschließen muss auch einfach Spaß machen und die Leute müssen motiviert sein.“ Daher, so der Online-Spezialist, müsse der enorme Wandel durch das Internet in die tägliche Arbeit einfließen. „Solange wir keine webgerechten Inhalte produzieren und Mehrwert schaffen, so lange wird auch kaum jemand bereit sein, etwas dafür zu bezahlen.“

Dem widerspricht die Erfahrung der „Sächsischen Zeitung“. Sie hat eine der ältesten Paywalls in Deutschland. Seit 2004 wird ein Mix aus freien und kostenpflichtigen Inhalten im Netz geboten. Wer fünf Euro im Monat zahlt, hat Zugriff auf die Inhalte aller 20 Lokalredaktionen. Thomas Schultz-Homberg, Leiter Online der DD+V-Mediengruppe zieht nach sieben Jahren eine positive Bilanz: „Wir haben das Angebot im Markt durchgesetzt. Die Nutzer akzeptieren, dass sie für exklusive Inhalte bezahlen müssen.“ Derzeit habe man für das Online-Abo 2.000 zahlende Kunden. Auch mit der Reichweite (2,2 Millionen Visits) ist der Online-Chef zufrieden. Für Schultz-Homberg gibt es auch keine Alternativen: Redaktionelle Arbeit müsse bezahlt werden. „Es gibt keinen Grund, die Inhalte, für die am Kiosk und im Abo Geld verlangt wird, im Internet zu verschenken.“

Zumindest solange diese Inhalte nicht anderswo kostenlos sind. Deshalb müssen Redaktionen über die Exklusivität ihrer Arbeit neu nachdenken. Martina Lenk sagt dazu nur: „Die Platzhirschidee gilt vielleicht für Print, aber online schon lange nicht mehr.“ Überall sind die Zeitungen umstellt von Bloggern und Foren, Stadtteil- und Vereinsseiten, Facebook- und Twitter-Nachrichten. Für die Madsack-Online-Chefin heißt deshalb die Devise: „Exklusiv heißt auch investigativ.“

Robert Domes ist freier Autor und Journalist.

domes@robertdomes.com

Erschienen in Ausgabe 04+05/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 32 bis 32 Autor/en: Robert Domes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.