Hilfe, Schreibblockade!

Windig ist es, kalt und regnerisch, an diesem Vormittag am Elbstrand. Auf dem Fluss ziehen dicke Pötte, aber ich habe keinen Blick für sie. Ich bin hier, weil ich ein Notfall bin. Neben mir im Sand hockt die Chefärztin der Dramaklinik, Meike Parussel, diplomierte Musiktheater-Regisseurin, Schauspielcoach, Gestalt- und Theatertherapeutin. Ihr Spezialgebiet: Schnelle Hilfe für festgefahrene Autoren. Für Journalisten mit Blockaden, für Drehbuch- und Romanautoren, für alle, die professionell Texte verfassen und in der Schreibkrise stecken.

Diagnose. Ich hatte lange gebraucht, bis ich mich an die Dramaklinik wandte. Zwar schrieb ich seit sechs Monaten nur häppchenweise an meinem Kinderbuch über die Weltreligionen und sah, wie ein Kaninchen vor der Schlange, den Abgabetermin bedrohlich näher rücken. Aber meine Inaktivität als „Schreibblockade“ bezeichnen? Ich war faul, dachte ich, oder die Jahreszeit zu grau, die Zeit zu kurz, das Thema zu groß, mein Talent zu klein.

„Lass mich mal lesen“, bot eine Kollegin an, der ich von meiner lang andauernden Krise erzählte. Ich fand Ausreden. Mein Text war ein einziges Durcheinander, die Dialoge steif, die Figuren charakterlos. Was ich zu bieten hatte, war so schlecht, dass ich es niemanden zeigen wollte. Ich putzte also Fenster. Ließ mich als Elternvertreterin aufstellen. Schrieb Kolumnen, neue Themenangebote, bewarb mich als feste Redakteurin. Lauter wichtige Dinge. Zwischendurch versuchte ich, an meinem Buch zu arbeiten: sammelte Material, sprach mit Experten, kaufte Unmengen von Fachbüchern, recherchierte stundenlang im Internet – und schrieb keinen einzigen vernünftigen Satz. Irgendwann war die Zeit bis zur Abgabe so knapp geworden, dass ich keine Wahl mehr hatte. Ich brauchte professionelle Hilfe. Es war nicht einfach, sich das einzugestehen.

„Bringen Sie eine wirklich schlechte Textpassage mit“, forderte Meike Parussel mich vor unserem Treffen an der Elbe auf. Denn Behandlung und Diagnose finden nicht im Büro der 45-Jährigen statt, sondern ausschließlich an ungewöhnlicheren Orten. Der Klient entscheidet, ob er sich in der Natur, am Hafen, auf einer Theaterbühne, im Museum oder anderswo coachen lässt. Das ist Bestandteil von Parussels Konzept: raus aus dem üblichen Arbeitsambiente, auf zu neuen Ufern und Perspektiven.

Wir beginnen mit meinem Konzept. Ich erzähle. „Schön“, sagt Parussel. „Interessant. Und jetzt lesen Sie mir aus Ihrem Text vor“. Ich lese, hastig, damit es schnell vorübergeht. „Gut!“, meint Parussel anschließend. „Gefällt mir. Möchte ich mehr hören. Kindgerecht und lebendig geschrieben. Auch Ihr Konzept ist stimmig. Sie haben kein inhaltliches Problem.“ Doch!, denke ich und blicke auf die Notizen, die ich mitgebracht habe: Fragen, Zweifel, Brüche, Passagen, bei denen ich nicht weiterkomme. Ich versuche, dem Coach begreiflich zu machen, wo und wie die Geschichte hakt. Was für einen Mist ich da gerade schreibe.

Irgendwann stoppt Parussel mich.

Erkenntnis. „Wir machen einen Break“, sagt sie. „Erzählen Sie mir, was Sie an ihrem Buch nicht mögen“. Kein Problem für mich: „Das ganze Projekt war von vorneherein zum Scheitern verurteilt“, sage ich. Das Thema inte- ressiert ohnehin kein Kind. Und dann dieses Konzept! Die blasse Hauptfigur! Und sowieso: Wer kauft denn schon noch Kinderbücher?“ Parussel lässt das alles so stehen, dann wird es unangenehm. Ich soll sagen, was ich an mir nicht mag. So hatte ich mir das nicht gedacht. Ich wollte über Inhalte reden, über Strukturen, Ziele – nicht über mich. Egal, denke ich, jetzt sitze ich hier, bezahle dafür und die Zeit rennt. Also berichte ich aus meinem aktuellen Leben, von privaten und beruflichen Konflikten, Zweifeln, Ängsten.

Darum kommt keiner herum, der die Dramaklinik aufsucht: Der Autor muss sich öffnen. Bereit sein, sein eigentliches Problem zu erkennen und zu benennen. Jenes, das sich hinter der Schreibkrise verbirgt. Parussels Ansatz ist ungewöhnlich. Üblicherweise geht es beim Coaching darum, rein zielorientiert zu arbeiten, Strategien und Pläne zu erstellen. In der Dramaklinik wird der Klient in seine Krise hineingeführt – um sie dann aufzulösen. Das kann durchaus an die Substanz gehen.

„Niemand gesteht sich gern ein, dass er sich schwach und überfordert fühlt“, sagt die Gestalt-Therapeutin. „Schon gar nicht Journalisten und Autoren. Ich hole sie weg von ihren unschlagbaren Waffen: ihrem Kopf und den Worten. Weg von all dem Wieso, Weshalb, Warum. Ich führe sie dorthin, wo es intellektuell keine Sicherheit mehr gibt und lasse sie das, was sie verdrängen, fühlen. Denn wer immer nur darum kämpft, sein Ziel zu erreichen, verschiebt seine Probleme. Bis zur Selbstsabotage, zur Schreibblockade. Die einzige Lösung: die eigenen Probleme müssen erkannt und angenommen werden.“

Lösung. Parussels Diagnose, als ich mit meinem Bericht über mich fertig bin, steht: „Sie denken, Sie arbeiten nicht hart genug. Sie meinen, Sie sollten optimistischer sein, erfolgreicher, schneller, weniger empfindlich. Sie finden sich ungenügend. Sie lehnen sich ab. Diese Ablehnung haben Sie auf Ihr Buch projiziert. Von dort müssen wir sie nun wegholen.“ Das Selbstgeständnis ist der heikelste Teil der Sitzung. Mein Mantra, „Ich schaffe es, ich bin erfolgreich, stark, professionell“, ist hier nicht gefragt. Ich brauche meine Zeit, bis ich den peinlichen Satz herausbringe, den Parussel hören will: „Ich lehne mich ab.“ Paradoxe Intervention nennt man so etwas. Das, was existiert, auch wenn es noch so unangenehm ist, muss akzeptiert und bearbeitet werden. Nur, wer sich seine Schwäche eingesteht, kann wieder zu seiner Stärke finden.

So, wie Parussels Klient, der an seinem Berg von Aufträgen und kurzfristigen Abgabeterminen verzweifelte. Nichts ging mehr, der Journalist war kurz vorm Aufgeben. Parussels Frage an ihm: Warum haben Sie sich ein solches Durcheinander inszeniert? Tatsächlich hatte der Profi einen Grund, sich derartig zu überlasten. In seinem Fall war es ein Fluchtreflex, eine unbewusste Strategie, sich „verrückt“ zu machen. Er hatte sich im Gefühl der Überforderung eingerichtet – und so sein persönliches Problem vermieden. Oder der Dokumentarfilmautor, dessen Hauptperson so düster geriet, dass der Film während der Dreharbeiten kurz vor dem Scheitern stand. Das Drehbuch funktionierte nicht. Das gesamte Filmteam, vom Kameramann bis zum Schauspieler, war blockiert. Der Autor hatte seine aktuellen Zweifel und Ängste auf die Zentralfigur überschrieben – weil er gerade dabei war, selber eine Hoffnung zu begraben. Der Held des Filmes hatte keine Chance mehr, sich zu entwickeln, weil sein Autor in sich feststeckte. Parussel ließ den Drehbuchschreiber mit seinem Helden eins werden. Ihn voll und ganz in der Rolle aufgehen – bis ihm klar wurde, was er der Filmfigur alles aufgebürdet hatte. Anschließend konnte er sich von ihr trennen und die Figur neu schreiben.

Und ich? Nach der Sitzung am Elbstrand habe ich mich an mein Buch gesetzt und es in den folgenden Wochen zügig zu Ende geschrieben. Ich habe die Arbeit eines halben Jahres aufgeholt, den Abgabetermin eingehalten und nebenher noch eine Reportage, einige Auftragstexte und ein Buchkonzept geschafft. Ein bisschen war es wie beim Zahnarzt in der Dramaklinik: nicht ganz ohne Schmerzen – aber hinterher konnte ich wieder kraftvoll zubeißen. n

Erschienen in Ausgabe 5/2008 in der Rubrik „“ auf Seite 80 bis 82 Autor/en: TEXT Sylvia Heinlein. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.