Der Verdoppelungsunsinn

Ich habe einen alten Bekannten wiedergetroffen. Er hatte sich lange nicht mehr gemeldet. Und jetzt konnte ich ihn wieder im Radio hören: „aufoktroyieren“, also „aufaufzwingen“. Sein alter Kumpel „vorprogrammieren“ begegnet einem ja häufiger.

Aber „aufoktroyieren“ war im öffentlichen Sprechen in letzter Zeit doch etwas vernachlässigt worden. Was man kühn als Ergebnis wachsenden Sprachbewusstseins interpretieren könnte. Aber so weit sollte man dann doch nicht gehen. Denn all die anderen Jungs und Mädels vom Verein „Verdoppelungsunsinn“ sind ja weiterhin munter unterwegs.

Völlig losgelöst

„Loslösen“ ist einer meiner Favoriten in dieser Kategorie. Wann immer mir dieser Bastard begegnet, versuche ich mir vorzustellen, was wohl „festlösen“ bedeuten mag, denn ohne „fest“ schließlich kein „los“.

Die Vorsilbe dient der näheren Bestimmung des Verbs. Wenn das Verb eindeutig ist, brauche ich keine Vorsilbe. „Lösen“ heißt losmachen. Und von „loslosmachen“ muss ich nur sprechen, wenn es auch ein „festlosmachen“ gibt.

Aber was willst du machen? Seit Peter Schilling von der „Neuen Deutschen Welle“ ist der Bastard kanonisch: „Völlig losgelöst von der Erde schwebt das Raumschiff völlig schwerelos“ – ein deutscher Popstar kann nun mal nicht irren.

Geschmacksverstärker

Dabei wollen wir gar nicht von den schwierigen Fällen reden. Zum Beispiel von der Frage, warum es neben dem schönen Wort „steigen“ auch noch „aufsteigen“ geben muss. Oder gar „emporsteigen“. Steigen heißt „in die Höhe gehen“, „sich nach oben bewegen“. Wozu brauche ich also Wörter wie „ansteigen“ oder „aufsteigen“. Ganz einfach: Weil es das Wort „absteigen“ gibt. Eigentlich ein rechter Unsinn. Denn das Gegenteil von „steigen“ heißt „fallen“ oder „sinken“. Und da gibt es kein „auf“ oder „ab“.

Eigentlich. Denn tatsächlich gibt es „absinken“. Warum? Weil wir der schönen schlichten Bedeutung eines Wortes nicht vertrauen. Oder sie nicht mehr kennen. Dann werden Geschmacksverstärker eingesetzt. Vorsilben haben diese Funktion.

„Stürzen“ ist eine besonders intensive Form von fallen. Da geht’s so richtig runter. Rauf ist nicht vorgesehen. Warum redet man trotzdem von „abstürzen“? Weil man dem Wort noch einen kleinen Schubs geben will, damit auch jeder versteht, was gemeint ist. Als wäre das vorsilbenlose Wort nicht stark genug.

Und so reden wir munter von „ausbalancieren“ und „durchpassieren“, der Duden kennt sogar das absolute Unsinnswort „zurückerinnern“ – wie, zum Teufel, soll ich mich „vorwärtserinnern“? Das geht nicht einmal in Science-Fiction-Romanen.

Nur: Wenn der Blödsinn schon im Duden steht, wie soll ich Journalistenkolleg(inn)en schelten, wenn sie den Blödsinn nachplappern. Ja, gut, man könnte mal selbst nachdenken. Aber vermutlich ist das zu viel verlangt.

Uga, uga

Und überhaupt: Manchmal freut man sich ja auch, alte Bekannte wiederzutreffen. Kürzlich tauchte sogar mein absoluter Liebling wieder auf. „Neu renovieren“. Nicht in Immobilienanzeigen. Im Radio. Und wieder wartete ich vergeblich darauf, dass mir mal einer erklärt, wie man „alt renoviert“, also etwas „alt erneuert“. Das ist doch eine spannende Frage. Und keiner stellt sie. Außer mir.

Ja ja, ich kenne die Einwände einer bestimmten Richtung der Sprachwissenschaft. Wörter erleben einen Bedeutungswandel, heißt es da. Warum also nicht „neu renovieren“? Ja, vielleicht weil bei allem Wandel „renovieren“ immer noch „erneuern“ heißt und nichts anderes. Das müssen die Sprecher aber nicht wissen, sagen die Relativisten. Sondern nur das, was für die Kommunikation wichtig ist.

Schön. Dann ist aber auch nicht einzusehen, warum ich auf dem Markt sagen soll: „Zwei Pfund Strauchbohnen bitte.“ Es genügt doch, auf die Dinger zu zeigen und beim Abwiegen „Uga, uga“ zu rufen, wenn zwei Pfund erreicht sind. Mir soll’s recht sein. Nur: Journalisten sollten dann doch ein paar Schrittchen weiter sein als der Neandertaler.

Erschienen in Ausgabe 01-02/202013 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 66 bis 66. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.