Auf der Suche nach den neuen Lesern

Das Internet ist ein Massenmedium – und US-Zeitungen wollen davon profitieren. Der US-Verlegerverband Newspaper Association of America verkündete deshalb bereits im Jänner 2006 einen Strategiewechsel – seither werden den Anzeigenkunden nicht nur die (sinkenden) Leserzahlen der gedruckten Zeitung ausgewiesen, sondern auch die Gesamtreichweite zusammengerechnet mit den Besuchern der Internet-Angebote – und die eilt von Rekord zu Rekord. Im September 2006 überschritt die Zahl der Besucher auf den Top-100-Zeitungs-Websites gemäß Scarborough Research erstmals die Zahl von 58 Millionen – ein Zuwachs von fast 24 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Auflage der gedruckten Zeitungen befindet sich dagegen weiterhin im Sinkflug. Montags bis samstags verloren die Zeitungen in den ersten 9 Monaten des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 2,8 Prozent, sonntags 3,4 Prozent.

Online ist also ein Lebenselixier, das ein Großteil der Zeitungen inzwischen bewusst und gekonnt zur Leserbindung einsetzt. Innovationsfähigkeit scheint dabei nicht zwangläufig mit der Größe der jeweiligen Zeitung zu tun zu haben. In den USA gibt es viele kleinere Zeitungen, die durchaus experimentieren.

Erste Gehversuche. Video, Web-TV und lokales Fernsehen sind angesichts einer hohen und weiter steigenden Verbreitung von Breitband-Internetanschlüssen ein wichtiges Thema. Auch kleinere Häuser engagieren sich beim Thema Bewegtbilder. Das Spektrum reicht dabei von ersten Gehversuchen mit eigenen Online-Videoreportern über regionale Video-Portale, an denen sich auch die Nutzer beteiligen können, bis hin zu eigenen lokalen Web-TV-Nachrichtenkanälen. Beispiel Virginia: Die Virginian Pilot betreibt mit Hamtonroads.com und PilotOnline.com die am stärksten genutzten regionalen Websites in ihrem Verbreitungsgebiet. Am 1. Dezember 2005 wurde zusätzlich Hamptonroads.tv freigeschaltet, eine lokale Videocommunity. User können dort lokale und nationale Videos anschauen und selber Beiträge hochladen, für Anzeigenkunden werden spezielle Filme erstellt, daneben finden sich auf der Plattform Nachrichtenvideos der Redaktion. Finanziert wird das neue Portal durch Werbung.

Vodcast. „Hören wir auf, Beute zu sein. Verwandeln wir uns in Raubtiere“, forderte Bob Benz, General Manager of Interactive Media bei E. W. Scripps Company, im Herbst von seinen Kollegen bei der World Digital Media Publishing Konferenz des Weltverbandes der Zeitungen in London. Sein Unternehmen hat schon kräftig damit angefangen. Zu Scripps gehört beispielsweise Naplesnews.com, die Website der Naples News in Florida. Sie leistet sich für ihr Web-TV-Projekt in ihrem 300.000 Einwohner umfassenden Verbreitungsgebiet eine feste Moderatorin als Anchorfrau. Seit Februar 2006 wird drei Mal täglich eine 15-Minuten-Show erstellt („Studio55″), die seit April 2006 über das Internet und auch über Kabelfernsehen ausgestrahlt wird. Als Video-Podcast (=“Vodcast“) kann das Programm von den Usern auch abonniert werden. In den ersten Wochen wurden zwischen 1.000 und 2.000 Sendungen pro Tag heruntergeladen oder online angesehen.

Das für eine Investition von rund 250.000 Dollar geschaffene Studio und Downloadcenter für Streaming Video ist speziell auf Videoproduktion für kleine Bildschirme ausgerichtet. Innovationsfördernd ist sicher, dass es bei Scipps einen mit 1,5 Millionen US-Dollar ausgestatteten firmeneigenen Venture-Capital-Fond gibt, mit dem gute Ideen aus den zum Unternehmen gehörenden Zeitungen gefördert werden. Bei der Auswahl der Ideen, die vierteljährlich erfolgt und für die es ein eigenes, mit externen Experten besetztes Gremium gibt, ist ein erkennbares Businessmodell ganz wichtig. „Starten Sie einfach und billig. Seien Sie geduldig mit dem Wachstum, ungeduldig bei den Deckungsbeiträgen“, rät Benz. In fünf Jahren sollen die Geschäfte, die aus solchen neuen Ideen erwachsen, 75 bis 100 Millionen US-Dollar zum Unternehmensergebnis beitragen.

kontextabhängige Werbung. Bei Studio 55 ist Werbung in jeder Sendung ein fester Bestandteil und das Finanzierungsmodell. Der Verkauf der begrenzten Werbeplätze begann sogar, bevor die erste Sendung überhaupt ausgestrahlt worden war. Sieben Anzeigenkunden hatten bis Mai 2006 Verträge unterschrieben. Das Werbepaket besteht aus kurzen Spots vor dem eigentlichen Vodcast, kontextabhängiger Werbung im Umfeld auf der Website und Bewerbung in der Zeitung. „Nach unserer Schätzung werden wir 2006 ca. 500.000 Dollar Umsatz machen, wenn wir unser Inventar komplett verkaufen. Wenn wir 70 Prozent verkaufen, werden wir schon im ersten Jahr profitabel sein“, erläutert Rob Curley, der das Programm für Scripps entwickelt hat und zuvor schon die kleine Lawrence Journal World in Kansas zu einer der bekanntesten und preisgekröntesten Online-Zeitungen in den USA gemacht hat.

Suchmaschinenmarketing. Mittlerweile ist Curley zur Washington Post Newsweek Interactive gewechselt, die unter den größeren Zeitungen für ihre Onlineaffinität und den intelligenten Einsatz von Community-Tools schon länger bekannt ist. Journalistische Qualität ist nach Einschätzung von Marketing Director Julie Ratherford ein ganz wichtiger Faktor für den Erfolg, doch werde von vielen Zeitungen unterschätzt, dass dieser Erfolg machbar ist. Ihre Stichworte heißen deshalb Suchmaschinenmarketing und Suchmaschinenoptimierung. Bei der „Washington Post“ werden bezahlte Anzeigen in Suchmaschinen wie z.B. Google geschaltet, wenn man redaktionellen Inhalten mehr Prominenz geben oder zum Beispiel User auf exklusive Berichterstattung hinweisen will. Daneben gilt es, die Internetseiten für die Auffindbarkeit durch Suchmaschinen zu optimieren. Einen wichtigen Beitrag zur Bekanntmachung von Inhalten können auch Blogger leisten. Bei der „Washington Post“ werden Blogger explizit aufgefordert, in ihren Blogs über Inhalte der Website zu schreiben – mit etwas Glück landet ein Beitrag dann als „featured feedback“ auf der Meinungsseite.

NachHolbedarf. Die Internettechnik haben US-Zeitungen mittlerweile gut im Griff. Beim internetgerechten Einsatz der Technik gibt es dagegen vielfach noch Nachholbedarf. Eine im August 2006 veröffentlichte Studie der Bivings Group zeigt beispielsweise, dass 76 Prozent der Top-100-Zeitungen in den USA mittlerweile RSS-Feeds einsetzen, um ihre Inhalte einer breiteren Öffentlichkeit in Echtzeit zugänglich zu machen. Werbung in RSS-Feeds schaltet derzeit allerdings noch keine Zeitung. Bei 80 Prozent der untersuchten Internetangebote der Zeitungen gibt es Reporter-Blogs, aber nur bei 83 Prozent dürfen die User ihre Meinung zu den Beiträgen äußern. Vergleichsweise seltener eingesetzt werden avanciertere Internet-Tools. Nur 33 Prozent der Zeitungen zeigen ihren Lesern, was andere Nutzer auf der Website am interessantesten finden („most popular“). Podcasts gab es auf 31 Prozent der untersuchten Websites, nur 19 Prozent der Zeitungen lassen ihre Leser Artikel kommentieren. Große Zeitungen schnitten bei dieser Untersuchung im Schnitt nicht besser ab als kleine.

Print arbeitet mit Video. Nach wie vor bewegen die Themen „hyperlokale Inhalte“, „Community“ und „integrierter Newsroom“ die Medien in den USA. „Erstellen Sie eine Startseite, die Journalisten begeistert“, nennt Neil Chase, Director des Continous News Desk bei „The New York Times“, der wohl größten neu installierten integrierten Redaktion der Welt, als wichtigstes Kriterium für eine erfolgreiche multimediale Arbeit. Rund 1.200 Mitarbeiter erstellen unter seiner Verantwortung täglich die Print-und Online-Ausgaben der „New York Times“.

Video spielt auch bei der „New York Times“ eine immer größere Rolle. „Wir haben nicht die Ressourcen eines TV-Senders, aber wir haben die Menschen, die die Storys kennen“, betont Chase. Zum multimedialen Arbeiten könne man keinen Journalisten zwingen. Der viel bessere Weg sei ohnehin, zur Mitarbeit einzuladen – quer über alle Ressortgrenzen hinweg. „Bei der Fußballweltmeisterschaft wollten wir Blogs einbinden und fragten nach Ideen. Die kamen dann nicht nur aus der Sportredaktion, sondern auch von Fans
einzelner Mannschaften unter den Journalisten. Und so kamen wir zu wunderbaren Live-Reportagen beispielsweise aus einer portugiesischen Bar bei Portugal-Spielen. Bei uns soll am besten jeder tun, was er am besten kann.“

„mytimes. Die Arbeit der Journalisten wird auf nytimes.com prominent in den Vordergrund gestellt. Die Identifikation mit dem Onlineprodukt wird durch vielfältige Kleinigkeiten gefördert. Ein Beispiel:“mytimes“. Dieses bei Redaktionsschluss noch in der Betatestphase befindliche Tool ermöglicht es Usern, sich eine eigene Startseite anzulegen, die sie frei aus aktuellen Inhalten der „New York Times“ und eigenen Präferenzen zusammenstellen können. Hier können auch laufend aktualisierte RSS-Feeds aus anderen Quellen angezeigt werden. Zur Inspiration können sich die User die „mytimes“-Seiten der „New York Times“-Journalisten ansehen – und live miterleben, welche Informationsquellen diese nutzen.

Usernachrichten. Die Einführung von MyTimes kann man auch als eine Reaktion auf die zahlreichen Websites in den USA sehen, die Nachrichten aus den verschiedensten Quellen zusammentragen und neu organisieren. Diese Seiten erzielen hohe Abrufzahlen. Marktführer unter diesen Websites ist die Ende 2004 online gegangene digg.com. Mehr als 1,6 Millionen User und 400.000 registrierte Mitglieder zählte das Portal im Juni 2006 laut Nielsen/Netratings. Welche Nachrichten dort präsentiert werden, entscheiden die Nutzer selbst in einem zweistufigen Auswahlprozess. An einem durchschnittlichen Tag schlagen die Nutzer rund 4.000 Artikel, Videos oder sonstige Arten von Inhalten vor, die zunächst unter der Rubrik „upcoming stories“ gelistet werden. Dort können die Mitglieder dann abstimmen, für wie interessant sie diesen Inhalt halten. Beiträge, die innerhalb von weniger als 24 Stunden genügend „Diggs“ erhalten, werden auf der Homepage von Digg oder in dem jeweiligen Ressort aufgeführt. Dort kann der Artikel seine Position durch weitere Diggs halten oder verbessern, User können den Beitrag auch abwählen. Die Reihenfolge der aufgeführten Artikel ändert sich ständig. Seit September 2006 erzielt Digg.com mehr Seitenabrufe und erreicht mehr Internetuser als nytimes.com.

Erschienen in Ausgabe 1/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 58 bis 59 Autor/en: Katja Riefler. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.