Auf Sendung trotz Bürgerkrieg

Siham Mustafa ist keine Unbekannte im Radiogeschäft. Schon zu Zeiten Saddam Husseins war sie als Radiomoderatorin tätig. Damals für den Staatssender Radio Bagdad. Jetzt arbeitet die stämmige Irakerin für Radio Dijla – arabisch für Tigris – einem der unzähligen Privatsender, die derzeit wie Pilze aus dem irakischen Boden sprießen. Anders als für Printmedien und Fernsehkanäle sind die Verbreitungsmöglichkeiten für Radiosender einfacher und fast unbegrenzt. Noch immer gibt es kein Gesetz, das die Vergabe der Frequenzen regelt. Die Folge ist, dass sich zuweilen zwei Sender eine Frequenz teilen und wild durcheinander dudeln. Radio Dijla war einer der ersten Privaten und strahlt im Zentrum des Landes nahezu rund um die Uhr aus. Siham hat dort ihre eigene Sendung, ihr Foto prangt auf der Web-Seite des Senders. „Ich wohne ganz nahe am Studio“, antwortet die Journalistin auf die Frage nach ihrer Sicherheit im immer mehr im Chaos versinkenden Bagdad. Nahezu 150 Medienvertreter (Quelle: Reporter ohne Grenzen) sind bereits dem Terror zum Opfer gefallen. Mehr als im gesamten Vietnam-Krieg. Der Irak ist für Journalisten der derzeit tödlichste Arbeitsplatz auf diesem Globus.

Freies Wort im Bürgerkrieg. Siham Mustafa weiß um die Gefahr und vermeidet öffentliche Auftritte weitgehend. „Manchmal schlafe ich sogar im Studio“, verrät sie, „wenn ich nach Feierabend Schießereien höre“. In Bagdad herrscht Bürgerkrieg. Schwer einzuschätzende Milizen liefern sich blutige Kämpfe um die Kontrolle der einzelnen Stadtviertel. Mit ihrer täglichen Sendung „Eva im Äther“ hat sich Siham ein sensibles Genre ausgesucht. Denn sie thematisiert darin nicht nur die richtige Schminke für den jeweiligen Hauttyp ihrer Zuhörerinnen, sondern auch die Rolle der Frau in der irakischen Gesellschaft, die Rechte, die die Verfassung ihr gewährt und verwehrt: ein heißes Eisen im mehr und mehr von religiösen Eiferern dominierten Land. Sihams eingeschränkte Bewegungsfreiheit lässt sie immer häufiger auf extern gefertigte Radiobeiträge zurückgreifen, die zu ihrem Thema passen. Ihren Kollegen im Sender ergeht es ebenso. So wird die Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle und Radio Niqash immer intensiver.

Niqash – arabisch für Diskussion – ist ein auf Privatinitiative entstandenes Projekt der beiden Deutschen Klaas Glenewinkel und Anja Wollenberg, das seinen Ursprung in zwei kleinen Büroräumen der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg hat. Kurz nach der Invasion 2003 war Medienmanager Glenewinkel, der zuvor bereits verschiedene internationale Medien-und Kulturprojekte zum Beispiel in Japan betreut hatte, in den Irak gereist, um dort mit Studenten die Idee einer unabhängigen Radiostation für Jugendliche zu entwickeln. Zurück in Berlin startete er mit der 38-jährigen Psychologin und Kommunikationsforscherin Anja Wollenberg im April 2004 „Telefon FM“, finanziell unterstützt vom Auswärtigen Amt. Die beiden hatten die simple Idee, nach langen Jahren der Medienzensur, Iraker zu Wort kommen zu lassen, die von ihren Plänen, Projekten, und Hoffnungen erzählten. Die angewählte Telefonnummer im Irak transportierte die Stimme nach Berlin und von dort auf eine Radiofrequenz zurück ins Zweistromland. „Damals war noch alles offen“, erinnert sich Anja Wollenberg an die ersten Monate. Ein Jahr nach dem Sturz Saddam Husseins seien die Menschen noch voll Optimismus gewesen. Über Telefon FM wurde berichtet, wo und welche Internet-Cafés in Bagdad entstanden, wie neue Zeitungen in Nadjaf ins Leben gerufen wurden, Pop-Bands ihre ersten Auftritte reflektierten. Es gab Gesprächsstoff ohne Ende. „Die Iraker haben ihre Projekte selbstbewusst und zielgerecht durchgezogen“. Was früher nicht ging, war plötzlich möglich.

Aus dem anfänglichen „Quasselradio“ wurde im Wahljahr 2005 ein politischer Rundfunksender: „Election Monitor Iraq“, das die ersten freien Wahlen zum Übergangsparlament bereits in eigenen Beiträgen behandelte. Ein halbes Jahr später, im Juni 2005, wurde daraus Radio Niqash, das das Verfassungsreferendum im Oktober und die zweiten Parlamentswahlen im Dezember begleitete. Vier private Radiostationen von Mosul bis Basra übernahmen die halbstündigen Programme der Deutschen. Anja Wollenberg und Klaas Glenewinkel zogen von Berlin in die jordanische Hauptstadt Amman um. Ihr Studio dort liegt sinnigerweise gegenüber einem Supermarkt namens „Babel“, im Künstlerviertel Jabal Weibdeh. Im Irak bauten sie ein Netzwerk von rund 30 Reportern auf, die ihre Berichte via Internet nach Amman liefern. Dort werden die Beiträge editiert, geschnitten, sendefertig bearbeitet und den Radio-sendern im Irak zur kostenlosen Verwendung angeboten.

Mehr als eine Perspektive. Die Entscheidung des Auswärtigen Amtes, neben der Deutschen Welle noch ein zweites, privates Radioengagement im Irak zu finanzieren, begründet Klaas Glenewinkel mit dem Argument der Vielfalt. Während es bei der Deutschen Welle um den „Austausch zwischen Irakern und deutschen Experten geht“, konzentriere sich Niqash mit seinen Korrespondenten allein auf irakische Politik, sagt der 36-Jährige aus Bad Segeberg. Bewusst halten sich die Deutschen mit ihrem Engagement bei Niqash im Hintergrund, auch um die Reporter vor Ort nicht zu gefährden. Denn alles, was aus dem Westen kommt, ist Ziel von Terroranschlägen.

Inzwischen sind auch die SPD nahe Friedrich-Ebert-Stiftung, die Vereinten Nationen und die belgische Regierung als Geldgeber bei Niqash mit im Boot, das Team in Jordanien ist auf 15 Mitarbeiter angewachsen, die mit insgesamt 18 Partnerstationen im gesamten Irak zusammenarbeiten. Konferenzen der Chefredakteure finden ebenso im Studio in Amman statt wie Fort-und Weiterbildung der Redakteure und Reporter. „Wir achten darauf, dass unsere Beiträge nicht einseitig für oder gegen etwas sind, sondern ausgewogen und angemessen“, weist Glenewinkel den Weg aus den derzeit tobenden ethnischen und sektiererischen Konflikten. Die Journalisten bei Niqash lernen, mehr als eine Sichtweise darzustellen. Das sei nicht immer einfach, gibt der Radiomann zu. Denn während der letzten 25 Jahre zählte im Irak nur eine Meinung: die Saddam Husseins. Und die Aufbruchstimmung zu Beginn hat sich inzwischen völlig ins Gegenteil verkehrt: Resignation, Angst, Apathie.

Dennoch lautet das Ziel beharrlich: „Wir wollen eine Art Hörfunkagentur schaffen, eine Rufa für Irak.“ Die Beiträge, die Radio Niqash für die Radiosender produziert, sind kostenlos. Irgendwann aber will Klaas Glenewinkel kostendeckend arbeiten – auch wenn das in der jetzigen Situation im Irak noch ein langer Weg sein wird.

Linktipp

www.Niqash.org

Erschienen in Ausgabe 3/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 54 bis 55 Autor/en: Birgit Svensson. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.