Asyl für Ewiggestrige

Schriftsprache ist das Latein unserer Zeit“, sinnierte jüngst der US-Rechtsprofessor und Internet-Experte Lawrence Lessig. Nur noch eine kleine Elite forme sich ihr Weltbild mit Hilfe von Geschriebenem. Bunte Bilder hätten Texte längst als wichtigstes Informationsmittel abgelöst.

Vollbusige Avatare: Bunte Bilder sind auch der Sprit, der das momentane Über-Hype-Thema befeuert: Second Life. Vollbusige Avatare in knappen Kleidchen gehen halt immer als Artikel-Illustration und endlich kann sich auch das Fernsehen auf ein Internet-Thema stürzen, ohne auf die ewig gleichen Mausklick- und Tastaturklapper-Zwischenschnitte aus dem Archiv zurückzugreifen. Während Plattformen und Dienste der zweiten Web-Entwicklungsstufe heutzutage ein Funktionsniveau erreicht haben, das sämtlichen Metaphern aus der physischen Welt hartnäckig trotzt und somit Journalisten vor völlig neue Aufgaben stellt, geht es in Second Live endlich wieder um Dinge, von denen jeder glaubt, Ahnung zu haben: Geld und Sex. Schein und Sein. Wunderbar. Titelstory.

Social Software, RSS, Tagging, APIs: Auch so frustriert von der Vielfalt dieses modernen Netz-Krempels? Wie soll man seinen Lesern nur all die neuen Möglichkeiten erklären? Und wie die Artikel bebildern? Lassen Sie es doch einfach bleiben und machen es stattdessen wie alle anderen: Schicken Sie zunächst Ihre Kritikfähigkeit in Urlaub, legen Sie sich anschließend einen Avatar in Second Life zu und gleichzeitig die Begeisterungsfähigkeit eines kleinen Kindes, das zum ersten Mal Disneyland besucht. Erklären Sie die Second-Life-Erfinder zu „folgenreichsten Weltenerschaffer und Gemeinschaftsstifter seit Moses, Karl Marx und Thomas Jefferson“ („Der Spiegel“) oder bestaunen sie wortreich „die nächste Kolonie des Kapitalismus“ („Die Zeit“). Und nicht vergessen: Immer fleißig Screenshots anfertigen, dann freut sich auch der Bildredakteur, der bei Internet-Themen doch sonst immer so genervt die Augen verdreht.

Kein Wunder, dass auch Wirtschaft und Werbeindustrie jubilieren. Jahrelang haben sie sich dieses merkwürdige Internet-Dings angeschaut, in dem nichts so funktioniert wie in den guten alten Massenmedien. „Märkte sind Gespräche“, mussten sie sich vom Cluetrain-Manifest belehren lassen, das sie obendrein aufforderte, ihre in den letzten 100 Jahren antrainierten Marketing-Methoden über Bord zu werfen. Dann kam auch noch Chris Andersson mit seinem Buch „The Long Tail“ und erklärte das Netz kurzerhand zum Totengräber des Massengeschmacks. Sollte künftig wirklich nichts mehr so sein wie früher? Eine furchtbare Vorstellung.

Bad Salzuflen im Internet: Das Auftauchen von Second Life muss zu einem kollektiven Aufatmen in den Marketing-Abteilungen dieses Planeten geführt haben. Endlich kann man auch im Internet so weitermachen wie in der guten alten Zeit vor dem Internet. Man kann Plakate aufstellen, Filialen eröffnen, Werbespots auf riesigen Leinwänden ausstrahlen und sogar Verkaufspartys veranstalten. Toll. Ganz wie damals. Das beste: Sogar die Presse hat man endlich wieder auf seiner Seite. Die Eröffnung eines Zeitschriftenladens in Bad Salzuflen ist wahrscheinlich noch nicht mal der dortigen Lokalzeitung eine Notiz wert, stellt „Vanity Fair“ hingegen einen einsamen Zeitungskiosk in Second Life auf, verbreiten die Agenturen das brav als Nachricht – selbstverständlich inklusive Bild, das ebenso selbstverständlich nicht auf die allgegenwärtigen, vollbusigen Avatar-Statistinnen verzichtet. Das einzig Dumme an der Sache: Second Life befindet sich ebenso wenig „im Internet“ wie Bad Salzuflen. Second Life ist ein Biotop, eine abgeschlossene und obendrein weitgehend menschenleere Blase, die das Netz lediglich als Datentransportweg nutzt. Etwa 25.000 Nutzer halten sich im Schnitt gleichzeitig in Second Life auf. Zum Vergleich: Bad Salzuflen hat rund 55.000 permanente Nutzer – aber es noch nie auf den „Spiegel“-Titel geschafft.

Man könnte meinen, der Betreiber Linden Labs hätte Second Life als Beruhigungsmittel für Zukunftsscheue entwickelt: Zu guter Letzt ist das Leben im Netz auch für jene zu begreifen, die das Netz nie begriffen haben. Second Life ist somit die letzte Bastion des 20. Jahrhunderts. Ein Asyl für Ewiggestrige und Veränderungsverweigerer. Die Zukunft sieht anders aus.

Erschienen in Ausgabe 5/2007 in der Rubrik „Sixtus‘ Onlinetrends“ auf Seite 34 bis 50 Autor/en: Mario Sixtus. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.