Die Wochenmagazine und-zeitschriften haben zuerst die Zeitzeichen erkannt: „Spiegel“ und „Zeit Online“ konnten 2006 bereits ihr zehnjähriges Netzjubiläum feiern. Als dann zum Jahrtausendwechsel auch die Tageszeitungen das Netz für sich entdeckten, war die Euphorie erst groß – und die Enttäuschung wenig später umso größer. All diese Entwicklungen spiegeln sich in den Onlineauftritten der deutschen Tageszeitungen und in ihrer technischen Ausstattung.
Handlungsbedarf. Auf welchem Stand befinden wir uns, rein technisch betrachtet, heute? „Die Geschichte von Internet und Tageszeitungen ist eine vom Verschlafen von Trends – nüchtern betrachtet. Ich denke, dass viele Zeitungen in den 90er-Jahren stehengeblieben sind, was ihren Onlineauftritt angeht. Einfach nur einen Onlineredakteur einzustellen, reicht eben nicht“, sagt Klaus Meier, der Onlinejournalismus an der Hochschule Darmstadt lehrt. Doch er ist für den Moment sehr zuversichtlich: „Ich geh‘ davon aus, dass in den nächsten ein, zwei Jahren viel passieren wird.“
Für einen großen Teil der Onlineangebote scheint das auch dringend notwendig, wie unsere aktuelle Studie von 105 deutschen Zeitungs-Websites zeigt. Zwar gibt es einige Perlen, doch die Auftritte sind zu einem großen Teil altbacken, was sich gerade in der Nutzung der technischen Möglichkeiten spiegelt. Ein eindeutiges Gefälle tut sich auf: So haben aus der Vergleichsgruppe „Focus“, „Spiegel“, „Stern“, „Zeit“ und „Netzeitung“ 40 Prozent journalistische Blogs in ihr Angebot integriert. Unter den überregionalen Tageszeitungen „Bild“, „FAZ“, „FR“, „taz“, „Welt“, „Süddeutsche“, „FTD“ und „Handelsblatt“ sind es sogar 75 Prozent. Doch bei den Tageszeitungs-Websites insgesamt können nur 21 Prozent mit diesem Feature aufwarten.
Beispiel HNA. Für Jens Nähler hingegen sind viele Webanwendungen heute eine Selbstverständlichkeit. Zwischen 150 und 170 RSS-Feeds habe er in seinem Reader, berichtet der Onlineredakteur der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“ (Ippen-Gruppe). Die „HNA“ experimentiert viel mit neuen Features: Bereits seit zwei Jahren dürfen Leser der Zeitung für Nordhessen und Südniedersachsen online Artikel kommentieren, für Regionalzeitungen immer noch ein ungewöhnlicher Schritt. Redakteure sind angehalten, sich die Kommentare anzuschauen und gegebenenfalls zu reagieren. „Für die Kollegen von Print bedeutet dies natürlich zusätzlichen Aufwand“, sagt Nähler. Er rate hin und wieder auch davon ab, auf Kommentare zu antworten: Rein polemische oder sprachliche Fehlgriffe müsse man einfach ignorieren. Die alte Netzweisheit „Do not feed the trolls“ (etwa: „Provokateure bitte nicht füttern“), sie gilt auch hier.
Derzeit stellt sich die „HNA“-Webseite als Sammlung verschiedener moderner Elemente dar. Auf eines ist Nähler besonders stolz: die Mundart-Podcasts. Regionale Besonderheiten modern zu präsentieren, ist enorm wichtig, sagt er. Auch für Onlinevideos sieht er noch viel Spielraum. Derzeit wolle man mit vom niederländischen Anbieter ZoomIn-TV zugekauften Videos die Leser an die Nutzung gewöhnen. Doch schon Anfang 2007 werden auch eigenproduzierte Bewegtbilder aus der Region hinzukommen, für künftige Volontäre gehört dies mit zur Ausbildung.
Social-Bookmarking-Dienste wie Yigg, Digg und Del.icio.us findet Nähler für die eigene Nutzung eine tolle Sache. Doch in der Prioritätenliste für HNA.de stehen diese Anwendungen nicht an erster Stelle. „Es gibt für die Möglichkeiten der Regionalzeitungs-Onlineauftritte natürliche Grenzen“, sagt Nähler. Und weiß auch schon, wie sich diese überwinden ließen: „Bei der gesamten Ippen-Nord-Gruppe ist derzeit eine gemeinsame Community-Lösung in Planung – wir denken an so eine Art MySpace für die Regionen.“ Dort sollen sich auch die Vertreter traditioneller regionaler Strukturen wiederfinden: Auch der traditionsreiche Karnickelzüchterverein solle seine Bilder, Audios und Videos mit der Welt teilen können. Auf Dauer soll eine solche integrierte Lösung die vielen Einzelangebote ablösen.
Kernfragen. Der Darmstädter Journalistikprofessor Meier warnt Verlage, derartige Lösungen als alleiniges Allheilmittel zu preisen: „Man sollte nicht allein auf User-Generated Content setzen. Der Kern von journalistischen Angeboten ist der redaktionelle Content. Wenn da Nutzerbeiträge hinzukommen, dann kann das sehr spannend werden.“ Was nicht zur jeweiligen Marke passe, wird kontraproduktiv.
Immerhin jede zweite untersuchte Zeitungs-Website schmückt sich mit einem Forum. Doch längst nicht alle dieser Diskussionsplattformen laden neue Besucher zum Mitreden ein. Mancherorts haben sich schon Spinnweben auf der Site gebildet, Jahre alte Einträge prangen da noch immer ohne jegliche Aktualisierung. Solche Websites finden allenfalls Liebhaber, die eine antiquierte Benutzeroberfläche schätzen und die Beteiligung der Redakteure nicht vermissen. Denn die Artikel der Redaktion dürfen nur die Leser jeder zehnten Zeitungs-Website direkt kommentieren. Neben staubbedeckten Foren findet sich auch sonst noch manche Skurrilität in den Zeitungsauftritten. Die „Siegener Zeitung“ etwa bietet ihren Lesern ein Online-Abo an wie folgt: Die Nutzer sollen einen Abonnementsvertrag und eine Widerrufsbelehrung erst als PDF-Dokument ausdrucken, ausfüllen und dann an den Verlag faxen oder per Briefpost schicken. Willkommen im 20. Jahrhundert.
„In Deutschland denkt man bei Registrierung vor allem daran, Artikel zu verkaufen. In den USA ist bei der Registrierung auch ausschlaggebend, dass man auch weitere Nutzerangaben hinterlegt“, weist Klaus Meier auf internationale Unterschiede hin. Letzteres ermögliche die gezieltere Ansprache des Kunden mit Werbung, aber die Vermarkter in Deutschland seien wohl noch nicht so weit wie in anderen Ländern.
Nach der Vergleichsstudie für die USA liegt die Zahl der Zeitungs-Websites, die eine Registrierung verlangen, dort tatsächlich deutlich höher (23 Prozent) als in Deutschland (8 Prozent). In den USA lassen vor allem die Zeitungen mit besonders hoher Auflage ihre Nutzer Anmeldeformulare ausfüllen. Dafür bieten 80 Prozent der US-amerikanischen Zeitungsauftritte den Lesern auch Journalisten-Blogs, die in den überwiegenden Fällen auch Kommentare zulassen. RSS-Feeds sind bei drei Viertel der US-Angebote vorhanden. In der Bundesrepublik nutzen dagegen bislang nur 43 Prozent der Zeitungen RSS, um Nutzer auf die neuesten Inhalte hinzuweisen.
„Gigantisches Geschäftsmodell“. Der Anteil der Anbieter, die im Netz auch bewegte Bilder präsentieren, liegt mit 37 Prozent nicht eben niedrig. Doch ein genauer Blick auf die Inhalte ernüchtert. Eigene Video-Inhalte sind noch immer sehr selten. Viele der Zeitungen nutzen wie die „HNA“ stattdessen das Angebot des niederländischen Dienstleisters ZoomIn (siehe auch „medium magazin“ 12/07). Ein „gigantisch geniales Geschäftsmodell, das die Niederländer da umgesetzt haben“, nennt es der Wissenschaftler Meier.
Roman Mischel (Onlinejournalismus.de) sieht allerdings auch einen Nachteil dieser „Videos von der Stange“: Überall seien dieselben Aufnahmen zu sehen, für einen Leser in Hamburg oder Gera sei der gefilmte Autobahn-Stau bei Bottrop weitgehend uninteressant. Unter den Eigenproduktionen sieht Mischel bemerkenswerte Produktionen auch bei kleineren Zeitungen wie den „Ostfriesischen Nachrichten“, während sich andere Blätter mit verwackelten und schlecht geschnittenen Filmchen blamieren. Bei den überregionalen Anbietern ist Reuters ein beliebter Video-Lieferant, aber auch dort wird zunehmend selbst mit Eigenproduktionen – etwa Interview-Serien, Kolumnen, Techniktests – experimentiert.
Die künftigen Veränderungen hängen nicht zuletzt von der Finanzierbarkeit ab. Dort sieht auch Klaus Meier das Problem: „Die Vermarkter in den Verlagen hatten mit dem Internet lange Zeit nichts zu tun. Der klassische Anzeigenvertrieb hat nicht zwangsläufig Interesse, Onlineanzeigen zu verkaufen.“ Hier setzt seiner Meinung nach nur langsam ein Umdenken ein. Doch der Werbemarkt Internet zieht in den letzten Jahren merklich an
, da immer mehr Unternehmen die Zielgruppengenauigkeit zu schätzen lernen. Wie die Verlage diese Situation für sich nutzen, schätzt Meier kritisch ein: „Der große Aufschwung auch an Anzeigen im Internet geht an Zeitungsverlagen stark vorbei. Das liegt aber nicht an der Redaktion, sondern am Verlagsmanagement.“ Aber auch für Journalisten könne das ein Umdenken bedeuten: Wenn den Vermarktern die Inspiration fehle, müssten auch die Redaktionsmitglieder ihre Zukunft im Blick haben. Was keineswegs eine Aufhebung der Trennung von Verlagsgeschäft und redaktionellen Inhalten bedeute: „Er wird dann aber nicht zum Kunden gehen und Anzeigen verkaufen“, so Meier. Für Onlinejournalisten ist die derzeitige Situation sehr spannend: Sie können ihren künftigen Arbeitsplatz mitgestalten, wenn sie entsprechend konzeptionelle Ideen auch für das Gesamtprodukt entwickeln. Denn dass ihre Zukunft online liegt, daran lassen die Verlage kaum Zweifel.
Alexander Svensson, Igor Schwarzmann, Steffen Büffel und Falk Lüke
Mitarbeit Amelie Duckwitz
Alexander Svensson arbeitet für den NDR und betreibt das Weblog Wortfeld ( www.wortfeld.de)
Igor Schwarzmann studiert in Frankfurt/Main Politikwissenschaft und ist als Autor u. a. am Weblog „medienrauschen“ beteiligt ( www.medienrauschen.de)
Steffen Büffel ist freier Autor und Medienwissenschaftler an der Uni Trier und hat u. a. die Blog-Community des „Trierischen Volksfreunds“ (Holtzbrinck) wissenschaftlich begleitet. ( www.media-ocean.de)
Falk Lüke ist freier Journalist in Berlin und betreibt das Weblog http://blog.zeit.de/blogruf/
Erschienen in Ausgabe 1/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 57. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.