„Wir machen weiter“

Die Welt blickt auf die „Nowaja Gaseta“. Seit dem Mord an Anna Politkowskaja geben sich Kamerateams und Journalisten aller Herren Länder die Klinke der Moskauer Zeitung in die Hand. „Herzlich willkommen, vor Ihnen waren schon 530 ausländische Kollegen hier“, sagt Andrej Lipski, stellvertretender Chefredakteur des Blatts, lachend zur diesmal deutschen Delegation: Fünf Journalisten waren im Rahmen einer Pressereise, die das Pressenetzwerk für Jugendthemen veranstaltet hatte, Ende Oktober 2006 zu Besuch in Moskau. Lipski erinnert sich gut an die 16 Japaner, die kurz zuvor da waren. Tag für Tag die gleichen Fragen. Das nervt mitunter, aber er und seine Kollegen wissen um die Schutzfunktion des medialen Interesses aus dem Ausland. Das Verbrechen selbst war ein Schock für die 50 Redakteure und die vielen freien Mitarbeiter. Und dennoch: „Niemand von uns hat Angst“, versichert Witali Jaroschewski, wie Lipski stellvertretender Chefredakteur. „Wir machen weiter. Im Rahmen der Verfassung und Gesetze.“ Zwar hat „Nowaja Gaseta“ ein Kopfgeld von 25 Millionen Rubel (etwa 735.000 Euro) für die Ergreifung des Täters ausgesetzt, darüber hinaus hält sich die Redaktion aber an die journalistischen Grundregeln: „Wir spekulieren nicht über Mordtheorien und publizieren sie auch nicht“, betont Lipski.

Unter Druck. Seit Putins Amtsantritt im März 2000 sind nach Angaben der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) 21 Journalisten in Russland getötet worden. Keines dieser Verbrechen ist bisher aufgeklärt worden. In einer neuen Pressefreiheits-Rangliste von ROG ist Russland weiter abgefallen – auf Platz 147 von 166 untersuchten Staaten. Zwar vor Weißrussland, aber hinter Simbabwe, Afghanistan und Somalia. Zum Vergleich: Die ehemalige Sowjetrepublik Estland liegt auf Platz 6, Deutschland auf Rang 23.

Außer dem Radiosender „Echo Moskwy“ und der „Nowaja Gaseta“ übt kaum noch ein Medium Kritik an den Zuständen im Land – Selbstzensur soll etwaigen staatlichen Repressalien vorbeugen. Viele große Zeitungen hätten sich, so Lipski, in den unverfänglichen Yellow-Press-Journalismus geflüchtet. Kremlnahe Unternehmen seien dabei, alle unabhängigen Medien Schritt für Schritt zu übernehmen. Nicht wenige der heutigen „Nowaja Gaseta“-Redakteure waren zuvor bekannte Schreiber bei großen überregionalen Tageszeitungen. Dann kam Putin an die Macht. Unbequeme Journalisten flogen oder kündigten nach zahlreichen Schikanen von sich aus.

Das regierungskritische Blatt traktiert Politiker und Oligarchen mit Kommentaren, kritischen Analysen und Hintergrundberichten. „,Nowaja Gaseta‘ stützt sich dabei auf ein dichtes Korrespondenten-Netz innerhalb Russland und den ehemaligen Unionsrepubliken sowie auf anonyme Informanten in einflussreichen Positionen“, betont Lipski. Die langen, nicht selten schwierigen Texte machen „Nowaja Gaseta“ nicht gerade massenkompatibel. Die Auflage von 500.000 Exemplaren (inklusive der einzelnen Regionalausgaben) ist verglichen mit anderen russischen Zeitungen eher gering, dennnoch kommen auf eine Ausgabe kommen rund zwei Millionen Leser. „Jeder Artikel, jede Zeile, jedes Wort ist wasserdicht“, sagt Lipski. Schließlich scheint es, als wolle die Regierung die Zeitung mit Hilfe der Justiz zerstören. „Nowaja Gaseta“ wird mit Schadensersatz-Klagen überhäuft. In einigen Verfahren ging es bislang um mehrere Millionen Dollar – ein verlorener Prozess kann also schnell das Aus für das gesamte Blatt bedeuten. 130 Prozesse hat es nach Auskunft der Redaktion allein 2005 gegeben – und alle seien gewonnen worden. Probleme gibt es hingegen bei der Zustellung des Blattes. „Unsere Agenturen geraten unter Druck“, erklärt der stellvertretende Chefredakteur. „Natürlich nicht offiziell.“ So würden die Politiker vor Ort keine direkten Befehle geben, um Verkauf und Verteilung zu untersagen, aber „Empfehlungen“.

Jenseits der Hauptstadt. Ihren regierungsunabhängigen Kurs konnte die Redaktion auch deshalb so beharrlich verfolgen, weil „Nowaja Gaseta“ bis Mitte des Jahres ganz alleine der Redaktion gehörte. Dann mussten jedoch Anteile der Zeitung verkauft werden: Altpräsident Michail Gorbatschow erwarb über seine Stiftung zehn, Alexej Lebedew, Banker und Milliardär, 39 Prozent. Das könnte zu Problemen führen. Zwar hält das Redaktionskollektiv nach wie vor 51 Prozent, doch Lebedew ist Duma-Mitglied und gehört der Kreml-Partei „Einiges Russland“ an. Und selbst Gorbatschow, der Putins Politik zunächst kritisiert hatte, stellt sich nunmehr immer öfter hinter den Präsidenten: Er sei ein Garant für Stabilität. Auch in Tschetschenien.

Lipski sieht in der Zunahme des Kreml-Einflusses bislang „keine Gefahr für die liberale Ausrichtung“ von „Nowaja Gaseta“. Der stellvertretende Chefredakteur verweist auf eine Vertragsklausel, nach der die Neueigentümer keinen Einfluss auf die Redaktion nehmen könnten. Das lässt Lipski und Jaroschewski zuversichtlich und selbstbewusst in die Zukunft blicken. Immerhin bieten ihnen der Standort Moskau und das internationale Interesse einen gewissen Schutz. „In der Provinz haben es Journalisten viel schwerer“, berichtete „Nowaja Gaseta“-Mitarbeiterin Olga Kitowa, die auf Einladung des Vereins Berliner Journalisten vor Kurzem in Berlin war. Sie hatte zuvor für die örtliche Regionalzeitung in Belgorod, einer südrussischen Kleinstadt nahe der ukrainischen Grenze, gearbeitet: „Dort herrscht pure Willkür“. In der „Belgorodskaja Prawda“ hatte sie beispielsweise über den dortigen korrupten Gouverneur berichtet, der bisher drei Milliarden Rubel, umgerechnet etwa 85 Millionen Euro, veruntreut habe. Wegen ihrer kritischen Berichte wurde Kitowa immer wieder bedroht, verhaftet und sogar misshandelt. 2004 floh sie aus der russischen Provinz, war zeitweilig Gast der „Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte“. Die Situation der Presse in Russland beschreibt Kitowa wie die zu Zeiten der ehemaligen Sowjetunion. Man müsse wieder lernen, zwischen den Zeilen zu lesen. Den Mord an Anna Politkowskaja wertet sie als Beginn eines neuen finsteren Kapitels. Über Schröders Bemerkung, Putin sei ein lupenreiner Demokrat, kann sie sich deshalb nur wundern. „Ich habe eine gute Nase. Und es riecht nicht nach Demokratie in Russland.“

Linktipp:

www.novayagaseta.ru (nur in Russisch)

Erschienen in Ausgabe 1/2007 in der Rubrik „Chronik“ auf Seite 16 bis 17 Autor/en: Fritz Hermann Köser. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.