Kennen Sie das Gefühl? Sie sind im Ausland und plötzlich genieren sie sich für wildfremde Deutsche, die zu viel trinken, sich vordrängeln oder rechthaberisch herumlärmen. Sie sind peinlich berührt, nehmen die Auftritte dieser missratenen Exemplare aus dem Heimatland fast persönlich, als ob es sich um eigene Familienangehörige handeln würde. Dieses seltsame Gefühl hat mit unseren kollektiven Identitäten zu tun. Ich bin Europäerin, aber auch Deutsche. Deutschland ist mir so vertraut wie kein anderes Land in Europa. Darum will ich, dass Deutschland auf dem europäischen Parcours der nationalen Eigenheiten und Eitelkeiten eine anständige Figur abgibt.
Zurzeit wird mein kollektives Identitätsgefühl stark beansprucht. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist EU-Präsidentin und steuert seit Anfang des Jahres die EU-Gipfel. Sie gibt der EU für ein halbes Jahr ein Gesicht, ein deutsches Gesicht. Sie legt die politischen Ziele fest, sorgt aber auch für gute oder schlechte Stimmung unter den Journalisten. Das eine hat nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun.
Frankreichs Präsident Jacques Chirac zum Beispiel war als Ratspräsident unter den Journalisten durchaus beliebt, weil er auf den EU-Gipfeln die leckersten Mahlzeiten zubereiten ließ. In die Geschichtsbücher zieht er allerdings nicht mit edlem Kalbsfilet ein, sondern mit dem verkorksten Gipfel von Nizza und dem unter Qualen geborenen gleichnamigen EU-Vertrag. Tony Blair, den EU-Ratspräsidenten aus Großbritannien, haben wir gefeiert, weil er zum Einstand eine brillante pro-europäische Rede hielt. Danach hat er auf diversen EU-Treffen in Brüssel die Gemeinschaft fast vor die Wand gefahren. Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ist an der Spitze der EU nicht besonders aufgefallen, bleibt aber dennoch in charmanter Erinnerung. Österreich hat sich ein pfiffiges Logo einfallen lassen, eine buntstreifige Farbenskala als Symbol für Europas Vielfalt. Auch Kaffeetassen und Armreifen befördern die Popularität.
Deutschland, das größte EU-Land, wird respektiert, aber nicht unbedingt gemocht. Europa führen, heißt in diesem Fall: Fingerspitzengefühl. Intern hat die Bundeskanzlerin auch schon Punkte sammeln können – vor allem im Brüsseler Pressekorps. Die deutschen Journalisten in Brüssel erleben den Unterschied zum SPD-Vorgänger Gerhard Schröder fast wie eine Befreiung. Schröder hat sich inszeniert. War er gut gelaunt, hatten seine Auftritte wenigstens Show-Qualität. War er schlecht gelaunt, fühlte man sich im falschen Film. Details schienen Schröder nie zu interessieren. Dabei sind sie im Brüsseler Gefeilsche der Nationen so wichtig. Angela Merkel ist ganz anders. Die CDU-Kanzlerin spielt sich nicht in den Vordergrund, ist aber mit allen Dossiers von Energieeffizienz bis Verfassungsvertrag vertraut. Ihre erkennbare Lust an der Lösung von Problemen, ihr Ehrgeiz, auch an kleinen Schrauben zu drehen, überträgt sich und fördert das Interesse für die realen Probleme hinter dem Schaulaufen der politischen Führer.
Seltsame Sprachpolitik. Seit einiger Zeit aber trüben seltsame Vorfälle die gute Vorstellung der neuen EU-Präsidentin. Deutschland präsentiert sich auf einmal selbstgefällig und unsensibel. Und das ausgerechnet im Umgang mit den Sprachen. Sprachenpolitik hat für die Bundesregierung eigentlich höchste Priorität. Wie häufig hat man aus Berlin flammende Appelle losgelassen, um das Deutsche in Brüssel gegenüber dem Englischen und dem Französischen zu verteidigen. Doch dahinter steckt offenbar nur Eigennutz. Im Januar jedenfalls wurde die erste Rede der Kanzlerin im EU-Parlament schriftlich nur auf Deutsch verteilt. Fassungen in Englisch und Französisch tauchten erst 24 Stunden später auf. Wer nicht des Deutschen kundig war, wie die überwiegende Mehrheit der über 1000 Korrespondenten in Brüssel und Straßburg, blieb auf die flüchtige Simultandolmetschung angewiesen. Der Verein der Auslandspresse protestierte beim deutschen EU-Botschafter in Brüssel gegen diese Behinderung der Pressearbeit. Der Botschafter entschuldigte sich und versprach: „Alle Abläufe werden überprüft“. So gründlich war diese Prüfung, dass im Februar auch Merkels zweite Rede in Straßburg zunächst nur auf Deutsch auf dem Tresen lag. Die egoistische Sprachenpolitik der Deutschen hat sich unter den Korrespondenten inzwischen in einen Running Gag verwandelt. Als in Straßburg ein Auftritt des neuen deutschen Parlamentspräsidenten Hans Gert Pöttering auf Englisch angekündigt wurde, gab es im Pressezentrum spontan Beifall. Man hörte spöttische Rufe: „Auf Deutsch bitte!“ – „German now!“.
Der Insidertipp: Die Arbeit der Korrespondenten in Brüssel kreist um ein tägliches Ritual: Das Mittagsbriefing der Kommission. Jeden Mittag um 12 Uhr stellten sich sämtliche Sprecher der 27 Kommissare den mehr oder weniger investigativen Fragen der Journalisten. Auch Sie können dabei sein – wenigstens am Telefon. Wählen Sie 0032 / 2 296 1100 und Sie erfahren das Neueste aus der EU-Zentrale. Wer mehrere Sprachen nicht aushält, kann das Briefing durchgehend auf Englisch (-296 1500) oder Französisch (-296 1700) erleben. cb
Erschienen in Ausgabe 3/2007 in der Rubrik „Brief aus Brüssel“ auf Seite 40 bis 41 Autor/en: Cornelia Bolesch. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.