Unsinnige Prahlzahlen

Wer über die „Online Marketing Düsseldorf“ schlendert, die jährlich stattfindende Leistungsschau der Internetreklame, ist allerorten von Nullen umgeben. Auf Handzetteln, Transparenten oder Standwänden: Ohne wenigstens sechs Nullen am Stück geht gar nichts; besser sind acht oder neun. Davor steht stets eine x-beliebige Zahl und dahinter das magische Buchstabenpärchen: PI. Letzteres hat nichts mit der Berechnung von Kreisinhalten zu tun, sondern steht für „Page Impressions“, also Seitenaufrufe im Web. „Peh-Ihs“, wie der deutsche Online-Werber sagt, sind die Prahlzahlen der Web-Publizisten. PIs haben in etwa die Funktion von PS in den Sätzen heranwachsender Jungs, die mit den Autos ihrer Väter angeben: meiner hat mehr!

Leser, Quote, Reichweite: In der Werbung geht es seit jeher um Masse. Mit der PI-Währung hat der Quantitätswahn jedoch eine neue Qualität erreicht: Nicht die absolute Zahl der Leser eines Web-Angebotes ist das Killerkriterium, sondern vielmehr die Anzahl an Seiten, die jeder Besucher aufruft. Mausklicks sind offenbar wertvoller als Augenpaare. Im Web-Alltag bedeutet das: News-Portale und Online-Magazine achten bei der Formatierung ihrer Inhalte nicht etwa auf Nutzerfreundlichkeit, sondern auf höchstmögliche Klickintensität. Da werden Artikel gerne auf fünf Folgeseiten verteilt, bei Bildergalerien hilft dem Nutzer nicht etwa eine Übersicht, sondern er muss sich mit Hilfe eines schnöden „Weiter“-Links mühsam von Foto zu Foto hangeln. Klick, klick, klick: Der IVW-Zähler glüht, der Leser ist genervt.

Würden die gleichen Regeln in der Offline-Welt gelten, müsste der „Spiegel“ im Format eines Bierdeckels erscheinen und dafür die Dicke des Kopenhagener Telefonbuchs besitzen: Hauptsache, es wird viel umgeblättert. Dass nach allen Gesetzen der Logik der Werbewert einer hastig durchgeklickten Webseite eigentlich gegen null tendieren müsste, scheint der Branche egal zu sein. Und solange Werbekunden sich ebenfalls von PI-Zahlen blenden lassen, dürfte uns dieser Schwachsinn erhalten bleiben.

Doch Rettung naht: Die unaufhaltsame Web-Evolution schickt sich nämlich gerade an, die Metapher „Seite“ ins Museum zu schicken und mit ihr auch die fleißigen Aufrufzähler. Technologien wie Ajax und Flash, an denen in der nächsten Zeit kein journalistisches Web-Angebot vorbeikommt, weigern sich schlicht, für jede Mausaktion eine neue Seite anzufordern. Hier kann sich ein Nutzer stundenlang aktiv herumtummeln, ohne dass es bei der IVW ein einziges Mal „klick“ macht. Hinzu kommt: Mündige Netzbürger mixen sich ihren Nachrichten-Cocktail zunehmend selbst. Online-und Offline-Feedreader unterminieren rücksichtslos das Seitenkonzept, Dienste, die RSS-Feeds zwischenspeichern, sabotieren sogar jegliche Form der Nutzerzählung. Ausgezählt.

Inhalteanbieter und Vermarkter werden umdenken müssen – und vielleicht ergreifen sie bei dieser Gelegenheit sogar die Chance, sich von dem überkommenen Massenmarketing-Konzept zu verabschieden. Erst jüngst fand das US-Marktforschungsunternehmen Media-Screen heraus, Werbung auf kleineren Websites ist effektiver, als bei den Leser-Multis. Das Netz entfaltet seine Stärken eben in Special-Interest-Bereichen, in Nischen-Märkten und nicht als Simulation eines weiteren Massenmediums. Angebote für Motorrad-Reisen sind in einem kleinen Zweirad-Forum besser aufgehoben als auf einem großen News-Portal. Lieber 500 interessierte Leser als fünf Millionen zufällige Kontakte. Diese Erkenntnis ist an und für sich nicht neu. Ohne dieses Prinzip würden die meisten Fachzeitschriften nicht existieren. Ausgerechnet im Medium der Millionen Nischen, im Web, wird sie bislang jedoch weitgehend ignoriert.

Tausender-Kontakt-Preise und PI-Prahlereien degradieren Web-User zum dumpfen Klick-und Glotz-Vieh. Daraus spricht Werber-Arroganz des letzten Jahrhunderts. Zeit, damit aufzuräumen. Weg mit den Nullen!

Erschienen in Ausgabe 3/2007 in der Rubrik „Sixtus‘ Onlinetrends“ auf Seite 35 bis 35 Autor/en: Mario Sixtus. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.