Schicksalstest

Zwischen „Web first“ und „24/7“ lagen in London weniger als zehn Monate. Vor wenigen Tagen verkündete „Guardian“-Chef Alain Rusbridger seiner Redaktion einen neuen Schlagtakt: „24/7 bedeutet, das wir rund um die Uhr Material veröffentlichen werden und nicht wie bisher 16 Stunden fünf Tage die Woche. Es bedeutet, dass wir die Veröffentlichung unserer Nachrichten mehr nach den Erfordernissen des Webs als dem Rhythmus einer Zeitung richten.“

Seit dem Sommer 2006 bereits gilt beim „Guardian“ (wie auch bei der „Times“, bei „Financial Times“ und den großen amerikanischen Blättern) die Devise „Online first“. Alle Artikel werden zuerst im Internet veröffentlicht. Das Risiko einer schleichenden Auflagenerosion beim Printprodukt nimmt der „Guardian“-Chef dabei bewusst in Kauf: Denn während die gedruckte Zeitung von etwa 1,2 Millionen Menschen gelesen wird, klicken sich bereits fast 13 Millionen regelmäßig in die Online-Ausgabe. Dank der offensiven Web-Strategie und des kostenlosen Zugangs zu sämtlichen Artikeln ist die Internetausgabe mittlerweile mit rund 7 Millionen Lesern täglich allein in den USA die am meisten gelesene britische Zeitung. Der Verlust an verkaufter Auflage (im Februar knapp 4,8 Prozent; die „Times“ verlor 4 Prozent) bestätigt Rusbridger eher in der offensiven Online-Strategie der Guardian-Gruppe, die sich längst als „Digital Company“ versteht.

Kann diese Strategie auch hierzulande funktionieren, wo der Expansion deutscher Medien im anglophilen World Wide Web schon durch die Sprache eine natürliche Hürde gesetzt ist? Christoph Keese und sein Team von der „Welt“-Gruppe“ wagen das Experiment, und das ist ihnen hoch anzurechnen – bei aller kritischer Betrachtung der aktuellen Situation.

Sicher stimmt es, dass die „Welt“-Gruppe offensive Risikobereitschaft nötiger hat als ihre Konkurrenten „FAZ“ und „Süddeutsche“. Welt.de liegt trotz aller Online-Offensive noch ziemlich weit hinter faz.net und Süddeutsche.de, vom Ranking der Printauflage mal abgesehen. Marktführer und Monopolisten, wie es viele Regionalzeitungen heute sind, tun sich zwangsläufig schwerer mit so weitgehenden Experimenten wie der Strategie „Online first“, sie haben erheblich mehr zu verlieren.

Sicher stimmt es, dass das Modell der „Welt“-Gruppe mit ihrem Konstrukt einer einzigen Redaktion, die sechs unterschiedliche Titel produziert, nicht einfach auf andere zu übertragen ist. Das sagt Christoph Keese mit vorsichtiger Zurückhaltung selbst: „Jede Redaktion muss ihren eigenen Weg finden“ (siehe Seite 18 ff).

Und ganz sicher stimmt es, dass das Experimentieren mit der neuen Produktionsstrategie noch nicht rund läuft. Wie das einst stolze Vorzeigeblatt „Welt am Sonntag“ nun mit Welt & Co verschmolzen wird, ist für viele Betroffene nur schwer hinnehmbar. Mal abgesehen von nicht ganz unwesentlichen Kleinigkeiten wie der persönlichen Arbeitsplatzgestaltung: Den völligen Verzicht auf individuelle Merkmale im Großraumbüro (bis auf das eigene Namensschild auf den Einheits-Rollcontainern) kommentieren sogar Kollegen im eigenen Verlag mit spöttischer Ironie. Die Rigorosität der neuen Newsroom-„Welt“-Kultur polarisiert – intern und extern.

Sicher stimmt ebenfalls, dass das gedruckte Wort auch in Zukunft noch Bestand haben wird. Fragt sich nur wie. Die „Zeit“ zitierte kürzlich das amerikanische „Online Journalism Review“ mit der scheinbar beruhigenden Prognose: „Alles deutet darauf hin, dass Zeitungsverlage ein blühendes und profitables Geschäft bleiben und das Nachrichten noch sehr lange Zeit auf Papier verbreitet werden. Die Verlage haben noch eine Atempause, um mit neuer Technologie, mit neuen Märkten, neuen Geschäftsmodellen und neuen Medien zu experimentieren.“ Diese Prognose stammt allerdings vom Mai 2002-vor dem Siegeszug von YouTube, Digg.com, Handyfotos, Second Life & Co (s.a. Seite 38 ff.). Fünf Jahre im digitalen Zeitalter sind eine halbe Ewigkeit. Da bleibt nur noch wenig Zeit für eine Atempause. Dass die „Welt“ nun mit „Online first“ vorauseilt, sehen viele Kollegen auch in den Regionalzeitungen deshalb durchaus positiv. Schon allein, weil man aus den Fehlern des anderen lernen kann (s.a. Umfrage in „medium magazin“-Chefrunde, Seite 22 ff.) Über kurz oder lang wird Online für alle Zeitungen bzw. Medienhäuser zum existenziellen Bestandteil, daran besteht kein Zweifel mehr.

 

PS: „medium magazin“ freut sich über Nachwuchs: am 20. März wurde Luzie geboren und ist ein echter Sonnenschein – natürlich vor allem für die Mutter, unser Redaktionsmitglied Katy Walther. Herzlich willkommen, liebe Luzie! Glückwunsch den Eltern!

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 4/2007 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.