Vorrang Internet auch im Lokalen?

?Was halten Sie vom Prinzip „Online first“, wie es die „Welt“-Gruppe praktiziert – d. h. komplette Freigabe des online-Materials inklusive Archiv-Zugangs ohne Registrierungsschranke und Kostenbarriere? Wo sehen Sie Nachteile oder Alternativen zu diesem Konzept?

„Print second?“

Bernard Bernarding,

Stv. Chefredakteur „Saarbrücker Zeitung“:

„Online first“ hört sich gut an, wirkt modern, beinhaltet jedoch leider auch den Umkehrschluss: „Print second“. Indem wir (Journalisten) das Internet stärken, schwächen wir gleichzeitig die Printmedien. Wichtig wäre meines Erachtens, den Menschen („Usern“) die unbestreitbaren Vorteile der Zeitung klarer als bisher vor Augen zu führen. Ungeachtet dessen finde ich den barrierefreien Zugang zu Zeitungsarchiven kundenfreundlich und wünschenswert.“

„Problematisch“

Dirk Birgel, Chefredakteur „Dresdner Neueste Nachrichten“,

„Die erste Maxime lautet für uns: Quality first. Der Anspruch, möglichst schnell im Netz zu sein, muss sich dem unterordnen. Eine komplette kostenlose Freigabe aller Inhalte für alle, halte ich für problematisch. Die Arbeit einer Redaktion sollte nicht nur den Abonnenten etwas wert sein. Einen Teil der Inhalte, wie das aktuelle überregionale Nachrichtengeschehen, kann man allerdings durchaus freigeben.

Ein Nachteil kann sein, dass man einen künstlichen Zeitdruck aufbaut, unter dem die journalistische Sorgfalt und Qualität leidet, gerade wenn man sich der Exklusivität seiner Story nicht sicher ist.“

„Gefahr der Selbst-Kannibalisierung“

Carsten Heil, Stv. Chefredakteur der „Neuen Westfälischen“

„Für die Überregionalen mag Online first schon zum jetzigen Zeitpunkt die richtige Strategie sein, weil sich die Konkurrenz auf dem gleichen Feld tummelt und das Ausgabemedium für die teuer recherchierten Informationen mittelfristig keine Rolle mehr spielen wird. Im Regionalen sind wesentlich mehr Inhalte exklusiv, vor allem bei einem Monopolblatt. Da ist die Gefahr der Selbstkannibalisierung deutlich größer, wie wir aus Diskussionen mit den Lesern wissen. Grundsätzlich müssen sich die Regionalzeitungen aber auf die Online-Entwicklung vorbereiten, um im richtigen Augenblick auf Online first umstellen zu können. Online-und Print-Ausgaben sollten sich inhaltlich ergänzen und nicht parallel identischen Stoff veröffentlichen. Die kurze exklusive Meldung (Brand beim Unternehmen XY) mit den wichtigsten Fakten, ein paar Bildern und einem Video im Netz. Darunter der Hinweis: Ob es Brandstiftung war und wer das Feuer entdeckt hat, erklärt morgen in der Print-Ausgabe Feuerwehrhauptmann Willi Wasser etc. In Print ist dann der Hinweis: Film und Fotos von Brand und Löscharbeiten im Netz.“

„Teststrecke“

Axel Ehrlich, Chefredakteur „20 Cent Saar/ Potato“

„Wir befinden uns auf einer Teststrecke. Sollten durch die Online-Betonung zusätzliche Nutzer/Leser unser Angebot in Anspruch nehmen, am besten dauerhaft, dann hat Online first seine Berechtigung unter Beweis gestellt. Sollte sich herausstellen, dass dieses Angebot massiv auf Kosten der Leserzahlen im Print geht, war Online first der falsche Weg. Um das herauszufinden, muss man es also probieren. Bezahlte Online-Inhalte schrecken Nutzer unserer Erfahrung nach massiv ab und sind deshalb keine Alternative.“

„Einzige Möglichkeit“

Fried Gehring, Verleger und Chefredakteur „Die Glocke“, Oelde

„Das Prinzip Online first ist die einzige Möglichkeit, mit diesem Medium umzugehen. Veröffentlichungen im Interesse von Print zurückzuhalten, kann nicht funktionieren, da die Inhalte überall aktuell im Web zur Verfügung stehen. Auch ist es vernünftig, den Usern freien Archiv-Zugang zu gewähren. Jede finanzielle Barriere würde den User nur zu den Gratisangeboten von Wettbewerbern leiten, so hält man ihn bei der Zeitungsgruppe. Die „Glocke“ stellt ihren Abonnenten aus exakt gleichen Gründen ihr e-Paper gratis zur Verfügung. Alternativen zu diesem Konzept sehe ich nicht.“

„regional modifiziert“

Thomas Hauser, Chefredakteur „Badische Zeitung“

„Ich finde dieses Konzept mutig und interessiert. Auch wir diskutieren über einen solchen Weg. Ich denke aber, dass eine modifizierte Lösung für Regionalzeitungen der erfolgversprechendere Weg sein könnte. Wir werden aber auf jeden Fall deutlich mehr freigeben und deutlich mehr Artikel zuerst im Internet veröffentlichen als bisher. Die Nachteile? Ich habe Sorge, dass wir unsere Leistung entwerten. Ohnehin schleicht sich zunehmend die Überzeugung ein, dass Qualität nichts kosten muss. Zudem wissen wir noch zu wenig über die Potenziale auf dem lokalen Markt für Internetanzeigen. Wie wir eine professionell arbeitende Redaktion bei multimedialer Verbreitung ihrer Leistung finanzieren können, ist mir noch nicht klar.“

„Zu weit“

Uwe Heitmann, Chefredakteur Zeitungsgruppe Ostfriesland

„Die komplette Freigabe des geschriebenen Materials noch vor dem Druck geht mir immer noch zu weit. Gerade Regional-und Lokalzeitungen würden so viele exklusive Stücke verschenken, bevor die zahlende Kundschaft der Druckausgabe Nutzen davon hat. Solange sich im Regionalmarkt aber absehbar keine Online-Werbeerlöse erzielen lassen, die auch nur annähernd mit denen der Papierausgabe mithalten können, muss das Printprodukt inhaltlich Premium-Charakter gegenüber der Webseite behalten. Alternative: Regionale Top-Nachrichten in Kurzform schnell und aktuell in die Online-Ausgabe – vertiefende, erklärende und die meisten exklusiven Stücke in die Zeitung.“

„Ohne Alternative“

Christian Lindner, Chefredakteur „Rhein-Zeitung“

„Es hilft der gesamten Branche, dass die „Welt“-Gruppe beschlossen hat, die bislang unendliche und auch fruchtlose Debatte „Kannibalisiert Online Print?“ für sich konsequent zu beenden und alle Inhalte rasch und gratis ins Netz zu stellen. Es hilft, weil dieser Großversuch allen Verlagen zeigen wird, ob Online Print auf Dauer schwächt oder stabilisiert. Und welches Geschäftsmodell damit verbunden ist.

Der Weg der „Welt“ scheint mir ohne Alternative: Die Generation I-Pod und auch die Silver Surfer werden durch ihr Info-Verhalten faktisch durchsetzen, dass selbst Premium-Content im Netz nichts kosten darf. Und wenn Verlage das nicht bieten wollen, werden andere Anbieter das tun.“

„Noch offen“

Sergej Lochthofen, Chefredakteur „Thüringer Allgemeine“

„Es ist ein interessantes Experiment, noch weiß niemand, wie es ausgeht. Ob die Kultur der Zeitung (Objektivität) und die Kultur des Internet überhaupt zueinander gebracht werden können, ist offen. Es ist ein Irrglaube, davon auszugehen, dass das Internet eines Tages die alten Medien – dazu gehören inzwischen nicht nur Zeitungen, sondern auch das Fernsehen und das Radio – ersetzt. Es wird ein Nebeneinander unterschiedlichster Informationsträger geben. Der gebildete Teil der Bevölkerung wird auch künftig Zeitung lesen. Nur wird es dann in einem Land wie Thüringen nur noch eine einzige geben.“

„Komplette Freigabe“

Jost Lübben, Chefredakteur der „Nordsee-Zeitung“

„Die komplette Freigabe des aktuellen redaktionellen Materials ist aus meiner Sicht ohne Alternative. Über jeden weiteren Schritt muss noch diskutiert werden. Die „Nordsee-Zeitung“ hat Online first bereits für ihr Jugendmagazin „Deichelden“ umgesetzt. Ein möglicher Nachteil des kostenlosen Angebots ist, dass die Nutzer mit der Vorstellung leben, Informationen hätten keinen Wert. Zeitungsverlage müssen ausgefeilte Nutzungskonzepte erarbeiten, die Nutzern Mehrwert bieten. Dann akzeptieren sie auch eine Registrierungsschranke.“

„Problem Primetime“

Michael Maurer, Chef vom Dienst „Stuttgarter Zeitung“

„Es ist ein interessanter Weg und er ist in der Konsequenz, mit der er verfolgt wird, beachtlich. Vieles spricht dafür, dass es auch bei den Zeitungsverlagen wieder zu einer Trendumkehr kommen muss, dass Inhalte kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Probleme könnten sich aus d
er Rigorosität ergeben, mit dem das Prinzip Online first umgesetzt wird. Recherchen und Schlusszeiten für Artikel möglichst weit nach vorne zu ziehen, um damit in der Internet-Primetime zwischen 10.30 Uhr und 12.30 Uhr präsent zu sein, ist inhaltlich sicher nicht immer optimal. „

„Für Modell Abo plus“

Frank Nipkau, Redaktionsleiter Zeitungsverlag Waiblingen

„Ein Großteil des Angebotes von welt online besteht nach meinem Eindruck weiterhin aus aktuellen und teilweise umgearbeiteten Agenturmeldungen. Online first klingt gut. Dieses Prinzip wird aber die publizistische „Welt“ nicht grundlegend verändern. Und nicht jeder Verlag kann es sich leisten, Inhalte zu verschenken und gleichzeitig kein Geld zu verdienen.

„Zeitung zuerst“, so heißt die Strategie des Zeitungsverlages Waiblingen. Wir haben im Jahr 2005 unsere exklusiven lokalen und regionalen Nachrichten für Nicht-Abonnenten geschlossen. Wir glauben an die Zukunft der gedruckten Zeitung. Deshalb wollen wir alles tun, um das klassische Print-Abo zu stützen. Unser Online-Auftritt ist deshalb nur ein Bestandteil unseres Abo-Plus-Konzeptes. Der Abonnent erhält beispielsweise einen Mehrwert durch den kostenlosen Zugang zu Archiv und e-Paper; er hat früher Zugriff auf unseren Kleinanzeigenmarkt und er kann als Abonnent einer unserer vier Tageszeitungen im Internet auch die drei anderen Ausgaben komplett lesen. Zudem erreichen wir junge Leser mit einem Kino-Gutschein, den wir jeden Dienstag in der Zeitung abdrucken. Ergebnis: Immer mehr Abonnenten nutzen unseren Internet-Auftritt und unsere Auflage ist seitdem weitgehend stabil“.

„Alternativlos“

Anton Notz, Redaktionsleiter FTD.de

„Die Zeitung hat andere Leser als das Internet. Deshalb wird man mit der Prämisse Online first der Zeitung nicht schaden. Scoops können der Zeitung überlassen werden. Sonst ist der Weg, Online massiv zu stärken, alternativlos. Wer im Netz auf Paid Content setzt, erzielt dürftige Erlöse auf Kosten von wertvoller Reichweite. Deshalb ist es richtig und konsequent, im Online-Angebot Hürden ab-statt aufzubauen.“

„Keine Konkurrenz“

Friedrich Roeingh, Chefredakteur „Westdeutsche Zeitung“

„Nicht nur die Journalisten, sondern auch die Verlage neigen dazu, die falschen Konkurrenzen zu pflegen. Die Redaktionen sind viel zu sehr auf die Konkurrenzzeitung fixiert. Es kommt aber darauf an, was die Leser bzw. die Nichtleser von uns erwarten. Dagegen ist die Entwicklung der Online-Portale über Jahre durch die Angst vor der Kannibalisierung der Zeitung bestimmt worden. Das ist verständlich, weil online auch künftig keine Vertriebserlöse generieren wird. Und doch war diese Haltung grundfalsch. Während die überregionalen Zeitungen das Feld „Spiegel-online“ überlassen haben, haben die Regionalzeitungen noch für kurze Zeit die Chance, auch online ihre lokale Marktführerschaft zu festigen. Die neuen Anbieter werden aber mit Macht lokale Inhalte anbieten und wenn sie Erfolg haben, Werbeerlöse abziehen. Die Nutzergruppen von Print und online weisen kaum Überschneidungen auf. Die Gefahr, Zeitungsabos zu verlieren, ist deshalb marginal. Wenn die Verlage aber wirklich an die jungen Leser heranwollen und vom boomenden Online-Werbemarkt im Internet profitieren möchten, dann müssen sie die Stärke ihrer Marke mit aller Macht ins Internet verlängern. Blogs und Unterhaltung können andere Anbieter besser. Wir müssen guten und aktuellen Journalismus bieten, und dafür die ganze Kompetenz unserer Redaktionen nutzen.“

„Absehbar obligatorisch“

Anton Sahlender, Stv. Chefredakteur „Main-Post“

„Online first wird für alle Print-Medien in absehbarer Zeit obligatorisch sein. Ich denke, dass lokal verbreitete Zeitungen sich nicht komplett öffnen werden. Im lokalen Raum funktionieren die Medien untereinander anders als im nationalen und weltweiten Nachrichtenmarkt. In Letzterem sind es viele Medien, die an Nachrichten teilhaben und sie generieren. Da spielt Schnelligkeit eine wesentliche Rolle. Dagegen sind Lokalzeitungen oft die einzigen Medien, deren Mitarbeiter Nachrichten aus der Region journalistisch weitgehend erfassen und bearbeiten. Da tritt Schnelligkeit gegenüber anderen Kriterien in den Hintergrund. Alternativen zu Online first sehe ich auf Dauer kaum. Nachteile könnten sich für die Medien ergeben, die zu früh ihre exklusiven Leistungen über das Netz anderen Bewerbern preisgeben, die daran partizipieren, ohne eigenen Einsatz bringen zu müssen. Nachteile werden auch jene Zeitungen haben, die zu spät kommen.“

„Modifizierte Konzepte“

Dieter Schreier, Chefredakteur „Hanauer Anzeiger“,

„Generell glaube ich, dass die „Welt“ mit Online first hier konsequenter als andere einen Zukunfts-Weg beschreitet. Die Radikalität, mit der dies geschieht, beeindruckt mich (positiv). Beim barrierefreien Zugang zum Archiv habe ich jedoch noch einige Bedenken. Hier muss vermutlich jede Zeitung ihren maßgeschneiderten Weg finden. Das neue Online-Konzept, der Newsroom und auch der neue Web-Auftritt der „Welt“ sind aber in sich schlüssig, gelungen, modern und hoch spannend.

Nachteile könnten sich in den wenigen regionalen Konkurrenzgebieten ergeben. Ob eine Lokal-oder Regionalzeitung bereitwillig frühzeitig eine Exklusivgeschichte ins Netz stellt und so die Kollegen auf die Spur bringt – wir gehen in solchen Fällen erst nach Redaktionsschluss der anderen ins Netz. Bei der Archivnutzung könnte ich mir – je nach Situation vor Ort-andere Modelle vorstellen. Bei kleinen Preisen und kleinem Abrechnungsaufwand könnte sich hier eine Nische im Zeitungs-Web auftun, für die der Kunde möglicherweise bereit ist zu zahlen.“

„Keine Kannibalisierung“

Joachim Umbach, Chefredakteur „Schwäbische Zeitung“

„Das Prinzip Online first ist richtig, weil nur so die Stärken dieses Mediums richtig eingesetzt werden. Die Zielgruppe derjenigen, die tagsüber möglichst stundenaktuell mit Nachrichten versorgt werden will, kann ich nur so erreichen. Mit „alten“ Online-Informationen verprelle ich diese Gruppe. Diese unterscheidet sich im Übrigen deutlich von den Lesern der Tageszeitung. Die Gefahr einer Kannibalisierung durch Online first halte ich deshalb für nicht allzu groß. Im Grundsatz widerstrebt es einem Journalisten, dass seine Informationen, seine Nachrichten ohne Entgelt weitergegeben werden. So als wäre geistige Arbeit nicht wert, bezahlt zu werden. Doch es macht andererseits keinen Sinn, sich gegen den Strom zu stellen. Die großen Suchmaschinen-Anbieter machen es uns vor. „Quote“ kann man nur erreichen, wenn der Nutzer einen uneingeschränkten Zugang hat. Das gilt letztlich auch für die Textarchive der Zeitungen. Die Einführung von Online first bedingt eine Neuorganisation der Arbeit in den (Print-) Redaktionen. Die grundsätzliche Haltung der meisten Printredakteure zum Medium Online wird sich ändern. Das ist ein Prozess, der in den Köpfen stattfindet.“

Erschienen in Ausgabe 4/2007 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 22 bis 25 Autor/en: Umfrage Annette Milz. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.