Im April ist Stichtag: Sowohl Regiocast Digital (RCD) als auch FFH arbeiten unter Hochdruck an der Eröffnung neuer Funkhäuser – in der 3-D-Computer-Welt von Second Life. RCD, eine Beteiligung der norddeutschen Radioholding Regiocast, will dort Musik aus der realen und Nachrichten aus der virtuellen Welt via „2nd Radio“ ausstrahlen, Reporter als digitale Stellvertreterfiguren (Avatare) recherchieren lassen. Zwei Redakteure in der Kieler Zentrale kümmern sich um das Projekt, das sich durch Werbung refinanzieren soll. „Später könnte man auch Radios oder MP3-Player im schicken Design verkaufen“, frohlockt RCD-Chef Dirk van Loh.
Das virtuelle Funkhaus der hessischen Radio/Tele FFH-Gruppe wiederum ist seit 1. April als Baustelle auf der neuen SL-Frankfurt-Insel zu besichtigen und soll Ende des Monats voll funktionsfähig sein. „Die Nutzer können das Funkhaus besuchen, selbst Radio bei Hit Radio FFH machen, planet radio wird in einem Frankfurter Wolkenkratzer einen Club betreiben, und auch harmony.fm wird zu hören sein“, erklärt FFH-Chef Hans-Dieter Hillmoth. Das Projekt ist outgesourct, pro Sender gibt es in der realen Zentrale im hessischen Bad Vilbel einen Ansprechpartner. Mit einem „sofortigen Return of Investment“ rechnet Hillmoth nicht, „aber Radio muss neue Techniken und Möglichkeiten nutzen, deshalb gehen wir’s an“. Das klingt bei RCD-Chef van Loh ganz ähnlich: „Für uns ist Second Life das Labor, in dem wir das Radio der nächsten Generation auf den Weg bringen.“
Rasantes Wachstum. Denn wer sich für Kommunikations-, Marketing- und Web 2.0-Konzepte interessiert, kommt an SL nicht mehr vorbei – das zweite Leben ist kein Computerspiel, sondern eine rasant wachsende nutzergenerierte 3-D-Welt im Internet. Immer mehr große Konzerne von Adidas bis Vodafone testen neue Werbe- und Marketingkonzepte in Second Life, die EU unterhält eine eigene Repräsentanz. US-Colleges halten virtuelle Vorlesungen, das Online-Portal Politik.de organisiert politische Diskussionen. Und ab Anfang April wird als erste deutsche Stadt Frankfurt/ Main in SL präsent sein.
Ausgerechnet die gute alte „Tante“ BBC gehörte mit dem Onlinedienst C/Net zu den ersten Medien, die SL für sich entdeckte, seit Anfang 2006 bereits veranstaltet sie regelmäßig virtuelle Newcomer-Konzerte. Die Nachrichtenagentur Reuters schickt seit Oktober ihren Korrespondenten Adam Pasick alias Avatar Adam Reuters in ihre virtuelle Redaktion und lässt ihn über das SL-Wirtschaftsgeschehen berichten – allerdings nur sehr spärlich, der US-„SL-Herald“ ebenfalls, und das US-Network NBC zündete im Dezember 06 vor über 1000 schaulustigen Avataren einen Weihnachtsbaum am virtuellen Rockefeller Center an. Als erster deutscher Verlag hat die Axel Springer AG den Schritt ins zweite Leben gewagt und produziert seit Dezember wöchentlich das SL-Boulevardblatt „The AvaStar“.
Doch was treibt die (Medien-)Konzerne in die virtuelle Welt? Zum einen sind die Sender, Verlage und Konsumgüterhersteller von den exorbitanten Wachstumsraten der virtuellen Welt fasziniert: Second Life wächst schneller als jede reale Ökonomie. Rund fünf Millionen Nutzer waren Ende März registriert (nur fünf Monate nach der ersten Million), 350.000 Bewohner waren laut Statistik des SL-Betreibers Linden Lab im Februar mindestens einmal wöchentlich anwesend. Monatlich wächst der Handelsumsatz um 15 Prozent – derzeit werden täglich Waren und Dienstleistungen im Wert von umgerechnet rund 1,5 Millionen US-Dollar verkauft. Zudem sind SL-Nutzer eine attraktive Zielgruppe: überwiegend jung, gut gebildet, kaufkräftig und netzaffin. Keine Community wächst übrigens schneller als die deutschsprachige (derzeit zehn Prozent, die Amerikaner stellen nur noch etwa ein Drittel), und nirgendwo auf der Welt ist der Medienhype um SL größer als in Deutschland.
Projekt „AvaStar“ alias „Bild“. Den größten Aufwand betreibt Springer mit dem „AvaStar“. An der Projektentwicklung unter dem Dach von Bild.T-Online waren drei Agenturen beteiligt, die Kosten sollen siebenstellig gewesen sein. Die 31-seitige pdf-Zeitung zum Herunterladen erscheint seit Dezember in Englisch, seit Februar 2007 auch in Deutsch und berichtet mit Nachrichten, Klatsch, Tipps und Trends ausschließlich aus der virtuellen Welt. Der leibhaftige Chefredakteur Rowan Barnett (alias Avatar Regis Braathens) gestaltet das Blatt mit einer sechsköpfigen Berliner Redaktion aus festen und freien Mitarbeitern, darunter zwei Grafiker. Der Brite Barnett, der in diesen Tagen erst 26 Jahre alt wird, war zuvor internationaler Trainee bei Springer mit Zeitschriftenerfahrung aus Großbritannien, eine weitere Mitarbeiterin kommt als Absolventin frisch von der Axel Springer Akademie. Alle im Team sprechen englisch als Muttersprache oder vergleichsweise gut, keiner ist älter als 30. „Es ist ein großer Vorteil, dass die Redaktion keine Berührungsängste gegenüber Grundprinzipien des Web 2.0 und virtuellen Welten hat“, betont „AvaStar“ Projektleiter Maurizio Barucca. Das Team lebt praktisch online. Neulich, so erzählt gesteht „Avastar“-Blattmacher Barnett, habe er in seinem realen Kleiderschrank ein T-Shirt gesucht, das er nur virtuell besitzt.
Mehr als 20 freie Reporter aus aller Welt recherchieren für „The AvaStar“ in SL und werden in der virtuellen SL-Währung Lindendollar bezahlt. Für professionelle freie Journalisten ist es allerdings weitaus lukrativer, für reale als für virtuelle Medien über SL-Themen zu schreiben. Für ein exklusives Feature gibt es beim „AvaStar“ bis zu 5000 Lindendollar, das sind lächerliche 15 Euro, der „SL Herald“ deckelt die Honorare sogar bei 1000 Lindendollar. Die freien Mitarbeiter des „AvaStar“ sind denn auch überwiegend keine Profis, sondern Hard-Core-SL-Nutzer mit Mitteilungsbedürfnis und guten Ideen.
Die kostenlose Einführungsphase des „AvaStar“ dauerte länger als zunächst geplant, weil virtuelle Automaten mit verschiedenen Abrechnungssystemen gestestet wurden, doch ab Anfang April soll das Blatt nun 150 Lindendollar kosten. Mit Web 2.0-PR – Videos bei YouTube, ein „AvaStar“-Profil bei MySpace, etc. – wurde das Blatt in der Zielgruppe bekannt gemacht. Inzwischen wird es pro englischer und deutscher Ausgabe „jeweils im fünfstelligen Bereich“ heruntergeladen, sagt Stemmle. Vier bis sechs ganzseitige Anzeigenseiten verkauft der „AvaStar“ derzeit pro Ausgabe. SL-Kunden zahlen dafür 10.000 Lindendollar (rund 30 Euro), für Kunden aus dem realen Leben gibt es noch keine feste Preisliste. „Wir arbeiten daran, und wir wissen, wir haben Spielraum nach oben“, sagt Stemmle. Das vorsichtige Herantasten begründet der Bild.T-Online-Chef auch mit der Pionierrolle des Springer-Verlags. „Im Dezember war es noch schwierig, die Mediaagenturen von SL zu überzeugen.“ Inzwischen aber seien „praktisch alle relevanten Agenturen“ an der Werbeplattform SL interessiert.
Virtuelles Fernsehen. Als erster TV-Sender streamt der deutsche Internetkanal Bunch.tv seit 15. Februar sein gesamtes Programm rund um die Uhr live ins zweite Leben. Zum Empfang des Musik-, Sport- und Unterhaltungssenders braucht man einen Fernseher, den es in der virtuellen Sendezentrale (eine Art Erlebnis-Areal mit Tanzfläche, Lounge und Videoleinwand) kostenlos gibt. Wer auf seinem virtuellen Grundstück schon einen Fernseher oder eine Videoleinwand hat, kann das Programm auch mit einer Bunch.tv-Fernbedienung starten. Rund 1200 Nutzer holten sich in den ersten vier Wochen laut Bunch.tv Betreiberfirma Webvision eines der beiden Geräte ab. Gesponsert wird das Projekt vom Szene-Mixgetränk Desperados, später soll es sich laut Webvision-Chef Stephan Faber auch durch ein exklusiv in SL empfangbares Pay-Programm rechnen. „Es soll eine komplett erstellte virtuelle Sendung mit Avataren als Moderator und Gast sein. Themen und Inhalte der Sendung werden ebenfalls nur aus dem SL-Kosmos kommen“, kündigt der ehemalige Viva-Redakteur an. Der Musiksender MTV transferierte eine Reality-Show in die Pixelwelt. Außer durch Werbung soll sich „Virtual Laguna Beach“ auch durch bezahlpflichtige Inhalte und
Voice-over-IP-Telefonie rechnen, kündigt Joel Berger an. Er ist in der Berliner Filiale des MTV-Mutterkonzerns Viacoms verantwortlich für digitale Medien und den Aufbau von Netzwerken.
Einstiegsmodelle. Andere Medien sind eher vorsichtig mit ihren finanziellen Vorleistungen. Ein eigener SL-Marken- oder Medienauftritt verschlingt mindestens 50.000 Euro, zumeist aber eher sechsstellige Investitionskosten. Ohne Informations- und Interaktions-Mehrwert fragt sich die (vom Markenrummel oft schon angenervte) Zielgruppe schnell, was das Ganze soll. „Spiegel Online“ geht den preiswerten Weg und lässt seit Januar seinen Redakteur Matthias Stöcker als den Punk „Sponto“ in wöchentlichen „Second Life Tagebuch“-Rubriken über persönliche Erlebnisse in der virtuellen Welt berichten. Beim Kölner Verlag M.Dumont Schauberg („Kölner Stadt-Anzeiger“, „Express“, „Frankfurter Rundschau“) wird momentan noch geprüft, ob Investitionen in SL zukunftsweisend angelegt sind oder ob nicht ein Reporter-Avatar(team) auch reicht.
Das Schweizer Gratis-Blatt „heute“ aus dem Ringier-Verlag, das vor allem Kultur- und Freizeit-Tipps bietet, startete im Januar ebenfalls bescheiden mit einem Blog des virtuellen Reporters Roco Camilo, der im echten Leben Gerhard Schriebl heißt. Seit Mitte März existiert auch eine eigene „heute“-Insel in SL. Eine SL-Zeitung gibt „heute“ nicht heraus, als Ressourcen dienen die eigene Homepage und Links zu anderen Seiten. Den hohen finanziellen und personellen Aufwand von Bild.T-Online hält Schriebl für übertrieben. Der „AvaStar“ richte sich „an Eskapisten, die in SL ein gänzlich neues Leben führen wollen“. Die reine Berichterstattung aus SL sei der „falsche Weg“, glaubt er.
Die „heute“-Insel dagegen soll ein Ort für Partys, Ausstellungen, Wettbewerbe und viel Kommunikation zwischen „heute“-Lesern und/oder SL-Neulingen sein. „Hier halten sich andere Schweizer auf, die einem Tipps geben, und auch Roco Camilo beantwortet gerne Fragen“, erläutert Schriebl. Wie viele Schweizer es in SL gibt, weiß man bei „heute“ nicht einmal genau. „Wir gehen von ein paar Tausend aus,“ sagt der Projektleiter. Doch nicht die Anzahl der Nutzer, sondern das Interesse an SL seien für den Auftritt entscheidend gewesen. Das sieht man bei der überregionalen Tageszeitung „Der Standard“ in Wien offenbar noch anders. Dort heißt es, die österreichische Community sei mit geschätzten 17.000 Mitgliedern noch zu klein für ein eigenes Engagement. Auf der Austria-Insel in SL zumindest wird aber bereits munter spekuliert, dass der Webableger des „Standard“ wohl bald in SL auftauchen werde.
Info
2003 bis 2006: Blogs;
ab Anfang 2006: C/Net, SL-Herald, BBC;
ab September 2006: MTV, Reuters, NBC, „The AvaStar“ (Springer);
Februar 2007: Bunch.tv;
März 2007: „heute“ (Ringier-Verlag);
April 2007: FFH-Gruppe, 2nd Radio (Regiocast Digital).
LinkTipp:
www.theavastar.com
www.bunch.tv
http://secondlife.reuters.com
www.secondlifeherald.com
http://www.heute-online.ch/blogs/secondlife/
http://secondlife.com/community/media.php
Erschienen in Ausgabe 4/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 40 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.