Keine Chance für Lügen

Lügen haben kurze Beine – ganz besonders in Brüssel. Wo 27 nationale Regierungen am Tisch des Ministerrates oft unterschiedliche Interessen vertreten, da werden aus nationaler Sicht sehr unterschiedliche Informationen gestreut. 27 EU-Kommissare betreiben mehr oder auch weniger gute Informationspolitik. Schätzungsweise 15000 Lobbyisten haben sich rund um den Sitz der Kommission am „Rond Point Schuman“ angesiedelt. Einige von ihnen teilen direkt oder auf Umwegen mit, was sie erfahren haben wollen. Ganz zu schweigen von den 785 Abgeordneten des Europaparlaments, von denen sich einige fast täglich zu Wort melden.

Eine gute Ausgangslage für die rund 1200 akkreditierten EU-Journalisten in Brüssel, aber gewöhnungsbedürftig für manche Politiker, die neu sind und nach den Regeln von daheim spielen wollen. „Wie ein Löwe“ hätten sie gekämpft für die deutschen Interessen und natürlich tiefen Eindruck hinterlassen – sagen sie. Nur: Warum hat das keiner der anderen 26 Minister gehört? Die nämlich lassen über ihre Vertrauten wissen, der Kollege sei zahm wie ein Lämmchen gewesen. Brüssel scheint zu groß zu sein, um dauerhaft lügen zu können. Politiker sind hier kontrollierbarer als anderswo.

Grenzenloses Teamwork. Die vielfältige Quellenlage erfordert für Journalisten einen besonderen Arbeitsstil. Während der Sitzungen der Ministerräte wird fast pausenlos gebrieft. Zwar rühmen sich alle Korrespondenten gerne, die Kunst der „Trilokation“ zu beherrschen – sie können aber auch nur an einem Ort zu einer bestimmten Zeit sein. Wer aktuell arbeitet, muss sich austauschen. Das funktioniert meist nur, indem sich vertraute Kollegen Informationen zuschieben.

Das ist auch deswegen nötig, weil die Briefings der nationalen Delegationen nur in den Landessprachen stattfinden. Da kann es gut geschehen, dass beispielsweise eine polnische Ministerin nur polnischen Journalisten etwas sagt – was diese aber dann weiterreichen, weil sie auf solche Kanäle auch mal angewiesen sein werden. Der ganz reinen «Quellenlehre» entspricht das vielleicht nicht, funktioniert aber bei entsprechender Vorsicht gut. Außerdem gibt es immer noch Diplomaten und Beamte, die eine wichtige Quelle zur Plausibilitätskontrolle sind. Für die Korrespondenten in Brüssel bedeutet diese Arbeitsweise eine einzigartige Kollegialität.

Bei der Qualität von Quellen kommt es in Brüssel nicht auf die Größe des Mitgliedsstaates an – manchmal sind gerade die Kleinen wichtiger. Der große Star unter den Kleinen ist Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker. Als eines der wenigen wirklichen EU-Schwergewichte – dienstältester Regierungschef, außerdem Vorsitzender der Euro-Gruppe – ist Juncker nicht nur für deutschen Fernseh- und Rundfunkteams interessant, weil er besser deutsch spricht als manche unserer Politiker. Er neigt dazu, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Es geht also um die Qualität seiner Zitate. Und wenn man ihm zugehört hat, sieht mancher Gipfel etwas anders aus als vorher.

Lieber live. Oft gibt es auch in Brüssel für so manch hochpolitischen Akt eine ganz einfache Erklärung: Der Jubiläumsgipfel in Berlin beispielsweise ist für Angela Merkel besser gelaufen, als zu befürchten war. Aber warum wurde die «Berliner Erklärung» nicht von den 27 Regierungschefs sowie den Präsidenten der EU-Kommission und des EU-Parlaments unterschrieben, sondern nur von Merkel (Ratspräsidentin), Barroso (Kommission) und Pöttering (Parlament)?

In Brüssel wird gestreut, bei 29 Unterzeichnern und drei Minuten pro Unterschrift (inklusive Anmarsch, Platznehmen und Abgang) hätte alleine die Unterzeichnung 87 Minuten gedauert. Niemand könne jedoch in einer Direktübertragung des Festaktes im «Ersten» eineinhalb Stunden lang Politiker ertragen, die den eigenen Namen schreiben. Die Entscheidung war: Entweder Live-Übertragung oder Unterzeichnung durch alle. Politiker machen Politik, Medienleute Medien. Oder?

Der Insidertipp:

Am direktesten ist bei EU-Ereignissen dabei, wer sich wichtige Pressekonferenzen im EU-Fernsehen „Europe by Satellite (EbS)“ anschaut. Das Programm wird über den hierzulande als exotisch geltenden Satelliten Sirius-2 ausgestrahlt. Wer sich mit weniger gutem Bild zufrieden gibt, kann das Programm auch im Internet unter http://ec.europa.eu/avservices/ebs/schedule.cfm finden. Dabei kann man auch mehrere Tage zurückblättern. Ein Klick auf die Uhrzeit genügt.

Erschienen in Ausgabe 5/2007 in der Rubrik „Brief aus Brüssel“ auf Seite 16 bis 17 Autor/en: Dieter Ebeling. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.