Das Mitmach-Fernsehen

Ganz gleich, ob „Lost“, „Oprah“ oder „Gray’s Anatomy“: Wer in den USA in diesen Tagen eine Episode seiner Lieblings-Show verpasst, schaut sie sich einfach im Netz an. Zahlreiche Sender haben damit begonnen, ihre beliebtesten Programme bereits kurz nach der TV-Ausstrahlung komplett im Web zu präsentieren. Die meisten dieser Angebote sind für Zuschauer ganz und gar kostenlos. Finanziert werden sie über Web-optimierte Werbeclips.

Aber auch der seriöse Fernsehjournalismus übt sich in den Staaten an neuen Verbreitungswegen. Interview-Altmeister Charlie Rose bietet seine preisgekrönten Sendungen über Googles Video-Plattform zum Download an. Das nicht-kommerzielle „PBS“-Netzwerk versorgt seine Zuschauer mit zahlreichen iPod-kompatiblen Video-Clips. Sender wie „CNN“ und „MSNBC“ liefern ihre Videos direkt aufs Mobiltelefon.

Zuschauer im Mittelpunkt. Handys, Downloads, Online-Ausstrahlungen: Midori Willoughby ist all dies nicht genug. „Viele Medienfirmen schauen nur, was sie an Produkten besitzen“, beklagt sich Willoughby, die als Produzentin für die New Yorker Dokumentarfilm-Schmiede „Kontentreal“ arbeitet. „Sie fragen sich lediglich, wie sie ihre Inhalte verbreiten können.“ Willoughby glaubt jedoch, dass die neuen Medien mehr sind als nur ein weiterer Vertriebskanal. „Uns geht es um die Frage: Wie konsumieren unsere Zuschauer unsere Inhalte, und was machen sie damit?“

„Kontentreal“ wurde in der US-Fernsehwelt für seine Doku-Serie „design:e2“ bekannt. Die von Kultschauspieler Brad Pitt moderierte Show beleuchtete in sechs Folgen umweltfreundliche Architektur, nachhaltige Stadtplanung und grünes Design. Derzeit arbeitet „Kontentreal“ nicht nur an einer zweiten Staffel, sondern auch an einer interaktiven Online-Plattform zur Serie.

Den Anstoß dafür gaben Zuschauerreaktionen nach der Ausstrahlung der ersten Folgen. „Leute wollten Tipps zum Begrünen ihres Dachs. Sie wollten die Menschen treffen, die wir in der Serie porträtiert hatten“, weiß Willoubhby zu berichten. „Sie wollten wissen, was sie auf politischer Ebene tun konnten. Für uns war dies sehr inspirierend.“ Bald war man jedoch überwältigt von der Flut derartiger Gesuche. „Wir fragten uns: Wie können wir unseren Zuschauern dabei helfen, untereinander Kontakte aufzubauen und so selbst die Informationen zu finden, die sie suchen?“

„Kontentreal“ entwickelte dazu einen Prototypen einer Plattform namens „Green Maps for Living“, der im Februar auf einer Branchenveranstaltung in Los Angeles vorgestellt wurde. Willoughby führte dabei vor, wie Zuschauer in der Serie angesprochene Themen mit Hilfe von Karten, Texten und Videoclips erkunden können. „Kontentreals“ Inhalte sollen jedoch nicht im Mittelpunkt der Plattform stehen. „Wir wollen zehn bis 15 Prozent des Materials stellen“, berichtet Willoughby. „Der Rest soll von der Nutzergemeinschaft selbst stammen.“

Keine Handy-Videos. Nutzer haben dazu unter anderem die Möglichkeit, Schnappschüsse mit ihrem Mobiltelefon hochzuladen. Vom Plan, Videos und Web-ähnliche Inhalte für Handy-Nutzer anzubieten, rückte man dagegen schnell wieder ab. „Dabei geht es nicht nur um technische Beschränkungen“, erklärt Willoughby. „Mobiltelefone werden für so etwas nicht genutzt. Sondern für kurze Information, für Schnappschüsse, zum Kontakt mit Freunden.“

„Kontentreal“ reduzierte deshalb seine mobile Komponente auf Handy-Fotos, Veranstaltungshinweise und Standort-abhängige kurze Info-Schnipsel. Einen derart medienspezifischen Ansatz verfolgt die Firma auch für Nutzer digitaler Videorecorder und moderner Blu-Ray-DVD-Abspielgeräte.

So soll es Nutzern der in den USA verbreiteten „Tivo“-Videorecorder jederzeit möglich sein, eine Folge der Serie zu stoppen und per Fernbedienung kontextrelevante Informationen zur jeweiligen Szene auf ihren Fernsehschirm zu zaubern – Informationen, die dann wiederum von Nutzern der Web-Plattform stammen. Willoughby dazu: „Unsere Inhalte sollen zum Saatgut für die Ideen unserer Zuschauer werden.“

Interaktive Zukunft. Zuschauer, die vorgegebene Programme um eigene Inhalte erweitern: dies könnte auch für große Medienproduzenten früher als erwartet Realität werden. So haben TV-Konzerne wie „Viacom“, „Warner Bros.“ und „TBS“ damit begonnen, Inhalte an die neue Internet-Fernsehplattform „Joost“ auszuliefern. „Joost“ wurde von den Gründern der Telefonie-Software „Skype“ ins Leben gerufen und setzt wie diese auch von Tauschbörsen bekannte P2P-Technologie ein (siehe Kasten). Die Fernsehbranche liebt die Plattform, da sie ihnen Werbung und Sicherheit verspricht. Zuschauern will „Joost“ in Zukunft noch einen weiteren Bonus bieten: Interaktive Elemente, die das klassische Fernsehen alt aussehen lassen.

„Joosts“ Macher haben bisher wenig über ihre Pläne für die Plattform verraten. Firmenmitbegründer Janus Friis erklärte Anfang Mai in einem Interview mit „Newsweek“ lediglich, man wolle „die Interaktivität des Internets“ in „Joost“ integrieren. Im derzeit laufenden Beta-Test bekommen Nutzer dies über ein Chat-Modul zu spüren. Damit können sie in Echtzeit mit anderen Zuschauern plaudern, die gerade das gleiche Programm ansehen. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, ergänzende Informationen zum gerade laufenden Programm abzufragen.

In Zukunft will „Joost“ sein Angebot Brancheninsidern zufolge um eine interaktive Kommentarmöglichkeit erweitern. Zuschauern soll es damit möglich sein, an beliebiger Stelle Kommentare zu hinterlassen und diese dann mit anderen Teilnehmern auszutauschen. Serienfans könnten sich mit solch einer Funktion im laufenden Programm Hinweise über versteckte Handlungselemente und kulturelle Referenzen einer Folge zukommen lassen, und Dokumentationen könnten zur Bühne für fortlaufende politische Diskussionen werden.

Vorbild Wikipedia. Wenn Fernseh-Macher sich den Bildschirm plötzlich mit ihren Zuschauern teilen müssen, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Wie werden Produzenten und Rechteinhaber zum Beispiel mit Kritik umgehen? Wer greift ein, wenn die Grenzen des guten Geschmacks überschritten werden?

Midori Willoughby glaubt, dass die Branche dabei von kollaborativen Netz-Projekten wie dem Online-Lexikon „Wikipedia“ lernen kann. So plant man bei „Kontentreal“, die Zuschauer weitestgehend in die Bewertung und Filterung der eingestellten Inhalte einzubeziehen. Dies sei Teil des Gesamt-Ansatzes, die Nutzer in den Mittelpunkt der Plattform zu stellen, so Willoughby. „Die Plattform ist ein Werbemittel für die Show, aber das ist nicht ihre primäre Funktion“, erklärt sie. „In erster Linie geht es uns um die Nutzer-Gemeinschaft, nicht um unsere Show.“

Linktipp

„Joost“-Interessenten können sich unter www.joost.com für den laufenden Beta-Test anmelden. Die bisherige „design:e2“-Webseite findet sich unter www.design-e2.com. „Kontentreals“ neue Web-Plattform soll gegen Ende des Jahres starten.

Erschienen in Ausgabe 6/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 30 bis 31 Autor/en: Janko Röttgers. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.