* Was ist das Besondere an der WDR-Reihe „Die Aktuelle Dokumentation“, in der die Reportage „Abgehängt – Leben in der Unterschicht“ entstanden ist?
* Julia Friedrichs: Wir arbeiten bei der Aktuellen Dokumentation anders als andere Reportageredaktionen. Wir planen Projekte nicht lange, sondern wir greifen latent aktuelle Themen auf und versuchen dann, möglichst schnell und trotzdem möglichst tiefgründig den Film zu machen. Wir brauchen, wenn ein Thema aufkommt, immer circa zwei bis drei Wochen, bis der Film fertig ist. Die Aktuelle Doku bietet die Möglichkeit, eine etwas andere, direktere, lebensnahe Perspektive auf das Thema einzunehmen.
* Eva Müller: Wir sind ein Team von sechs, sieben Journalisten im Alter von Mitte 20 bis Mitte 30, die in den letzten zweieinhalb Jahren immer wieder in verschiedenen Konstellationen Reportagen für diese Reihe gemacht haben. Es ist keine Reihe mit einem festen Sendeplatz, sondern man reagiert aktuell und versucht dann schnell, einen möglichst geeigneten Sendeplatz zu finden.
* Julia Friedrichs: Das Besondere bei diesem Film war, dass sich unter anderem WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn und ARD-Chefredakteur Thomas Baumann kurzfristig für einen prominenten Sendeplatz eingesetzt haben. Für den Film und die Resonanz, die es darauf gab, war das immens wichtig. Allein durch die Vorberichterstattung in den Medien durch die Programmänderung gab es eine große Aufmerksamkeit.
* Was hat Sie veranlasst, diesen Film zu drehen?
* Julia Friedrichs: Anlass war die Unterschichtendiskussion, die gerade aufbrandete.
* Juliane Fliegenschmidt: Uns hat interessiert: Was ist „Unterschicht“? Gibt es das in Deutschland? Wer ist das? Definiert die von oben aus der Politik titulierte Unterschicht sich selbst so? Arbeiten die Leute daran, aus der Unterschicht herauszukommen? Bei der Aktuellen Doku ist man nicht direkt mit einer Dreiviertelstunde zur Debatte dabei, aber zeitgleich mit der Debatte dreht man, und am Ende hat man etwas, das über die Debatte hinausgeht.
* Hat der Film eine Botschaft?
* Fliegenschmidt: Nein, jedenfalls keine erzieherische. Die Idee ist, dass man die Leute sprechen lässt und wenn Sie so wollen, ist die Wirklichkeit die Botschaft. Das reicht aus, wenn man die richtigen Protagonisten findet und es schafft, ihnen zuzuhören.
* Funktioniert diese Arbeitsweise nur im Team?
* Müller: Die ganze Idee des Formats ist, im Team zu arbeiten und dabei ein Thema zu erschließen. Es ist ein Gemeinschaftsprodukt auch mit den Kameramännern und der gesamten Produktion, die sich sehr einbringt. Man geht gemeinsam raus, man sammelt Puzzlestücke, fügt sie zusammen, es dreht einer, ein anderer schneidet. Das ist eher ungewöhnlich. Man muss dann nur noch versuchen, möglichst uneitel zu sein. Es fällt manchmal gar nicht so leicht zu sagen: Hier ist mein Material, mach damit, was du denkst, was das Beste ist. Das setzt ein großes Vertrauen innerhalb des Autorenteams voraus, aber es bringt auch andere Blickwinkel und neue Ideen ins Spiel und der Film wird sicher auch ausgewogener dadurch.
* Friedrichs: Die Aktuelle Doku ist kein Autorenfilm, sondern absolutes Teamwork. In der heißen Phase haben wir zwei Drehschichten pro Tag. Und vielleicht auch noch zwei Schnittschichten. Einer muss dann auf jeden Fall von 8 Uhr bis 2 Uhr arbeiten und in der Endphase sind alle bis 2 Uhr nachts da. Das heißt, es ist auch eine Kraft- und Kapazitätsfrage, dass man sich abwechselt. Wir achten aber darauf, dass die Protagonisten höchstens zwei feste Ansprechpartner haben. Insofern ist das etwas völlig anderes als eine lang geplante Dokumentation. Auch die Kameraleute bringen sich sehr viel ein und werden auch danach ausgesucht. Man hat vor allem bei diesem Film gemerkt, dass das kein Dreh war, der die Kameraleute kalt gelassen hat. Die Cutter haben starken Einfluss auf die Dramaturgie, weil wir solche Unmengen von Material haben. Und die Redaktion, bei diesem Film Ellis Fröder und Mathias Werth, kommt schon früh dazu, schaut sich die ersten Bausteine an. Es gibt immer wieder Zwischenabnahmen, die uns neue Ideen geben und den Film vorwärts bringen.
* Besteht die Kunst bei dieser Art von Reportage darin, hinterher beim Schnitt das Wichtige herauszufiltern?
* Müller: Ja, aber wir merken oft schon beim Dreh, das ist es. Man merkt es an Stimmungen, an Bemerkungen, daran, wie Kameramänner reagieren, und daran, was anschließend im Team-Auto erzählt wird.
* Gehen Sie mit minimaler Ausrüstung zum Dreh?
* Friedrichs: Wie bauen nie Licht auf, wir haben kein Stativ, was für die Kameraleute die Hölle ist, weil die Interviews ewig dauern und alles von der Schulter gedreht wird. Aus Sicht der Protagonisten kommen drei Leute, einer mit Kamera. Wir drehen auch teilweise so einen Tag fast 1:1, das heißt, wir laufen immer mit und drehen im Prinzip auch alles, da wir eben nicht wie sonst bei Autorenfilmen oder bei Features den Film schon im Kopf vorgebaut haben. Die Devise ist: erst mal schauen, was kommt, und versuchen, schnell zu reagieren.
* Wie haben Sie Familien gefunden, die bereit waren, vor der Kamera ihr Leben in der Unterschicht auszubreiten?
* Fliegenschmidt: Über die Kirche und die Familienhilfe. Wir hatten uns Wattenscheid ausgesucht, weil Eva da schon mal einen „Monitor“-Film zum Thema, Kinderarmut‘ gemacht hatte. Wir hatten auch nur vier Tage Zeit von der Zusage für den Film bis zum ersten Drehtag, und das war für dieses Format schon viel.
* Friedrichs: In dieser Reihe suchen wir uns eigentlich immer eine Stadt oder einen Ort aus und erzählen dort das Thema. Das vereinfacht auch die Recherche, weil die Leute sich oft auch untereinander kennen. Es geht erstaunlich schnell, eine Stadt in der Größe von Wattenscheid zu erschließen, gerade wenn man zu dritt ist.
* Wollen Sie dem Zuschauer mit der Konzentration auf eine Stadt auch einen roten Faden bieten?
* Fliegenschmidt: Auf jeden Fall. Es ist für uns und die Zuschauer einfacher, eine Situation exemplarisch am Beispiel einer Stadt zu zeigen.
* Friedrichs: Es nimmt dem Film die Beliebigkeit, wenn es schon in einer Stadt genügend Beispiele gibt. Wenn ich eine Reportage sehe mit einem Fall aus München, einem aus Hamburg und einem weiteren aus Jena, dann frage ich mich doch, warum? Dann war es wohl nicht so einfach, die Beispiele zu finden. In diesem Fall hätten wir allein in Wattenscheid selbst in der kurzen Zeit noch zehn weitere Familien nehmen können. Das gibt einem auch als Autor das Gefühl, mit dem Thema richtig zu liegen. Das ist nicht konstruiert, sondern relevant und echt.
* Haben die Protagonisten versucht, Einfluss darauf zu nehmen, welche Szenen gezeigt werden? Vieles ist ja nicht gerade vorteilhaft für die Dargestellten …
* Fliegenschmidt: In den Vorgesprächen haben wir versucht, den Protagonisten zu verdeutlichen, dass es darum geht, sie zu begleiten und ihren Alltag zu zeigen. Als sie dann einverstanden waren, haben sie uns jeweils kurzfristig angerufen, um zu sagen, was sie an diesem oder am nächsten Tag machen, und dann haben wir sie dabei begleitet.
* Friedrichs: Die Protagonisten haben schon an den Fragen gemerkt, worauf das hinausläuft, und dass wir wirklich interessiert waren. Man merkt ja sicherlich auch im Film, dass uns vieles interessiert hat und wir viel nachgefragt haben. Klar, manchmal waren sie genervt, aber in manchen Situationen fanden sie es wohl auch gut, dass wir immer da waren. Da waren keine großen Widerstände zu brechen. Es schafft auch bei den Leuten Vertrauen, wenn man ihnen sagt: Wissen Sie was, wir sind jetzt in den nächsten anderthalb Wochen Ihre Begleiter.
* Über wie viele Tage haben Sie jede Familie begleitet?
* Fliegenschmidt: Das war unterschiedlich. Insgesamt haben wir zehn Tage gedreht, Doppelschichten zum Teil, maximal sieben Tage bei einer Familie. Manchmal haben wir sie auch beispielsweise nur für zwei Stunden bei einem Besuch im Sozialkaufhaus begleitet. Da s
ich alles in einer Stadt abspielte, konnten wir auch leicht zwischen den Familien wechseln.
* Ist es Ihnen bei manchen haarsträubenden Äußerungen der Protagonisten schwer gefallen, in der Rolle der neutralen Beobachterinnen zu bleiben?
* Friedrichs: Unsere Aufgabe ist es nicht, die Leute zu erziehen, sondern ihnen zuzuhören und sie selbst möglichst plausibel ihre Sicht der Dinge schildern zu lassen. Bei mir gab es eine Szene, wo die Hensels über die NPD geredet haben. Das war solch ein Moment, wo ich dachte, jetzt müsstest du eigentlich eingreifen, aber ich bin letztendlich froh, dass ich es nicht getan habe, sondern einfach gefragt habe, was denn anders wäre, wenn die NDP an der Macht wäre.
* Fliegenschmidt: Mehr als Beobachter und interessiert Nachfragende sind wir im Prinzip nicht gewesen. Deshalb sind in den Interviews wenig Interventionen. Die Idee ist, dass die Leute von sich aus viel erzählen und auch untereinander ins Gespräch kommen. Der Zuschauer hat mehr davon, wenn man Äußerungen auch einfach mal stehen lässt. Was ja nicht heißt, dass man nicht nachfragen soll, man kann auch erstaunt nachfragen.
* Müller: Wir wollten ja auch nichts entlarven, sondern zeigen, wie die drei Familien die Dinge sehen. Danach kann sich jeder Zuschauer selbst ein Bild machen.
* Mussten Sie zum Schutz der Würde der Protagonisten auch manches weglassen?
* Friedrichs: Bei mir gab es Szenen, wo die Protagonistin angefangen hat zu weinen. So etwas haben wir weggelassen. Wo es nur um pure Emotion und Zusammenbruch ging, haben wir aber auch die Kamera ausgemacht, um eine Situation erst mal im Gespräch zu klären. Aber bei dem gedrehten Material war nichts, wo wir dachten, das kann man nicht senden.
* Warum bekommt Frank Kamelski, der Einzige, der ohne Einschränkung daran arbeitet, aus Hartz IV herauszukommen, im Film weniger Raum als die anderen Protagonisten?
* Müller: Das lag nur an technischen Gründen und nicht an der inhaltlichen Gewichtung. Wir hatten nur drei Wochen Zeit, davon zwölf Tage, um zu recherchieren und zu drehen. Wir haben ihn erst sehr spät entdeckt und konnten mit ihm nur noch anderthalb Tage drehen.
* Wie sind die Zuschauerreaktionen ausgefallen?
* Fliegenschmidt: Es kamen unglaublich viele Mails von Leuten, die helfen wollten. Speziell Frau Pietsch hat eine ganze Kinderzimmereinrichtung angeboten bekommen und Spielsachen für die Kinder. Herr Kamelski hat Jobangebote bekommen und seine Arbeit an der Schule auch fürs Erste behalten.
* Friedrichs: Für die Hensels gab es leider nichts.
* Die haben sich im Film ja auch nicht gerade als arbeitswillig empfohlen …
* Friedrichs: Das zeigt aber auch, das die Zuschauer sich wirklich selbst ein Bild machen. Es bedurfte keines Kommentartextes nach dem Motto „sie bemühen sich nicht, sie nutzen alles aus“, sondern die Zuschauer haben schon gespürt, dass in dieser Familie die größte Aussichtslosigkeit versammelt war.
* Haben Sie während der intensiven Drehzeit in Ihren Gedanken mit den Familien gelebt?
* Müller: Das ging schon unter die Haut. Man war froh, wenn man abends wieder in seine Welt gefahren ist, um am nächsten Tag mit neuem Mut wieder aufzubrechen und zu versuchen, genauso wach und offen zu sein, wie man es am ersten Tag war. Teilweise war die Stimmung bei den Familien schon bedrückend, gerade bei Familie Hensel. Da war man schon sehr froh zu wissen, dass z.B. der Pfarrer aus dem Film, der sich um Hensels kleine Tochter gekümmert hat, auch noch nach dem Sendedatum da ist.
Man macht sich in der Zeit viele Gedanken. Es ging ja auch um so essenzielle Dinge wie Essen, Kleidung, Möbel. Da gab es zum Beispiel einen Dreh im Sozialen Warenhaus, das ist weit mehr als eine Kleiderkammer oder eine Essensausgabestelle. Da stehen zeitweise über 1000 Leute Schlange und es werden Zeitkarten verteilt, damit die U-Bahnen nicht überfüllt sind. Dort existiert eine Parallelwelt, mit der man – und wie auch – ansonsten einfach nichts zu tun hat.
* Friedrichs: Was mich sehr beschäftigt hat, war zu sehen, wie ein Kleinkind bei den Hensels aufwächst. Die Tochter ist völlig unverschuldet in die Situation hineingeboren worden, und man konnte schon ahnen, was wohl mit ihr passieren würde. Manchmal war es wirklich ganz gut, dass man in dieser Zeit nicht viel freie Zeit zum Nachdenken hat.
* Wie viele Filme pro Jahr kann man als Autor auf diese Weise drehen?
* Friedrichs: Zwei oder drei, aber auf jeden Fall nicht zehn.
Interview: Ulrike Langer
Erschienen in Ausgabe 6/2007 in der Rubrik „Best of Axel-Springer-Preis für junge Journalisten“ auf Seite 11 bis 11. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.