Brüssels reißende Fluten

Über mir: Wasser. Unter mir: Wasser. Aber ist das gefühlte Oben tatsächlich auch oben? Und das Unten unten? Ich sinke. Atemlos frage ich mich: Wann kommt endlich der Boden? Mein erster Sprung in das kalte, grüne Wasser eines Flusses irgendwo in der ostfranzösischen Provinz ist Jahre her. Das Gefühl aber ist heute wieder sehr gegenwärtig. Denn:

Brüssel für Anfänger fühlt sich genauso an. Auch hier sinkt der Neuling. Er taucht ab in eine reißende Informationsflut, von der erfahrene Journalisten sagen: sie ist hier in Brüssel stärker als überall sonst in Europa. Gerade vor medialen Großereignissen wie dem Krisengipfel zu Europas Verfassung schwillt der Infostrom noch einmal stärker an. Aber auch sonst speist er sich aus unzähligen Quellen. Die EU-Kommission mit ihrer allmittäglichen Pressekonferenz, der Ministerrat in seinen neun verschiedenen Zusammensetzungen mit seinen Briefings und Kommuniqués, die 785 EU-Parlamentarier mit ihren Newslettern, Journalistenfrühstücken und Pressemitteilungen – das sind nur ein paar davon. Hinzu kommt all das, was die geschätzten 15 000 Lobbyisten jeden Tag in den Informationsfluss einleiten, um ihre unterschiedlichsten Interessen im Prozess der politischen Entscheidungsfindung geltend zu machen.

Daher ist alles, was für den EU-Anfänger in den ersten Wochen zählt: Orientierung – durch Einordnung, Gewichtung und Bewertung von Informationen. Reden hilft da – reden mit Kollegen, vor allem aber reden mit den Redaktionen zu Hause. Darüber, aus welchem Fakt eine Nachricht, aus welchem Thema ein Hintergrundstück werden soll und kann.

Und dabei lernt sich schnell: Damit eine EU-Information den Weg ins Blatt findet, müssen vor allem für die Regionalzeitungen zwei Faktoren besonders ausgeprägt sein: Nutzwert und Regionalbezug. Es interessiert wenig, was der Kommissar X oder der Abgeordnete Y heute zur politischen Einigung Z sagen. Die politische Einigung Z interessiert erst dann, wenn schon heute aufzuschreiben ist: Was werden die Menschen von diesem Entschluss haben? Oder noch besser: Was werden die Menschen in Pforzheim, Pirmasens oder Pusemuckel von diesem Entschluss haben?

Das Problem mit den Namen. Brüssel ist – anders als Berlin – grundsätzlich nicht über seine politischen Entscheidungsträger zu verkaufen, auch das lernt der Neuling schnell. Dazu fehlt den Akteuren hier Kontur und Profil bei den Menschen zu Hause. (Zugegeben: Die eben zu Ende gegangene deu-tsche Ratspräsidentschaft von Angela Merkel mit dem turbulenten Abschlussgipfel und ihrem Polen-Poker war eine Ausnahme. Allerdings die sprichwörtliche, die die Regel bestätigt.) Denn wer weiß schon, wer Joseph Daul und Janez Potocnik sind? Kaum jemand, obwohl der eine die größte Fraktion im EU-Parlament leitet und der andere der für Wissenschaft und Forschung zuständige EU-Kommissar ist. Und dass nun beides nicht gerade unwesentliche Funktionen sind.

Bei allem Bemühen um Orientierung: In den ersten Wochen kann sich der Brüssel-Neuling im Strom der Informationen nur treiben lassen. Immer wieder kämpft er dabei erfolglos gegen die Strudel, die ihn nach unten ziehen und das Ziel aus den Augen verlieren lassen. Aber wenn er die Orientierung wiedergewonnen, sich an die Oberfläche zurückgearbeitet hat und weiß, in welche Richtung es weitergeht, dann macht das Schwimmen Spaß. Und das war auch schon im Flusswasser in der ostfranzösischen Provinz so.

Der Insidertipp: Die EU erarbeitet ja ständig irgendwelche neuen Vorschriften – oder überarbeitet solche, die von der Zeit überholt wurden. In einer Online-Datenbank kann man sich auch aus der Ferne mit wenigen Klicks informieren, welches neue Legislativvorhaben im Augenblick auf welchem Stand ist. Sprich: welche der Instanzen sich zu dem Vorschlag der EU-Kommission schon geäußert hat und wo er gerade hängt.

Zu finden ist diese Datenbank online unter http://ec.europa.eu/prelex/apcnet.cfm?CL=de

Erschienen in Ausgabe 7/2007 in der Rubrik „Brief aus Brüssel“ auf Seite 34 bis 35 Autor/en: Mirjam Stöckel. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.