Denkanstöße

Der Lawine an Geständnissen folgt also nun die „Tour der Leiden“: Diesmal als besondere Bewährungsprobe für die Radsportler und, ja auch, für die Sportjournalisten. Denn wem haben Armstrong, Ullrich und Co. denn ihre Heldensaga zu verdanken? Ohne entsprechende jubelnde Begleitberichterstattung hätte es all diese öffentlichen Heroen nicht gegeben. Oder war da zuerst die Sehnsucht des Publikums nach Helden, die „nur“ bedient wurde? Und wie sollen die Medien umgehen mit dem Phänomen, dass Zuschauer, Leser wie Hörer Kritik an ihren Idolen keineswegs begeistert aufnehmen: „Wenn wir uns die Zuschauerkurven ansehen, etwa zu den Gesprächsrunden zum Thema Doping, erkennt man ganz klar einen Einbruch“, sagt etwa ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz und steht mit diesem Problem nicht allein (Seite 22 f.).

 

Dieses Phänomen ist keineswegs auf den Sport begrenzt. Auch deshalb geht die Doping-Diskussion uns alle an. Denn machen wir uns doch nichts vor: Der journalistische Spagat zwischen Lob und Kritik klafft auch in anderen Branchen wie Film und Musik weit auseinander. Kaum jemand stellt die Frage, wie es sich mit Doping und Aufputschmitteln bei Filmstars und Musikergrößen verhält. Müssen wir an sie andere Maßstäbe anlegen als an Sportler? Vielleicht auch deshalb, weil die Stars der Film- und Musikindustrie es so gut wie kaum andere verstanden haben, sich juristisch gegen kritische Frager abzuschotten? Aber das ist es nicht allein. Wenn Emotionen ins Spiel kommen, wird es bekanntlich umso schwerer, kritische Distanz zu wahren – das gilt für den Sport ebenso wie für Musik, Film und andere Bereiche. Aber keine anderen Alltagsthemen erreichen emotional das Publikum so sehr wie eben Sportereignisse, weil sie mehr als alle anderen die Urinstinkte des Menschen berühren. Hätten die Journalisten, die über all die Jahre von der Tour de France, wie auch von den Schwimm-Meisterschaften, den Leichtathletikwettbewerben dieser Welt berichtet haben, Leistung nicht honorieren dürfen im Bewusstsein der Schattenseiten des Sports? Es greift zu kurz, all die zu verdammen, die sich der Faszination des sportlichen Wettwerbs und Erfolgs nicht entziehen konnten. Hartmut Scherzer, einer der wenigen Journalisten, die sich öffentlich zu ihrem Ver-schweigen bekannt haben, schrieb vor Kurzem in der „Zeit“: „Durch die Nähe zu den Rennfahrern verlässt man zwangsläufig die distanzierte Position des reinen Beobachters und fühlt sich mittendrin statt nur dabei. Wunderbar. Wie aber umgehen mit dem Zwiespalt?“ Er zog für sich daraus die Konsequenz: „Seit mir Didi Thurau vor dreißig Jahren die Augen geöffnet hat, habe ich mich nie als Investigator betätigt. Deswegen habe ich auch kein Buch über einen Rennfahrer geschrieben. Um nicht heucheln zu müssen.“ Und an die Kollegen, die sich jetzt „so entsetzt, naiv und scheinheilig auf die Rundumbeichten der ehemaligen Telekomfahrer reagieren wie gehörnte Ehemänner“, richtet er die Frage: „Völlig ahnungslos gewesen“? Wohl kaum. Aber die selbstkritische Auseinandersetzung mit dieser Frage bleibt eher die Ausnahme.

 

Dabei ist sie mehr als überfällig, auch um Überreaktionen, die die gute Absicht ins Gegenteil kehren, zu vermeiden. „Im Vergleich zur Vergangenheit ist das eine dramatische Wende, die aber genauso unnatürlich wirkt wie das quasi Totschweigen des Themas zuvor“, meint etwa Andreas Burkert, Sportchef der „Süddeutschen“, zur neuerdings investigativen Betriebsamkeit insbesondere der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Auch Hajo Seppelt, einer der wenigen TV-Sportreporter, die sich schon jahrelang kritisch mit dem Thema Doping auseinandergesetzt haben, mahnt im Interview mit Daniel Bouhs (Seite 20 ff.) eine selbstkritische Debatte um den Zustand des Sportjournalismus an: „Wir müssen uns entschuldigen“, fordert er, aber eben nicht nur das. Er mahnt eine strukturelle Debatte über die Art der Berichterstattung an und wendet sich zu Recht gegen die Rekordfokussierung in den Medien: „Dieses ständige Hinarbeiten auf neue Rekordleistungen provoziert vor allem das, was derzeit in krasser Form deutlich wird und wir doch eigentlich nicht gutheißen können: Menschen setzen ihre Gesundheit – wenn nicht sogar ihr Leben – aufs Spiel. Und wir schauen dabei auch noch zu.“ Man darf gespannt sein, ob die Berichte zur aktuellen „Tour de France“ neue Ansätze zeigen werden. „Ich halte die Zeit reif für Denkanstöße“, meint Hajo Seppelt. Mögen sie auf fruchtbaren Boden fallen.

Annette Milz

Erschienen in Ausgabe 7/2007 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.