* Eine Reportage über einen obdachlosen Flaschensammler ist ein klassisches Journalistenschul-Thema. Warum haben Sie sich daran gemacht?
Henning Sußebach: Ganz ehrlich? Mein Ressortleiter Christoph Amend kam mit einer Zeitungsnotiz zum Thema und stellte die klassische Ressortleiterfrage: Können wir nicht mal was darüber machen?
* Wäre es nicht spannender gewesen, einen Flaschensammler aus dem „normalen“ Leben zu porträtieren: Einen Rentner oder eine unterbezahlte Friseurin, die sich mit dem Pfand über Wasser hält?
* Das hätte die Geschichte vielleicht allgemeingültiger gemacht, aber nicht spannender oder eindringlicher. Hoffmann ist keine Stimme aus der Mitte der Gesellschaft, er schaut von außen darauf. Sein Standpunkt ist pointierter als der einer Friseurin, frei von jeder – ja: Betriebsblindheit der inneren Kreise. Das heißt nicht, dass ich Friseurinnen aus dem Weg gegangen bin. Ich habe sie einfach nicht getroffen.
* Wie haben Sie Herrn Hoffmann denn gefunden?
* Ich habe in Berlin an Orten gesucht, die Anlaufpunkte für Arme sind: Zum Beispiel ein Supermarkt am Bahnhof Zoo, in dem immer Flaschensammler vor einem Pfandautomaten Schlange stehen. Das Problem war, dass viele der Männer kaum noch zusammenhängend erzählen konnten. Oder dass sie nicht zu Verabredungen kamen. Deshalb war die Suche mühsamer, als gedacht. Oliver Hoffmann habe ich am vierten Tag in der Nähe der Bahnhofsmission getroffen. Es war sofort klar, dass er anders ist: Er war sehr strukturiert, wach, siezte mich, sagte, dass er heute noch seine Route ablaufen müsse, aber sich morgen gerne mit mir treffen würde. Dann kam er auch.
* Mussten Sie ihn knacken, sein Vertrauen gewinnen?
* Nein. Er war sich der Wirkung der Medien als Transportmittel für seine Botschaft – die Gesellschaft solle ihr unteres Ende nicht vergessen – sehr bewusst, das fand ich erstaunlich. Wir haben uns in ein Café gesetzt und in unseren drei Treffen viele Stunden geredet. Weil ich auf seine Erinnerungen und seine Eindrücke angewiesen war, bin ich mit einem irrsinnig detaillierten Fragebogen in das erste Gespräch gegangen. Eigentlich unjournalistisch …
* Was stand da drin?
* Die Fragen reichten von der Sammelpraxis – was sind die Routen, gibt es eine Ausrüstung – bis hin zu Fragen nach Lebensträumen eines Abgehängten. Zehn Seiten, eng bedruckt, nach Themenkomplexen geordnet.
* Warum haben Sie nur geredet und ihn nicht begleitet?
* Sie können mir glauben: Ich laufe gern und bin auch mit der Idee einer klassischen Reportage an die Sache herangegangen – aber dann erzählte Herr Hoffmann so eindrucksvoll, so voll von überraschenden Neuigkeiten, dass ich bei jedem weiteren Gespräch dachte: das werden meine eigenen Eindrücke nur verwässern. Ich habe das Gefühl, dass uns Journalisten in der Sozialreportage die Bilder ausgehen. Da gibt es so viel Kitsch, Phrasen der Betroffenheit. Deshalb habe ich mich entschieden, in dieser Geschichte Autorenschaft durch das Weglassen zu zeigen. Keine Autoreneitelkeit, keine Kringel, kein „Guck mal, wie toll ich das jetzt wieder formuliert habe“.
* Warum haben Sie Hoffmanns Aussagen nicht als Interview dokumentiert – stärker auf Augenhöhe, statt über ihn zu schreiben?
* Ein Interview ist nie so eindringlich wie eine Reportage – und ich glaube schon, dass mein Text eine Reportage ist, also Beschreibung des Alltags, mikroskopischer Blick, all das. Ich hoffe, dass ich eine Form gewählt habe, welche die Leser rührt, sie beschäftigt und vielleicht anders über Armut nachdenken lässt als ein Interview, auch als ein Report.
* Hat Hoffmann seine Geschichte vor dem Druck gelesen?
* Einige Passagen habe ich ihm vorgelegt: Solche, bei denen ich mir nicht sicher war, ob ich beim Abhören der Bänder alles richtig verstanden hatte, oder in denen er intime Dinge schilderte.
* Den kompletten Text hat er vor dem Druck nicht gesehen?
* Nein. Ich war mir nicht sicher, ob ihm der Stil gefällt. Das wollte ich in der Hand behalten. Ich habe aber nichts vor ihm verborgen. Wir hatten – und das war mir auch wichtig – hinterher noch Kontakt. Das wäre anders, wäre er über die Geschichte erbost gewesen.
* Sie haben den Text fast nur in indirekter Rede und mit viel Konjunktiven geschrieben. Manchmal aber taucht der Indikativ auf – ein System?
* Das war eine der Kernfragen: Wie mache ich Hoffmanns Zitate kenntlich? Im Laufe der Redigatur haben wir uns für mehr Konjunktive entschieden, als ich ursprünglich drin hatte. Im Indikativ stehen die Metaphern, die ich als Journalist hinzugefügt habe.
* Warum so viel indirekte Rede und nicht wörtliche Zitate?
* Ich bin der direkten Ich-Protokolle müde, weil sie oft naiv klingen. So aber, mit diesem wiederkehrenden „Hoffmann sagt“, hat man die Zeugenaussage eines armen Menschen, der zugleich ein ernst genommener Mensch ist, weil er zitiert wird wie ein Politiker. Oder wie ein Experte. Ich glaube, sowohl ein Protokoll als auch die übliche Sozialreportage hätten das nicht geleistet.
* Es ist Hoffmanns Geschichte, sie haben als Autor bewusst keine Kringel hinzugefügt – und jetzt den Preis gewonnen. Komisches Gefühl?
* Ja. Bloß: Nach dieser Logik dürften Journalisten nicht mehr über Menschen am unteren Rand der Gesellschaft schreiben. Das ist aber ein wichtiger Teil unserer Funktion. Ich habe mich allerdings bemüht, an dem Abend der Preisverleihung nicht zu triumphieren. Und ich denke darüber nach, wie ich Herrn Hoffmann an dieser Ehre teilhaben lassen kann. Jetzt können wir lange darüber reden, ob das mit Geld getan ist, und ob einem Obdachlosen mit 50, 500 oder 5000 Euro geholfen ist. Darauf habe ich noch keine Antwort, aber mir wird noch das Richtige einfallen. Ich muss ihn nur erst wieder finden, irgendwo in Berlin.
Interview: Eva-Maria Schnurr
Erschienen in Ausgabe 7/2007 in der Rubrik „Best of Henri-Nannen-Preis 2007“ auf Seite 46 bis 46. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.